Das Gedächtnis der Staatssicherheit

. Die Kartei- und Archivabteilung des MfS, hg. v. Jedlitschka, Karsten/Springer, Philipp (= Archiv zur DDR-Staatssicherheit 12). V&R, Göttingen 2016. 489 S., 97 Abb., 11 Graf. Besprochen von Werner Augustinovic.

Das Gedächtnis der Staatssicherheit. Die Kartei- und Archivabteilung des MfS, hg. v. Jedlitschka, Karsten/Springer, Philipp (= Archiv zur DDR-Staatssicherheit 12). V&R, Göttingen 2015. 489 S., 97 Abb., 11 Graf. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Das Erfassen, Systematisieren, Auswerten und Abrufen personenbezogener und objektbezogener Daten ist eine grundlegende Obliegenheit jeder Verwaltung. Die sprichwörtliche Macht, die in der Verfügung über solches Material liegt, wird in freien demokratischen Gesellschaften durch den öffentlichen Diskurs und gesetzliche Rahmenbedingungen (Datenschutz) beschnitten, die einen gewissen, wenn auch keinesfalls umfassenden Schutz gegen unverhältnismäßige Eingriffe von Seiten hoheitlicher wie privater Akteure in die Intimsphäre des Einzelnen gewährleisten (sollen). Die mit der modernen Computertechnologie einhergehenden Möglichkeiten zur Datenvernetzung haben dieses Überwachungspotential exponentiell wachsen lassen. Für (halb)autoritäre Regime ohne effiziente demokratische Kontrollmechanismen tun sich hiermit erhebliche Optionen der Unterdrückung auf, wie sie niemals zuvor in der Geschichte in einem solchen Ausmaß bestanden haben.

 

Dem Machtapparat der 1990 untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) standen diese heute allgemein verfügbaren, hoch effizienten Mittel noch nicht im vollen Ausmaß zur Verfügung. Wie schon während der nationalsozialistischen Ära, blieb die Karteikarte lange Zeit das dominierende Speichermedium. Obwohl man sich in der DDR schon in den 1960er-Jahren mit elektronischer Datenspeicherung zu befassen begann, „enthielten (die Karteien) trotz aller Dateneingaben noch immer mehr Detailinformationen, waren bei dringenden Anfragen schneller verfügbar und vor allem weniger störanfällig, somit – militärisch ausgedrückt – unter allen Lagebedingungen nutzbar“. Erst in den 1980er-Jahren ist eine „deutliche Tendenz zur Ablösung bzw. Ergänzung der bis dahin praktizierten Karteiarbeit durch Datenverarbeitungsprojekte“ zu belegen (S. 186ff.). Auch diese Erkenntnisse verdanken wir der Arbeit der Dienststelle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), der die Herausgeber des zur Besprechung anstehenden Sammelbandes angehören: Karsten Jedlitschka, Archivar und promovierter Historiker, als Referatsleiter Archivischer Grundsatz und stellvertretender Leiter der Abteilung Archivbestände des BStU, und Philipp Springer, ebenfalls promovierter Historiker, als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der genannten Abteilung. Zehn Beiträge von insgesamt fünf Autoren (ausweislich des Autorenverzeichnisses allesamt Mitarbeiter des BStU) zeichnen ein Bild der Rolle, die einst die Abteilung XII (Kartei- und Archivabteilung) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) als Zentrale der Informationsspeicherung und Datenverwaltung („Gedächtnis der Staatssicherheit“) im damaligen Herrschaftsgefüge eingenommen hat.

 

Klassische Institutionengeschichten, so Philipp Springer in seinem Einleitungsbeitrag, der die Forschungen zur Abteilung XII im Schnittpunkt zwischen Archivgeschichte und MfS-Forschung ansiedelt, litten oft an einer ausgesprochen positivistischen Akzentuierung, die sich auf chronologische, normative und organisationstechnische Gesichtspunkte beschränke und damit die institutionelle Wirklichkeit, die maßgeblich von Faktoren wie informellen Verfahrensprozessen, Mitarbeitermentalitäten, einem spezifischen Betriebsklima und der Einbettung in unterschiedliche Kontexte bestimmt werde, unterbelichtet ließe. In diesem Sinn wolle das gegenständliche Werk die Kriterien einer modernen, lebensnahen Institutionengeschichte erfüllen. Zu ihrem Gelingen steuert Philipp Springer als Verfasser von sechs der insgesamt zehn Beiträge selbst den Löwenanteil bei. Er liefert zunächst eine konzise, 125 Druckseiten umfassende Darstellung von Entwicklung, Struktur und Funktion der Abteilung XII des MfS von 1949 bis 1989, die sich gut und gerne schon als eine monographische Darstellung der Institution en miniature lesen lässt. Die Tätigkeit dieser Abteilung wurde beschrieben als „die eines ‚Dieners‘ der operativen Diensteinheiten des MfS“, doch lieferte sie „auch dem sowjetischen Bruderorgan, dem KGB, […] vielfältige Informationen“ (S. 103). Seit Mitte der 1960er-Jahre bewegte sich die Entwicklung der Abteilung XII „im Windschatten der Expansion des gesamten MfS“. Mit der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik war dieses darauf bedacht, „dem Wandel vor[zu]beugen, den die Annäherung zu bewirken drohte“. Die zunehmende Überwachung vor allem des Reiseverkehrs bewirkte in der Folge einen erheblichen Informationsanfall; die Abteilung XII blieb dabei „Hüterin und Verwalterin der wichtigsten Bereiche des ‚Informationsschatzes‘ und damit ein zentrales Element im Herrschaftsapparat des MfS. Aufgabe der Abteilung war auch weiterhin, das geheimpolizeiliche Wissen zu vernetzen und zu verwahren“, womit „das MfS trotz des wachsenden Umfangs der gesammelten Erkenntnisse und der sich daraus entwickelnden Probleme weiterhin arbeitsfähig blieb und […] die Repression der Bevölkerung bis zum Ende umsetzen konnte“. Kassationspläne sollten die Zahl der Unterlagen reduzieren und die Behörde arbeitsfähig erhalten; ihnen stand aber die „Sammelwut“ des Ministeriums entgegen, sodass im Sommer 1989 „die EDV-Anlagen der Abt. XII kaum noch in der Lage (waren), diese Mobilisierung zu erfassen“ (S. 148ff.). Effizienz und zugleich Ineffizienz des gesamten MfS-Apparates würden sich in diesen Vorgängen widerspiegeln.

 

Im Weiteren beschäftigt sich Philipp Schreiber in drei Beiträgen und einem zusätzlichen biographischen Teil im Anhang mit dem hauptamtlichen Personal der Abteilung, das besonders unter der anstrengenden Schichtarbeit litt. Geschlechterspezifische Fragen werden dabei ebenso thematisiert wie die archivfachliche Ausbildung und die „Furcht des MfS vor seinen Mitarbeitern“ (S. 250ff.). Mit ihrem dritten Leiter, Oberst Reinhold Knoppe, dessen Amtsperiode in jene Zeit fällt, „als die Weichen für die Transformation der Abteilung von einer kleinen, verwalteten Diensteinheit in ein schlagkräftiges, auch durch neue Technik beherrschtes Instrument der Geheimpolizei gestellt werden“ (S. 273f.), und seinem Nachfolger, Oberst Roland Leipold, werden zugleich auch zwei Generationen von Funktionsträgern porträtiert: die der kommunistischen „Gründerväter“ und die der um das Jahr 1929 geborenen „Generation gerade noch [der Verantwortlichkeit für das Dritte Reich entronnen; WA] und gerade schon [alt genug, um nach Kriegsende sofort in Bildungs- oder Berufskarrieren einzusteigen; WA]“ (S. 308). Das 50 Druckseiten starke, aus Kaderakten zusammengestellte Verzeichnis der leitenden Mitarbeiter im Anhang mit archivalischen Nachweisen „umfasst die Kurzbiografien von 43 Leitern und weiteren leitenden Mitarbeitern der Abt. XII in der Zentrale des MfS, von 65 Leitern der Abt. XII (zeitweise als Selbständige Referate XII bezeichnet) in den Bezirksverwaltungen des MfS und von sechs Leitern der Abt. XII der H[aupt]A[bteilung] I und des Ref[erats] R[egistratur] der H[aupt]V[erwaltung] A“ (S. 413) und lehnt sich formal an Jens Giesekes „Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit“ (1998) an. Schließlich richtet Philipp Schreiber, der nur in seinem Beitrag über Oberst Leipold mit Ralf Blum von einem Ko-Autor unterstützt wird, den Blick auch auf beratende Auslandseinsätze von Personal der Abteilung XII in Kuba und Nicaragua als „Beleg für die Wertschätzung, die man in den sozialistischen Bruderländern geheimpolizeilicher Archiv- und Karteiarbeit entgegenbrachte“ (S. 409).

 

Alle weiteren Beiträge des Bandes dienen der Verdichtung des bislang umrissenen Bildes. Karsten Jedlitschka berichtet über Bau und Geschichte sowie den erinnerungsgeschichtlichen Wert des Zentralarchivs der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg („Als pars pro toto vermag dieses Archiv die Rechtsstaatswidrigkeit der kommunistischen Diktatur in besonderer Weise anschaulich zu machen und die Gedächtnistopographie der DDR-Diktatur aus ehemaligen Haftanstalten, Grenzanlagen und der Berliner Mauer um einen wichtigen Akzent zu ergänzen“; S. 360), Stephan Wolf über dessen Bunker, seine Funktion und Ausstattung. Ein zweiter Beitrag Jedlitschkas stellt die „Geheime Ablage“ (GH) vor, einen Sonderbestand, in dem sensible Vorgänge archiviert wurden, die vor allem „moralisches oder gar strafrechtlich relevantes Fehlverhalten von MfS-Mitarbeitern und deren Angehörigen, Mitgliedern anderer bewaffneter Organe oder Personen aus dem Kreis der SED-Kader dokumentierten“ und „nur einem möglichst kleinen Kreis bekannt und zugänglich sein“ sollten (S. 163). Zu diesem Material gehört auch der Akt I(noffizieller) M(itarbeiter) „Otto Bohl“, ein Tarnname, hinter dem sich - wie 2009 ermittelt werden konnte - mit Karl-Heinz Kurras jener Westberliner Polizist verbirgt, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hat. Ein wichtiger Beitrag über „Karteien, Speicher, Datenbanken“ aus der Feder Roland Luchts erschließt detailliert die materiellen Arbeitsbehelfe der Abteilung XII und deren technische Weiterentwicklung. Lucht hat auch die elf Organigramme im Anhang (S. 465 – 476) zusammengestellt, welche die jeweilige Gliederung der Dienststelle von 1951 bis 1988 abbilden.

 

In Anbetracht der Vielfalt der insgesamt dargelegten Aspekte wird man festhalten können, dass der Sammelband in der Lage ist, dem eingangs erklärten Ziel einer modernen Institutionengeschichte weitgehend gerecht zu werden. Er vermittelt ein umfassendes und konsistentes Bild der Behörde und ihrer Mitarbeiter und ordnet ihre Tätigkeit in den größeren Rahmen der Aktivitäten des MfS ein; zusätzliche Forschungen könnten noch weiter reichende Kontexte erschließen. Bei dem herausragenden Anteil der Beiträge Philipp Schreibers am Inhalt des Bandes und seiner Funktion als Koordinator des Projekts zur Geschichte der Abteilung XII des MfS wäre als Alternative zur Sammelschrift auch an eine Monographie zu denken gewesen, wobei für beide Varianten Für und Wider namhaft gemacht werden können. Ein unbestreitbarer Vorzug des Buches liegt in seiner üppigen Ausstattung mit Fotomaterial (zum Teil in Farbe), das unter anderem eine besonders anschauliche Vorstellung von dem Umfeld vermittelt, in dem sich die Mitarbeiter der Kartei- und Archivabteilung tagtäglich bewegten, ein weiterer, nicht zu unterschätzender in der vorbildlichen Placierung der Anmerkungen unmittelbar am jeweiligen Fuß der Seite. Sie enthalten sämtliche Quellen- und Literaturangaben, für welche die üblichen zusammenfassenden Verzeichnisse fehlen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic