Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 6 Verfassungsgerichtsbarkeit
Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band 6 Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Institutionen, hg. v. Bogdandy, Armin von/Grabenwarter, Christoph/Huber, Peter M. Müller, Heidelberg 2016. X, 945 S. Besprochen von Judith Köbler.
Das beeindruckend gewichtige, von der Fritz-Thyssen-Stiftung wesentlich geförderte Handbuch Ius Publicum Europaeum will nach seiner eigenen Zielsetzung grundsätzlich die nationalen Rechtsordnungen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union rechtsvergleichend betrachten und dabei einerseits Gemeinsamkeiten erfassen und andererseits Unterschiede aufzeigen. Es ist auf insgesamt ursprünglich acht bzw. jetzt wohl neun Bände angelegt. Von ihnen sind die Bände 1 und 2 über die Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts bzw. die offene Staatlichkeit/Wissenschaft vom Verfassungsrecht bereits vor rund einem Jahrzehnt (2007 und 2008) erschienen, der Band 3 über Verfassungsrecht in Europa 2010, der Band 4 über Verwaltungsrecht in Europa - Wissenschaft 2011 und der Band Verwaltungsrecht in Europa – Grundzüge 2014.
Der nunmehr vorgelegte sechste Band kehrt von der Verwaltung wieder zu der Verfassung in der Gestalt der Verfassungsgerichtsbarkeit zurück. Er umfasst in den § 95-109 des Gesamtrahmens insgesamt 15 einzelne Beiträge. Sie führen den interessierten Leser sachkundig in die Welt der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre vielfältigen Ausprägungen in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, der Schweiz, Spanien, Ungarn und dem Vereinigten Königreich ein. Auch der Einfluss des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa wird dargestellt.
Die sehr verdienstvollen Herausgeber bieten dabei zunächst einen aktuellen Überblick über den Forschungsgegenstand, insbesondere die Herausforderungen des europäischen Rechtsraums (z. B. die Europäisierung, aber auch systemische Defizite), die faktische Zusammenarbeit der Verfassungsgerichte in einer Verbundstruktur, seit 1972 institutionalisiert in der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, und über methodische Grundfragen wie die Spezifik der innereuropäischen Rechtsvergleichung durch die Verbundenheit der Rechtsordnungen über Art. 2 EUV.
Die 14 alphabetisch geordneten Länderbeiträge selbst behandeln sowohl klassische Verfassungsgerichte etwa in Italien oder Spanien wie auch dezentrale Modelle wie in Finnland. Sie befassen sich im Einzelnen dabei beispielsweise mit dem ältesten „Verfassungsgericht seiner Art“ (S. 416) in Österreich, dem „Popstar“ zwischen den Verfassungsgerichten (S. 84) in Deutschland und einem Gericht mit gleich zwei Wendepunkten in seiner jungen Geschichte (S. 719). Der zweite dieser Wendepunkte, die Pensionsreform der ungarischen Verfassungsrichter, hat dabei vielfach ausländische Kritik hervorgerufen und ist besonders zeitnah. Die Länderbeiträge stellen daher insgesamt eine vorzügliche Auswahl hinsichtlich der Vielfalt der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit dar. Die einzelnen Berichte sind jeweils in einen historischen Teil, einen Teil zu dem gegenwärtigen Rechtsrahmen und insbesondere zu den anwendbaren Verfahren, einen Teil zur Wirkung der jeweiligen Gerichtsbarkeit (etwa in einem politischen Kontext) und eine abschließende Bewertung gegliedert. Sie sind dementsprechend einheitlich strukturiert, was dem Leser die Orientierung und die selektive Vertiefung in einzelne Aspekte sehr erleichtert.
Die Rechtsvergleichung als solche sieht sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, dass zunächst gleichlautende Konzepte, die jedoch bei genauerem Hinsehen auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen, einander gegenüber gestellt werden. Dies hätte auch dem vorliegenden Buch angelastet können, werden hier doch Länder mit institutionalisiertem Verfassungsgericht und ohne institutionalisiertes Verfassungsgericht, Mitglieder der Europäischen Union und Nichtmitglieder wie die Schweiz und sogar die Vereinigten Staaten von Amerika nebeneinander gestellt, doch haben die Herausgeber das Werk nicht nur mit einem eigenen diesbezüglichen Hinweis versehen, sondern gerade dieses scheinbare Problem gleichsam in ein vorteilhaftes Mehr verwandelt, indem sie gerade letztere „Außensicht“ als Reflexionsspiegel europäischer Gerichtsbarkeit ausgewählt haben.
Allerdings bleibt, auch wenn das vergleichende Verfassungsrecht in manchen Beiträgen, z. B. über Ungarn oder auch über den Einfluss des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika, stärker einbezogen wird als in anderen Beiträgen, ein echter Vergleich zwischen den einzelnen Modellen dem Leser selbst vorbehalten. Ein tabellarischer Überblick am Ende des Buches hätte diesen Vergleich dem interessierten Leser erleichtern können. Insgesamt ist diese breit gefächerte, von besonderen Sachkennern erarbeitete gemeinschaftliche Darstellung europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch ein hervorragendes Instrument der praktischen europäischen Verfassungsrechtsvergleichung.
Wien Judith Köbler