Kischkel, Thomas, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät
Kischkel, Thomas, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät. Grundlagen – Verlauf – Inhalt (= Studia Giessensia Neue Folge Band 3). Olms, Hildesheim 2016. XI, 591 S. Besprochen von Werner Schubert.
Mit der Bayreuther Dissertation von Kischkel liegt erstmals eine umfassende Studie über die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät seit ihrer Begründung bis zum Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze vor. Ziel der Untersuchungen ist nach Kischkel eine „Darstellung der Arbeit der Gießener Spruchfakultät während ihrer gesamten Existenzzeit sowohl nach ihrem äußeren Verlauf und unter Einbeziehung der für ihre Arbeit maßgeblichen Rechtsgrundlagen, als auch nach wesentlichen inhaltlichen Gesichtspunkten“ (S. 9). Im ersten Kapitel geht es um die Grundlagen der Spruchtätigkeit der deutschen Juristenfakultäten bis zur Gründung der Gießener Universität 1607. Grundlage der Aktenversendung waren neben dem ius respondendi des rezipierten römischen Rechts die Carolina Kaiser Karls V. von 1532 und Reglements Hessen-Darmstadts. Wie Kischkel darlegt, diente die Gießener Juristenfakultät als Ausgleich „struktureller Defizite der damaligen Justizorganisation“ (S. 100). Zugleich bot die Aktenversendung die effektive Möglichkeit, „der Kontrolle der Justiz durch den absoluten Herrscher des neuzeitlichen Territorialstaats zu entgehen und dadurch gegenüber dem Fürsten ein Mindestmaß an standes- und später sogar an bürgerlichen Freiheitsrechten zu wahren“ (S. 398). Noch 1801 sah der Prozessualist Gönner in der Aktenversendung ein „Palladium der teutschen Freiheit“ (Gießener Blätter 2015, 101). Nach dem Abschnitt über die Geschichte der Gießener Juristenfakultät als Spruchgremium, die zunächst mit der früher begründeten Marburger Rechtsfakultät in Konkurrenz stand (S. 27ff.), folgen zwei längere Abschnitte über die Aktenversendung als „prozessuales Mittel“ (S. 46-123) und über die Funktion der Aktenversendung in „Prozessrecht und Rechtspolitik“ (S. 123-169). Insbesondere geht es um das Verfahren der Aktenversendung nach dem Recht Hessen-Darmstadts (S. 56ff.). Bis 1777 wurde die Funktion der Aktenversendung nicht in Frage gestellt. Danach kam es zu einer Einschränkung der Aktenversendung durch die Gerichte Hessen-Darmstadts; zu Beginn des 19. Jahrhunderts war sie verboten. Dies führte allerdings nicht zur Einstellung der Gießener Spruchtätigkeit, die vor allem auch von Parteien und Gerichten außerhalb Hessen-Darmstadts in Anspruch genommen wurde. Auf den Seiten 170ff. beschreibt Kischkel die Organisation der Gießener Juristenfakultät als Spruchkollegium. Letztere folgte dem System der Dekanatsfakultät und nicht dem System der Ordinarienfakultät, bei der die Geschäftsführung des Spruchgremiums einem auf Lebenszeit ernannten Ordinarius als Praeses erfolgte (S. 173). In einer Dekanatsfakultät verteilte der Dekan die eingegangenen Spruchakten an die einzelnen Ordinarien zum Gutachten. Die Endentscheidung erging durch Beschluss der Fakultät mit einfacher Mehrheit (S. 199). Die Sprüche der Fakultät betrafen entweder Gutachten (responsa, consilia) oder decisiones (Urteile), welch letztere für die anfragenden Gerichte bindend waren. Auf den Seiten 201ff. geht Kischkel näher auf den äußeren Aufbau der Consilien und Urteile ein. Die Einnahmen der Spruchfakultät bildeten einen wesentlichen Teil der Einkünfte der Professoren und waren teilweise höher als deren Besoldung (S. 208 ff.).
Im Abschnitt über die Spruchfakultät und ihre Konsulenten (S. 237-311) untersucht Kischkel zunächst den Einzugsbereich der Gießener Spruchfakultät anhand von 6300 der im Gießener Universitätsarchiv aufbewahrten 15.000 Spruchkonzepten und anhand der rund 1600 in den posthum 1737 veröffentlichten rund 1500 responsa und consilia von Johann Nicolaus Hert, über dessen Biografie man über die im Anhang enthaltene Kurzbiografie hinaus gerne noch mehr gelesen hätte, vor allem im Hinblick auf Herts naturrechtliche Ausrichtung. Der geografische Einzugsbereich der Fakultät und der Umfang des Spruchaufkommens gingen „über das für eine nach Größe und wissenschaftlichem Ruf meist zweitrangige Fakultät zu erwartende Maß weit hinaus“ (S. 237ff., 291ff.; Zitat S. 104 in den Gießener Universitätsblättern 2015). Zur geografischen Herkunft der Konsulenten bringt Kischkel im Anhang III für die Hertsche Sammlung und für die Jahre 1648-1839 detaillierte Hinweise (S. 528-588). Exakte Angaben über die jährlich angefertigten Consilien und Urteile sind nicht möglich, da die Überlieferung im Universitätsarchiv Gießen unvollständig ist und die Anzahl der von den jeweiligen Referenten „nicht zur Registratur abgelieferten, sondern für Vorlesungs- oder für eigene Zwecke dauerhaft einbehaltenen Gutachten- und Urteilsentwürfe“ (S. 296) nicht bekannt ist. Die Schätzungen Kischkels ergeben für die Zeit von 1690 bis 1723 einen jährlichen Mittelwert von 240 von der Fakultät bearbeiteten Spruchsachen, der im Verlauf des 18. Jahrhunderts im Jahresmittel 100 bis 200 Sachen betrug (um 1750 noch 145 Sachen, S. 293ff.). Auf den Seiten 254ff. beschäftigt sich Kischkel mit der Person der Konsulenten und speziell S. 238ff. mit der jüdischen Beteiligung an der Aktenversendung, die erheblich größer war, als dies dem Bevölkerungsanteil der Juden entsprach (S. 275). Insgesamt arbeitet Kischkel heraus, dass „sich die Gießener Juristen bei der Beantwortung von Rechtsfragen, die Parteien oder Konsulenten jüdischen Glaubens betrafen, mit einer rationalen Argumentation positiv von einem häufig von antisemitischen Strömungen geprägten sozialen und fachlichen Umfeld abhoben“ (S. 268ff., Zitat Gießener Universitätsblätter 2015, S. 108). Hinsichtlich der Untertanenprozesse bestätigt sich die bereits in der Literatur nachgewiesene Tendenz, „die Untertanen in ihren Auseinandersetzungen mit ihrer Obrigkeit vor einer Übervorteilung zu schützen, zumindest dann, wenn jene ihre vermeintlichen Rechte nicht gerichtsfest nachweisen konnte“ (S. 280ff., Zitat S. 405).
Eine inhaltliche Auswertung der Spruchakten erfolgt zunächst für Zivilsachen (S. 314-326), wobei das Hauptaugenmerk bei der Auswertung der in den Sprüchen verwendeten Zitate juristischer Autoren lag. Für die Zeit ab Ende des 17. Jahrhunderts erfolgt die fallbezogene Prüfung der Rechtsgrundlage vor allem unter Einbeziehung der Autoren des Usus modernus (S. 319ff.; Überprüfung für 1735 S. 320-323). Bei Strafsachen ist die Tendenz zu erkennen, bei der Anwendung der Strafgesetze über den Gesetzestext der Carolina und dessen Auslegung „hinauszugehen, um eine Verhängung harter Leibes- und Lebensstrafen zu vermeiden, die Strafe selbst zumindest aber zu mäßigen“ (S. 326ff., Zitat S. 406). Ausführlich herausgearbeitet wird die naturrechtliche Argumentation insbesondere für einzelne Rechtsmaterien (u. a. das Völkerrecht, die Privilegien, das Strafrecht und das Eherecht und Familienrecht, S. 335ff.; hierzu bereits Kischkel, ZNR 2000, S. 124-147). Der Anteil der Spruchakten „mit naturrechtlicher Argumentation“ macht im Verhältnis zu den untersuchten Sprüchen in quantitativer Hinsicht nur 3 Prozent aus. In bis zu 8 Prozent der Spruchakten finden sich jedoch „naturrechtliche Bezüge, vor allem durch die Alegierung naturrechtlicher Autoren und durch die Verwendung einer der Naturrechtslehre entlehnten Terminologie“ (S. 387, 407, und zwar auch für die Zeit des 19. Jahrhunderts). Im Übrigen unterscheidet Kischkel zwischen dem älteren und dem jüngeren Naturrecht in der Spruchpraxis.
Nach einem zusammenfassenden Fazit (S. 398-407) bringt der Anhang I kurze biografische Daten über die Mitglieder der Gießener Spruchfakultät von 1605/1607 bis 1883 (S. 453ff.), deren personelle Zusammensetzung (jeweils nach Jahren geordnet) und – wie bereits erwähnt – eine detaillierte Übersicht über die biografische Herkunft der Rechtskonsulenten. Insgesamt stellen die Untersuchungen Kischkels nicht nur ein wichtiges Grundlagenwerk für alle Aspekte der Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät dar, sondern gleichzeitig auch für deren Einordnung in die Geschichte der Spruchtätigkeit der deutschen Juristenfakultäten hinsichtlich der Funktion der Aktenversendung und der Organisation der Fakultäten als Spruchgremium. Die breite Erschließung der Inhalte der Spruchakten bietet reichhaltige Anregungen für vergleichende Darstellung der Inhalte weiterer Spruchfakultäten.
Kiel
Werner Schubert