Patzold, Steffen, Gefälschtes Recht aus dem Frühmittelalter

. Untersuchungen zur Herstellung und Überlieferung der pseudoisidorischen Dekretalen (= Schriften der phil.-hist. Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Band 55 2015). Winter, Heidelberg 2015. 76 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

Patzold, Steffen, Gefälschtes Recht aus dem Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herstellung und Überlieferung der pseudoisidorischen Dekretalen (= Schriften der phil.-hist. Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Band 55 2015). Winter, Heidelberg 2015. 76 S.

 

Zu den geheimnisvollsten frühmittelalterlichen Quellen gehören seit langem mehrere fälschende Sammlungen kirchenrechtlicher Bestimmungen der Mitte des 9. Jahrhunderts mit rund 10000 Einzelteilen (unter Verwendung etwa der Historia tripartita des Epiphanius-Cassiodor der einstmals Corbier Handschrift Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek Lat. F. v. I. 11 oder der Konzilsakten von Chalkedon in der Version des Rusticus der einstmals Corbier Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale Lat. 11611). Steffen Patzolds nach dem Vorwort aus Gelegenheiten und Zufällen entstandener neuer Zugriff auf den alten Gegenstand begann mit einer von Tübingen ausgehenden  Tagung im April 2009 zu dem Breviarium des Liberatus von Karthago. Die von den Organisatoren erbetene Vorstellung der Rezeption dieses Textes im Mittelalter führte Patzold zu einem karolingerzeitlichen Codex aus dem Kloster Corbie, der das Breviarium  in dem Rahmen der Collectio Sangermanensis enthielt, und danach zur weiteren Rezeption dieser Sammlung in hochmittelalterlichen Handschriften der so genannten C-Klasse der pseudoisidorischen Dekretalen.

 

Seine hierbei gewonnenen Erkenntnisse fasst die vorliegende schlanke, aber tief schürfende Studie in sechs Abschnitten zusammen. Nach einer sachkundigen Einleitung behandelt der Verfasser den bisher vermuteten terminus post quem der C-Klasse, die Lokalisierung des Kernes der C-Klasse im Wettstreit zwischen Corbie und Reims, die Datierung des Kernes der C-Klasse und die Grenzen des Textvergleichs und zieht danach Schlussfolgerungen. Sie erlegen im Ergebnis den Anhängern der Datierung der C-Klasse in das Hochmittelalter den Nachweis auf, wann und wo im Hochmittelalter ein Kompilator einen A/B-Codex der Dekretalen, die Collectio Sangermanensis „samt den im Pariser Latinus 12098 spezifischen Zusatzmaterialen“, die Collectio Corbeieinsis, die Vitalian Briefe aus dem Jahre 668, den gefälschten Briefwechsel zwischen Felix und Gregor I. inklusive einer Variante aus einer Arbeitshandschrift Hinkmars von Reims, die Collectio Bobbiensis, die Collectio Grimanica und eine Sammlung des Erzbischofs Bonifatius von Mainz zur Verfügung hatte und warum ein solcher Kanonist in dem 11. JahrhundertTexte und typische, auch von der Pseudoisidorwerkstatt benutzte Kirchenrechtssammlungen der Karolingerzeit (Hispana, Quesnelliana), aber kein einziges Stück aus späterer Zeit verwendete.

 

Auch wenn nach dem Verfasser keine der Einzelbeobachtungen  einen eindeutigen Beweis erbringen kann, macht es der Gesamtbefund wahrscheinlich, dass der Kern der C-Klasse in dem Kloster Corbie in der Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden ist und dabei vielleicht das Ziel verfolgt wurde, bei Bedarf das typische Überlieferungsbild guten alten Kirchenrechts vorführen zu können. Dementsprechend sollte die C-Klasse bei allen künftigen Überlegungen zur Fälscherwerkstatt und der fälschenden Arbeitsweise nicht mehr wie bisher als spätere Zutat von vornherein ausgeschlossen werden. Außerdem sollte in dem nach wie vor geheimnisvollen Gesamtkomplex stärker als bisher mit der Möglichkeit mehrerer „Ausgaben“ von Dekretalensammlungen in Corbie innerhalb weniger Jahrzehnte gerechnet werden, die am überzeugendsten in einer elektronischen Edition dargestellt werden könnten, in der sich jeweils konkret für ein einzelnes Stück die Bezüge der Fassungen untereinander wie auch zu den übrigen Überlieferungszweigen und zu den vielen verarbeiteten Vorlagen je nach den Interessen des jeweiligen Nutzers darstellen lassen könnten, so dass dem Verfasser oder anderen Forschern weitere wünschenswerte Aufhellungen der auffälligen „Verfilzung des Gesamtkomplexes“ im Interesse von Bischöfen und Papst und im Gegensatz zu den Erzbischöfen gelingen könnten.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler