Oestmann, Peter

, Germanisch-deutsche Rechtsaltertümer im Barockzeitalter (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 26). Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 2000. 74 S. Besprochen von Christiane Birr. ZRG GA 121 (2004)

Oestmann, Peter, Germanisch-deutsche Rechtsaltertümer im Barockzeitalter (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 26). Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 2000. 74 S.

 

In der vorliegenden Fallstudie untersucht Peter Oestmann den Rechtsstreit zwischen Anna Sara Schröder und Dorothea Benser aus Lübeck, der 1751 mit Erhebung der erstinstanzlichen Klage am Lübecker Obergericht beginnt, drei Juristenfakultäten (Halle, Göttingen und Frankfurt an der Oder) beschäftigt und beide Prozeßparteien über zehn Jahre lang nicht mehr zur Ruhe kommen läßt, bis 1762 das Reichskammergericht ein endgültiges Urteil fällt. Dessen Vollstreckung wird sich allerdings auch in den folgenden zwanzig Jahren nicht verwirklichen lassen, und noch 1803 werden die Erben der beiden streitenden Frauen zum letzten Mal beim Reichskammergericht in derselben Sache vorstellig. In der Sache streitet man um Einzelheiten aus dem Lübecker Güterrecht, und geradezu exemplarisch beziehen beide Seiten Stellung. Während die Anwälte der Klägerin sich auf die principia juris germanici berufen, aus denen das Lübecker Stadtrecht gewonnen sei und auf deren Grundlage es interpretiert und im Wege der Analogie erweitert werden müsse und dabei in ihrer Argumentation bis auf Tacitus‘ Germania zurückgreifen, verfolgt die Beklagtenseite zunächst eine rein destruktive Strategie: Durch „historisch-geographische Differenzierung“ (S. 20) wird das behauptete allgemein-deutsche Recht dekonstruiert und das Lübecker Recht als nicht durch Analogie zu erweiternde Einzelquelle hingestellt. Die Juristenfakultäten folgen in ihren Gutachten eigenen Präferenzen: In Halle kombiniert man (nicht unbedingt konsequent) römische Digestentitel und deutsche Rechtssprichwörter, um das gewünschte Ergebnis zu begründen; im Ergebnis gibt man mit römisch-rechtlicher Begründung weitgehend der Klägerin Recht – die ihren Anspruch auf ein allgemeines deutsches Recht und gerade nicht auf die alten abgedroschenen formulis juris antiqui romani gestützt hatte (S. 31). Die Göttinger Kollegen legen den strittigen Passus des Lübecker Stadtrechts unter Heranziehung anderer deutscher Stadtrechte aus und entscheiden auf dieser deutschrechtlichen Grundlage zugunsten der Klägerin – deren Anwälte sich in früheren Schriftsätzen gegen eben dieses methodische Vorgehen, nämlich die Verwendung solche[r] verwelckte[n] Hülsen eines captirten alten Wörter Krams (S. 22), scharf verwahrt hatten. Für das erzielte Ergebnis ist, wie Oestmann feststellt, die Entscheidung zwischen einer römisch-rechtlichen und einer deutsch-rechtlichen Argumentation unerheblich. Einig sind sich die Gutachter an allen drei Fakultäten darüber, daß es sich im Kern um ein Beweisproblem handelt. Diesen Knoten durchschlägt das Reichskammergericht in seiner Entscheidung, in dem es den Grundsatz iura novit curia auch auf ein solches Detailproblem des partikularen Rechts anwendet. In den Augen der Richter handelt es sich mithin nicht um ein Beweis-, sondern ein Subsumtionsproblem, das sie im Urteil auf der Grundlage einer eingehenden rechtshistorischen Untersuchung der güterrechtlichen Fragen lösen.

 

Die vorliegende Fallstudie stellt in konziser Form ein umfang- und inhaltsreiches Verfahren vor, das Oestmann auch in seiner Habilitationsschrift „Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich“ (2002) ausgiebig zur Illustration und Exemplifizierung heranzieht. In dieser kleinen Schrift, die aus einem im Herbst 2000 in Wetzlar gehaltenen Vortrag entstanden ist, kann man Parteien und Anwälte genauer und in zusammenhängender Darstellung kennenlernen, und die Bekanntschaft lohnt sich in mehr als einer Hinsicht. Oestmann gelingt es, den ausufernden Schriftwechsel auf seinen argumentatorischen Kern zu reduzieren, die Positionen der Anwälte klar vor Augen zu stellen und dabei der Individualität des Falls gerecht zu werden. Gerade ein solch detailgetreues Nachzeichnen der Argumentation in einem konkreten Streitfall ist geeignet, die Frage nach der Rechtswirklichkeit, nach dem Reflex der wissenschaftlichen Zeitströmungen in der frühneuzeitlichen Rechtsprechung in immer weiteren Annäherungen zu beantworten. Dabei beeindrucken die Anwälte durch einen hohen Grad an Belesenheit; sie diskutieren in ihren Schriftsätzen über Tacitus‘ Zuverlässigkeit als Historiker, zitieren Otfrid von Weißenburg wie David Mevius und behalten offenbar auch die neueren wissenschaftlichen Entwicklungen im Blick. Angesichts dieses komplexen Diskurses bleibt den juristischen Laien das sprachlose Staunen: Die Lübecker Ratsherren, als erstinstanzliches Gericht mit dem Fall befaßt und fast sämtlich ohne juristische Ausbildung, reagieren auf die insgesamt mehrere hundert Seiten umfassenden Schriftsätze hilflos, mit einer „teilnahmslosen Passivität“ (S. 35). Ihre einzige Handlung besteht darin, die sechshundertseitige Prozeßakte an die Juristenfakultät Halle zur Entscheidung zu versenden. Und die Beteiligten selbst? Oestmann zitiert die Beklagte: Sie verstünde diese sachen nicht. Sie wollte es Ihrem Hr. Procurator zustellen (S. 52). Weder die Lübecker Honoratioren noch die unmittelbar Beteiligten kennen sich in dieser gelehrten Welt noch aus.

 

Würzburg                                                                                                       Christiane Birr