Nörr. Knut Wolfgang, Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses

in ausgewählten Kapiteln (= Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 118). Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XIV, 179 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

KöblerNörreingeschichtlicherabriss20160117 Nr. 15961 ZIER 6 (2016) 07. IT

 

 

Nörr. Knut Wolfgang, Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses in ausgewählten Kapiteln (= Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 118). Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XIV, 179 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Wie der Verfasser in seinen einleitenden Bemerkungen deutlich macht, ist das Zivilprozessrecht und damit der Zivilprozess in der Gegenwart ein Gegenstand, in dessen Rahmen sich Theoretiker und Praktiker aus verschiedenen Nationen des europäischen Kontinents – und eigentlich noch weit darüber hinaus – ohne große Mühe fachlich verständigen können, obgleich das Wort Zivilprozess in der deutschen Sprache nur bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts  (Bülau 1766) und sein lateinischer Vorläufer processus civilis nur bis zu dem Mittellateinischen zurückzureichen scheint bzw. scheinen. Überzeugend führt der Verfasser diese bedeutsame Fähigkeit auf das gemeinsame Erbe in dem gelehrten Prozessrecht des Mittelalters zurück, dessen Einzelteile vorwiegend in den von Kaiser Justinian zwischen 527/528 und 533/534  veranlassten Gesetzen aufspürbar sind. Aus dieser Sicht bietet der Verfasser als ein Ergebnis seines Lebenswerks einen geschichtlichen Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses in ausgewählten Kapiteln, dessen Abfassung sich aus persönlichen Gründen über mehrere Jahre hingezogen und nur mittels Zuspruchs und substantieller Hilfe Thomas Finkenauers noch zur glücklichen Beendigung gefunden hat.

 

Dieses bedeutende Werk hat bei seinem Erscheinen das sofortige Interesse eines sachkundigen Rezensenten gefunden. Gleichwohl verdient es vorweg bereits einen auf wenige Sätze beschränkten Hinweis des Herausgebers. In acht Kapiteln mit 42 Paragraphen zeigt es nämlich nach den einleitenden Bemerkungen für jedermann beispielhaft die Meilensteine der kontinentaleuropäischen Zivilprozessrechtsentwicklung auf.

 

Ausgangspunkt ist dabei in dem Rahmen der vierstufigen Entwicklung des Zivilprozesses in dem römischen Recht das römische Formularverfahren vor dem Prätor (in iure) und vor dem Richter (apud iudicem), dessen Spuren bei Justinian nirgends zu einer übergeordneten Einheit zusammengefasst sind. Gleichwohl gelang der hochmittelalterlichen, von Bologna ausgehenden Rechtswissenschaft die gedankliche Erfassung eines romanisch-kanonischen Zivilprozesses mit dem Richter (sowie weiteren gerichtlichen Funktionsträgern) und den beiden Parteien (und den Prokuratoren und Advokaten) als den Beteiligten, mit Reihenfolgeprinzip und Terminsequenz, Mündlichkeit, Protokollierung und Schriftlichkeit, verfahrenserheblichen und entscheidungserheblichen Handlungen und der Aufgabe des Richters als Grundkonstanten des Verfahrensrechts, mit dem Gang des Verfahrens von der Einleitung nach den Arten der Klage über die Ladung bis zur Litiskontestation und von der Litiskontestation über den Beweis bis zum Urteil  und schließlich den Rechtsmitteln vor allem in der Form der Appellation. Auf dieser bereits früher ausführlich erörterten Grundlage kann der Verfasser zu einem weiten Sprung ansetzen, der erst in Preußen 1781 endet, dessen Prozessordnung in den §§ 11-14 dargestellt wird.

 

Den nächsten Schwerpunkt bildet Frankreichs Code de procédure civile des Jahres 1806, dem gleiche Aufmerksamkeit wie dem römisch-kanonischen Zivilprozess gewährt wird. Demgegenüber treten die Genfer Loi sur la procédure civile von 1819, die Prozessrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts (Bülow und das Prozessrechtsverhältnis, Degenkolb und das abstrakte Klagerecht, Wach und der Rechtsschutzbereich und Chiovenda Principii di diritto processuale civile) sowie die (deutsche) Reichscivilprozeßordnung von 1877 (Mündlichkeit, Verhandlungseinheit, Aufgaben und Befugnisse von Richter und Parteien, Beweis, Rechtsmittel, Versäumnisverfahren) deutlich zurück. Dagegen erhält die Civilprozessordnung Franz Kleins für Österreich von 1895 zum Schluss  besonders großen Raum.

 

Am Ende versucht der Meister der  kontinentaleuropäischen Zivilprozessgeschichte kurz und klar eine Bilanz. In der nur schwer auflösbaren Spannung zwischen Gründlichkeit und Zügigkeit wurden vielfach unterschiedliche Lösungen angestrebt, in deren Rahmen Präklusion, Gehör, Richterablehnung und Ausgleich wirtschaftlicher Verschiedenheit unter den Parteien wichtige Elemente bildeten. Auch wenn der erste Zivilprozess im Dunkel der Geschichte verhüllt ist, sind ihm unter zunehmender gedanklicher und staatlicher Ordnung zahllose weitere Zivilprozesse bis zur Gegenwart gefolgt und werden ihm hoffentlich unter Einbeziehung der geschichtlichen Einsichten des beispielhaft kurz und gut urteilenden Verfassers und ohne Aussicht auf eine einzige optimale Gestaltung noch viel mehr in einer vermutlich globalen Zukunft folgen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler