Mammeri-Latzel, Maria, Justizpraxis

in Ehesachen im Dritten Reich. Eine Untersuchung von Prozessakten des Landgerichts Berlin unter besonderer Berücksichtigung der Ideologie des Nationalsozialismus (= Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie 6). Berlin-Verlag, Berlin 2002. 308 S. Besprochen von Werner Schubert. ZRG GA 121 (2004)

Mammeri-Latzel, Maria, Justizpraxis in Ehesachen im Dritten Reich. Eine Untersuchung von Prozessakten des Landgerichts Berlin unter besonderer Berücksichtigung der Ideologie des Nationalsozialismus (= Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie 6). Berlin-Verlag, Berlin 2002. 308 S.

 

1990 fanden sich auf dem Dachboden des Berliner Gerichtsgebäudes in der Littenstraße bisher für die Forschung unzugängliche Gerichtsakten aus der Zeit von 1830 an. Zu diesen Akten gehören auch 14.800 Prozessakten in Ehesachen des Landgerichts Berlin und des Kammergerichts vornehmlich aus den Jahren 1943 bis Anfang 1945. Im Interesse einer Stoffbegrenzung hat die Verfasserin zwei Kategorien von Akten für ihre Untersuchungen ausgewählt. Die Fallgruppe I umfasst 233 Verfahren, in denen das Kammergericht das landgerichtliche Urteil abgeändert hat. Zur zweiten Fallgruppe gehören 89 „auffällige“ Verfahren (jüdische Prozessparteien; Staatsanwalt als Kläger oder Antragsteller; sog. Erbkrankheiten; sonstige auffällige Verfahren). Die Verfasserin untersucht anhand der Prozessakten die Justizpraxis in Ehescheidungssachen als Teil des zivilrechtlichen Gerichtsalltags vornehmlich in der späteren Kriegszeit. Hierbei richtet sie besonderes Augenmerk auf die Präsenz der Ideologie des Nationalsozialismus (Vorrang bevölkerungspolitischer Belange der „deutschblütigen, erbgesunden Volksgemeinschaft“ vor Individualinteressen; Antisemitismus/Deutschtum; Bedeutung des „Führers“ der „nationalsozialistischen Weltanschauung“ und der NS-Organisationen in der Scheidungspraxis). In einem eigenen Kapitel schildert die Verfasserin die rechtlichen Grundlagen der Justizpraxis in Ehesachen (u. a. Ehegesetz von 1938; Richterbriefe). Für die Detailuntersuchungen geht die Verfasserin für beide Fallgruppen von einer ausführlichen Darstellung von drei bzw. vier Verfahren aus. Sodann folgt eine weitgehend quantitative Erschließung der Urteilsgruppen nach folgenden Kriterien: Verfahrensmerkmale, Beteiligte, Parteivorbringen (hier u. a. NS-Färbung des Parteivorbringens; dessen Auswertung; Anzeigen der Eheleute bei Behörden usw.) und Urteile (bei Fallgruppen I auch die Berufungsurteile). Für die Fallgruppe II folgen zusätzlich noch Einzelanalysen für die genannten vier Kategorien. Von besonderem Interesse sind hier die Verfahren mit „jüdischen“ Beteiligten. In drei Fällen blieben sog. „Rassenmischehen“ aufrecht erhalten. Bis Mitte Februar 1945 führte das Landgericht Berlin Verfahren mit teilweise sogar zwei „jüdischen“ Parteien durch und gab nicht in jedem Fall den Klagen der „Arier“ statt.

 

Im ganzen reagierte die Berliner Justiz zurückhaltend auf die vom NS-Gesetzgeber zusätzlich geschaffenen Scheidungsgründe. Besonders für die Fallgruppe I kann von einer Fortsetzung der bisherigen Justizpraxis ausgegangen werden. Allerdings kam es in mehreren Urteilen insbesondere mit nicht arischen Beteiligten zu Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Die Annahme, die Instanzgerichte hätten ideologische Gesichtspunkte stärker berücksichtigt als das Reichsgericht, lässt sich nach Meinung der Verfasserin für die Berliner Gerichte nicht halten. Allerdings ist in den Urteilen eine „deutliche, aber uneinheitliche NS-Färbung“ (S. 289) festzustellen, wenn auch die Rechtspraxis vielschichtig und widersprüchlich war. Auffallend ist, dass mehrere Richter die vom NS-Regime erlassenen Vorschriften eng auslegten, wobei sich ein positivistisches Vorgehen der Richter im Sinne der Thesen Radbruchs von 1946 nicht feststellen ließ. Die Urteile lassen nach Meinung der Verfasserin den Schluss zu, dass die Richter einen beträchtlichen Freiraum gehabt hätten und deshalb ihre persönliche Unabhängigkeit offenbar größer gewesen sei, als vielfach angenommen wurde. Wenn das Kammergericht im Gegensatz zum Landgericht Ehen aufrecht erhielt, so könne dies als Ausdruck der Zurückhaltung bei der Anwendung des Ehegesetzes von 1938 interpretiert werden (S. 282). Mit Recht weist die Verfasserin darauf hin, dass der Begriff der „Normalität“ im Hinblick auf die Rechtspraxis missverständlich sei. Gleiches gilt für ihre Kennzeichnung als „unpolitisch“. Die Verfasserin schlägt vor, in diesem Zusammenhang besser von „Kontinuität“ mit der Scheidungsrechtspraxis vor 1933 und vor 1938 zu sprechen. Leider hat die Verfasserin die Ergebnisse ihrer Arbeit nicht mit der Analyse der Ehescheidungsjudikatur des Reichsgerichts durch Katrin Nammacher (Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und der Hamburger Gerichte zum Scheidungsgrund des § 55 EheG 1938 in den Jahren 1938 bis 1945, 1999) und durch Vesta Hoffmann-Steudner (Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu dem Scheidungsgrund des § 49 EheG in den Jahren 1938-1945, 1999) insbesondere für die zweite Kriegshälfte konfrontiert. Dasselbe gilt für die von Nammacher besprochene Judikatur des Landgerichts Hamburg und des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu § 55 EheG. In diesem Zusammenhang wäre eine vergleichende Analyse der Berufungsurteile des Kammergerichts von Nutzen gewesen.

 

Insgesamt liegt mit dem Werk von Mammeri-Latzel zur Zivilrechtsjudikatur der Instanzgerichte in der NS-Zeit eine weitere, auch methodisch gut abgesicherte Untersuchung vor, welche für die Berliner Justiz die Arbeit von Philipp Hackländer, „Im Namen des Deutschen Volkes. Der allgemeine zivilrechtliche Prozessalltag im Dritten Reich am Beispiel der Amtsgerichte Berlin und Spandau“ (Berlin 2001) um wichtige Aspekte ergänzt.

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert