Nörr. Knut Wolfgang, Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses
Nörr. Knut Wolfgang, Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses in ausgewählten Kapiteln (= Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 118). Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XIV, 179 S. Besprochen von Steffen Schlinker.
Nachdem Knut Wolfgang Nörr bereits im Jahre 2012 mit seiner Monographie über das „Romanisch-kanonische Prozessrecht“ eine Summe seiner Forschungen über den gelehrten Zivilprozess des hohen und späten Mittelalters vorgelegt hat, folgt mit dem hier vorzustellenden Buch eine historisch-vergleichende Darstellung des Zivilprozessrechts von der römischen Antike bis zu den deutschen und österreichischen Zivilprozessordnungen des späten 19. Jahrhunderts. Nörr beabsichtigt von vorneherein keine umfassende linear-chronologische Darstellung, sondern konzentriert sich bewusst auf zentrale Figuren und Prinzipien, deren Varianten als Grundentscheidungen dem Zivilverfahren zugrundeliegen. So stehen das Spannungsverhältnis zwischen der Verhandlungsmaxime und der Untersuchungsmaxime sowie zwischen der Dispositionsmaxime und der Offizialmaxime ebenso im Vordergrund wie die Regelung der Rechtsmittel, welche die zweite Instanz als Tatsacheninstanz ausgestalten oder auf reine Rechtsfragen begrenzen kann. Diese Konzentration auf die Schlüsselfragen des Prozessrechts lenkt den Blick des Lesers umso deutlicher auf die soziale und vor allem freiheitssichernde Funktion eines regelgebundenen Zivilprozesses.
Die knappen Bemerkungen zum römischen Formularverfahren (S. 1ff.) schildern das Modell eines zweigeteilten Verfahrens, zunächst vor dem Prätor, sodann apud iudicem, das - wie auch Nörr hervorhebt (S. 9) - im Mittelalter gar nicht bekannt war und insofern auch später nicht rezipiert wurde. Gleichwohl wurden hier prozessuale Begriffe und Figuren entwickelt, die das Prozessrecht bis heute prägen. Den Römern gelang die Ausbildung eines Verfahrens, das die Klage als Rechtsbehauptung konzipiert, die Abhängigkeit der Rechtsfolge vom Tatbestand voraussetzt und die Konzentration des Streitgegenstands durch das Vorbringen beider Partien (actio und exceptio) herbeiführt, über das Beweis zu erheben ist. Weit ausführlicher wird der Ablauf des romanisch-kanonischen Prozesses erläutert (S. 11ff.), der als gemeinsames Erbe der kontinentaleuropäischen Prozessordnungen betrachtet werden darf und den Nörr zutreffend als kontradiktorisch-adversatives Verfahren charakterisiert (S. 40). Ausgeprägt finden sich hier die Dispositionsmaxime und Verhandlungsmaxime, wenn auch dem Richter in seiner verfahrensleitenden Funktion wichtige Befugnisse zukamen. Wesentliche Verfahrensgrundsätze, etwa audiatur et altera pars, wurden hier realisiert.
Ein Gegenmodell bildet dagegen die preußische Prozessordnung von 1781, deren Untersuchungsgrundsatz im Zivilprozess allerdings keine lange Dauer beschieden war (S. 43ff.). Zu Recht spricht Nörr von einer „Episode“ und zugleich von einer „Quelle der Inspiration und der vergleichenden Bewertung“ (S. 58). Von erheblich größerer Bedeutung für die intensiven Diskussionen des 19. Jahrhunderts über die Reform des Zivilverfahrens waren demgegenüber der französische Code de procédure civile (S. 61ff.) und die Genfer Zivil-Prozessordnung von 1819 (S. 93ff.). Ein eigenes Kapitel ist wesentlichen Kontroversen der Prozessrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts gewidmet (S. 103ff.). Abschließend werden die deutsche Civilprozessordnung von 1877 mit ihrem liberalen Grundmodell (S. 119ff.) sowie die wohlfahrtsstaatlich konzipierte österreichische Zivilprozessordnung (S. 133ff.) in ihren Grundlinien gegenübergestellt.
Nörrs Ausführungen bieten wie gewohnt präzise Informationen, vor allem aber scharfsinnige Analysen, welche die häufig nicht explizit ausgedrückten Grundstimmungen der unterschiedlichen Lösungsmodelle offenlegen. Auffällig ist, dass Ausführungen zum traditionellen deutschrechtlichen Verfahren fehlen, obwohl die Teilnahme der lokalen Öffentlichkeit am Prozess und die Mitwirkung der Gerichtsgenossen an der Urteilsfindung wichtige eigenständige Beiträge für die Prozessrechtsgeschichte darstellen. Insgesamt hat Nörr auch mit diesem Buch eine Summe seiner jahrzehntelangen Forschungen gezogen. Jeder Prozessualist wird das Buch nicht ohne bereichernde Erkenntnisse aus der Hand legen, zumal die Bezüge zum gegenwärtigen Prozessrecht stets präsent sind. Es wäre begrüßenswert, wenn diese konzise Schrift dazu beitrüge, das Gewordensein des Prozessrechts, seine tiefen Wurzeln und seine stets aktuelle soziale Bedeutung in das allgemeine Bewusstsein zu heben.
Würzburg/Tallinn Steffen Schlinker