Hitler als Häftling in Landsberg am Lech 1923/24
Hitler als Häftling in Landsberg am Lech 1923/24. Der Gefangenen-Personalakt Hitler nebst weiteren Quellen aus der Schutzhaft-, Untersuchungshaft- und Festungshaftanstalt Landsberg am Lech, hg. u. kommentiert v. Fleischmann, Peter. Ph. C. W. Schmidt, Neustadt an der Aisch 2015. 552 S., 11 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Nachdem der gewaltsame Putschversuch Adolf Hitlers am 8./9. November 1923 in München gescheitert war, hatten sein Anführer und die weiteren Beteiligten die Rechtsfolgen ihres nach dem geltenden Strafrecht hochverräterischen Treibens zu gewärtigen, indem sie der vorgesehenen Strafverfolgung unterworfen wurden. Aufgrund eines Schutzhaftbefehls des Bezirksamts Weilheim am 11. November in Uffing am Staffelsee festgenommen, wurde Hitler zunächst drei Tage als Schutzhäftling, dann, nach Einlangen des Haftbefehls des zuständigen Staatsanwalts, als Untersuchungshäftling in der Gefangenenanstalt Landsberg am Lech interniert. Zu fünf Jahren Festungshaft (Mindeststrafe) verurteilt, trat er diese am 1. April 1924 im sogenannten Landsberger Festungstrakt an und wurde bereits am 20. Dezember wegen guter Führung vorzeitig auf Bewährung entlassen, nachdem eine aufgeflogene Briefschmuggelaffäre die ursprünglich bereits am 1. Oktober vorgesehene Haftentlassung vorerst verhindert hatte.
Soweit die historischen Ereignisse. Dass über Hitlers Haftzeiten in Landsberg offizielle Aufzeichnungen geführt worden sein mussten, steht außer Frage, doch scheint man diese Unterlagen bislang weder in der zuständigen bayerischen Archivverwaltung noch in Historikerkreisen vermisst zu haben; man hielt sie wohl, wie so vieles, für durch die Nationalsozialisten selbst beseitigt oder/und durch Kriegseinwirkungen untergegangen. So ist es einer kriminellen Tat und verschiedenen Zufällen zu verdanken, dass wesentliche Teile von Hitlers Landsberger Haftpapieren wieder aufgefunden und für die Forschung gesichert werden konnten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der von 1963 bis 1970 amtierende Vorstand der Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech, Elmar Groß, den immer noch dort lagernden „Gefangenen-Personalakt Hitler einschließlich des Aufnahmebuchs mit Erwähnung dessen Namens an sich genommen, d. h. unterschlagen“ (S. 16). Nach dessen Ableben 1984 wurden die Dokumente offenbar mit einer Hausratsräumung entsorgt, auf einem Flohmarkt feilgeboten und vom Erwerber einer Auktion zugeführt. Nachdem das Magazin Der Spiegel über den Vorgang berichtet und die bayerische Archivverwaltung auf den Plan gerufen hatte, wurde das Konvolut 2010 im Namen des Freistaats Bayern beschlagnahmt, mittlerweile wird die unter besonderen Kulturgutschutz gestellte Überlieferung im Staatsarchiv München verwahrt. Peter Fleischmann, der an der Universität Erlangen-Nürnberg Bayerische und Fränkische Landesgeschichte lehrt, hat nun dankenswerter Weise eine kommentierte Edition in gedruckter Form besorgt und stellt damit diese Unterlagen - zum Teil in einer Auswahl - einem größeren Forscherkreis griffbereit zur Verfügung.
Im Einleitungsteil (S. 9 – 77) berichtet der Verfasser nicht nur über die Herkunft und die Überlieferung der Dokumente, sondern auch über die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Schutzhaft und der Festungshaft in Bayern. Erstere beruhte auf dem nach der Niederschlagung der Räterepublik verabschiedeten Gesetz des bayerischen Landtags vom 31. Juli 1919 „Über außerordentliche Maßnahmen zum Schutz des Freistaates“, auf das sich auch die Einsetzung Gustav Ritter von Kahrs zum Generalstaatskommissar am 26. September 1923 stützte. Dieser vertrat eine partikularistische, „gegen das Reich gerichtete Rechtsauffassung“ und teilte der Polizeidirektion München mit, „dass die vom Ermittlungsrichter des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik in Leipzig erlassenen ‚Haftbefehle gegen Adolf Hitler, General Ludendorff und Oberstlandesgerichtsrat Pöhner … z.Zt. in Bayern nicht vollzogen werden‘ könnten[,] denn der von den genannten Personen verübte Hochverrat war ‚Gegenstand eines vom Staatsanwalt bei dem Landgerichte München I geführten Strafverfahrens‘“. An einer wirklichen Aufklärung und einer harten Bestrafung der NS-Putschisten war in der bayerischen Obrigkeit niemand interessiert (am wenigsten der bei Freund und Feind zum Sündenbock gestempelte, selbst in das Putschgeschehen verwickelte Kahr), „wie die bayerische Regierung hielt auch die bayerische Justiz ihre schützenden Hände“ über sie (S. 23). In der Erörterung der Festungshaft stützt sich Peter Fleischmann auf Wilfried Ottos aus dem Jahr 1938 datierende Magdeburger juristische Dissertation. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 kannte die Festungshaft als Exklusivstrafe bei Zweikampf, bei feindlichen Handlungen auch bei befreundeten Staaten sowie bei einer Anzahl politischer Verbrechen, was auch in der Weimarer Zeit beibehalten wurde, während „die nationalsozialistische Gesetzgebung am 13. Oktober 1933 die Anwendung der Festungshaft außerordentlich beschnitten und sie im Grunde nur noch bei Duelldelikten zugelassen hat [,] dagegen wurden politische Delikte (‚Zersetzungshochverrat‘) mit Zuchthaus oder dem Tod bestraft“ (S. 26). In Bayern wurden die Festungshäftlinge der Räterepublik in einer Abteilung der Gefangenenanstalt Niederschönenfeld inhaftiert; während man dort „schon jahrelange Erfahrungen hatte und keineswegs nachsichtig mit den (linksorientierten) Festungshaftgefangenen umgegangen ist, musste sich das Wachtpersonal in Landsberg erst an ‚diese Art des Aufsichtsdienstes gewöhnen‘“ (S. 31). Den dort einsitzenden Tätern der Rechten billigte man ehrenhafte Motive zu (darunter auch dem wegen des Mordes an Ministerpräsident Kurt Eisner ursprünglich zum Tode verurteilten Grafen Anton von Arco-Valley) und legte die einschlägigen Bestimmungen (Unterbringung, Tagesablauf, Briefverkehr, Besuche) großzügig zu deren Gunsten aus. Somit konnte auch Hitler „die ihn sehr bestätigende Erfahrung“ machen, „dass ihm größere Kreise der Bevölkerung im Freistaat wie im Reich, vor allem aber die bayerische Regierung und insbesondere auch die bayerische Justiz in einer fast selbst zerstörerischen Weise gewogen waren. […] Gegenüber der Weimarer Verfassung und der rechtsstaatlichen Ordnung hatten die entscheidenden Organe des Freistaats völlig versagt. Im Gefängnisalltag hatte sich gezeigt, wie sich Hitler scheinbar ehrenhaft, tatsächlich aber skrupellos und verschlagen verhalten hat. Es war naiv zu erwarten, dass er wieder in Freiheit ‚kein Wühler gegen Regierung, kein Feind anderer Parteien, die national gesinnt sind‘, sein würde. Doch dazu bedurfte es auch der Naivität politisch und juristisch Verantwortlicher, wie sie Otto Leybold als Vorstand des Gefängnisses an den Tag legte“ (S. 77).
Der Editionsteil (S. 79 – 488) enthält mehrere Sätze an Dokumenten. Zuvorderst steht Hitlers Gefangenen-Personalakt, bestehend aus insgesamt 122, vom Verfasser chronologisch geordneten und durchnummerierten Schriftstücken. Dies wurde notwendig, weil zum einen schon in den 1930er-Jahren der ehemalige Wachtmeister Otto Lurker einzelne Stücke für seine Publikation über Hitlers Landsberger Zeit entnommen und nur zum Teil wieder zurückgestellt hat, zum anderen das Konvolut anlässlich der Versteigerung unsystematisch zerlegt worden war. Sodann folgen fortlaufende Aufzeichnungen zu Hitlers Besuchen, zumeist beruhend auf den überlieferten Sprechkarten (zu Vergleichszwecken erfasst der Band ebenso chronologisch die Besucher von Hitlers Mitgefangenen Hermann Kriebel und Dr. Friedrich Weber) , sowie die sogenannten Guthabenlisten „Adolf Hitlers“ und „Gemeinsame Kasse“ für die inhaftierten Mitglieder des Stoßtrupps Hitler. Diese Listen verzeichnen das jeweilige Datum, Kontobewegungen sowie erworbene Waren und Leistungen. Hieraus ist beispielsweise zu ersehen, dass der im Ruf des Antialkoholikers stehende Hitler durchaus gerne Bier getrunken haben dürfte. In Auszügen wird anschließend das ärztliche Aufnahme-Buch für Schutzhaft-, Untersuchungshaft- und Festungshaft-Gefangene mit Eintragungen von 1919 bis 1934 abgedruckt. Darin festgehalten sind die Namen sowie Informationen zu Alter, Beruf, Familienstand, Wohnsitz und Haftdaten der Inhaftierten neben Angaben zum medizinischen Gesamteindruck, eventuellen pathologischen Befunden und den Körpermaßen. Das amtliche Grundbuch der Festungshaftanstalt Landsberg am Lech 1920 bis 1934 enthält mit fortlaufender Nummer die Daten von insgesamt 108 namentlich genannten Personen, ihre Unterbringung (Nummer der Stube/Zelle), Beruf, Familienstand, Religion, Straftat, Strafdauer, Strafantritt, Strafende und diverse Bemerkungen, wie die Überstellung in ein Konzentrationslager.
Das edierte Material wird über die üblichen Hilfsmittel (Personen-, Orts-, Quellen- und Literaturverzeichnisse) hinausgehend vom Verfasser außergewöhnlich gründlich aufbereitet, wobei besonders die zahlreichen biographischen Hinweise in den Fußnoten nützlich sind, da sie zeigen, welche Persönlichkeiten zu jener Zeit in Hitlers Netzwerk von Bedeutung waren, darunter manche, die später in Ungnade fallen und ihr Leben verlieren sollten. Fast zu sehr ins Detail geht die statistische Auswertung der Besuche und der Sprechzeiten im einleitenden Text; zusätzlich werden Hitlers Besucher im Anhang noch nach Ländern und Herkunftsorten namentlich gelistet, dann quantifiziert, schließlich (in eigenen Listen auch für Kriebel und Dr. Weber) alphabetisch mit ihren Besuchsdaten aufgeführt. Auf weiteren acht Seiten ist die Belegung der Stuben der Festungshaftanstalt Landsberg am Lech 1924/25 penibel dokumentiert, womit das zeitliche und räumliche Beziehungsgeflecht unter den Gefangenen jederzeit nachvollzogen werden kann. Die den Band schließenden, elf Schwarz-Weiß-Abbildungen stammen aus den Jahren 1924 bis 1938 und zeigen Hitler, seine Mitangeklagten und Mithäftlinge sowie Mitglieder seiner Familie und seiner Entourage, die ihn während seiner Haft in Landsberg aufgesucht haben. Besonders Forschungen zur Frühgeschichte der NSDAP werden von dieser Edition und ihrer Aufbereitung profitieren können.
Kapfenberg Werner Augustinovic