Poudret, Jean-François, Coutumes

et coutumiers. Histoire comparative des droits des pays romands du XIIIe-XVIe siècle. Stämpfli Editions, Bern 2002. Partie III Le mariage et la famille, Partie IV Successions et testaments. XIII, 662, VII, 636 S. Besprochen von Thomas Gergen. ZRG GA 121 (2004)

Poudret, Jean-François, Coutumes et coutumiers. Histoire comparative des droits des pays romands du XIIIe-XVIe siècle. Staempfli Editions, Bern 2002. Partie III Le mariage et la famille, Partie IV Successions et testaments. XIII, 662, VII, 636 S.

 

Es ist sehr erfreulich, wenn wissenschaftliche Desiderate in sehr kurzer Zeit erfüllt und umgesetzt werden. Der Autor ergänzt seine beiden Werke zu Gewohnheitsrecht und Gewohnheitsrechtsbüchern der romanischen Länder im Mittelalter. Während der erste Band die Rechtsquellen und die Rechtsgestalter (Les artisans du droit) und der zweite, das Recht der Personen (les personnes) umfasste, können die nun vorliegenden Bände sich ausschließlich auf Familien-, Ehe- und Erbrecht konzentrieren. Geografisch umfasst die Studie das frankophone Schweizer Gebiet, welches den sechs Kantonen Genf, Wallis, Valais, Freiburg, Neuchâtel und Jura entspricht. Dieser Raum ist deswegen interessant, weil er zwischen Romania und Germania liegt, die sowohl eine Rechts- als auch eine Sprachgrenze bilden.

 

Es versteht sich von selbst, dass nicht alle Einzelheiten der beiden Bücher Gegenstand dieser Besprechung sein können; festzuhalten sind jedoch gleichwohl einzelne Details. Es stellt sich heraus, dass das Eherecht in den betroffenen Gebieten nicht sehr getreu das kanonische Recht, das bis zur Reformation das Eherecht im allgemeinen bestimmt, befolgt hat. So findet sich in den Urkunden des 13. bis 14. Jahrhunderts das versteckte Einverständnis der Ehefrau, die von ihren Angehörigen vertreten und von diesen dem Ehemann übergeben wird, welcher sich verpflichtet, sie zu heiraten. Die Eheschließung von Minderjährigen ist sehr häufig in den Quellen auffindbar. Diese kennen sehr oft auch die Ehenichtigkeitsklage wegen Impotenz des Mannes. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts treten Eheverträge verstärkt auf, die genauso wie die Testamente südländischem Muster folgen. Alemannischen Einflüssen begegnen wir im Haut Valais und manchmal in Freiburg, wo die Morgengabe auftritt. In Freiburg werden die Eheverträge gewöhnlich mündlich geschlossen, dann bei Zahlung der Mitgift und Aufstellung der Rückgabegarantie notariell beurkundet. Wie in anderen Ländern mit schriftlicher Rechtstradition kennen auch die Schweizer romanisch geprägten Länder die Freiheit und Veränderbarkeit der Eheverträge. Dies äußert sich in der Freiheit der Eheleute für das Gewohnheitsrecht ihrer Wahl. Wenngleich die Eheverträge meridionalem Muster folgen unterscheiden sich die Ehegüterstände in wesentlichen Punkten vom römischen Recht. Insbesondere unterscheiden sie nicht zwischen der Mitgift und den von der Frau erworbenen Gütern und sind alle Güter der Verwaltung und dem Nutzen des Ehemannes unterworfen. Die Ehefrau hat auch keine gesetzliche Hypothek oder ein sonstiges Recht an diesen Sachen. Immobilien sind nur mit der Zustimmung beider Eheleute veräußerbar.

 

Im Erbrecht trat zwischen den Jahren 1260 und 1280 ein entscheidender Vorzeichenwechsel ein. Die Rezeption meridionaler Rechtsmuster führte zur plötzlichen Verwendung des Testaments, das in den Regionen jeweils sehr unterschiedlich gebraucht wurde und erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts von den Notaren perfekt angewandt werden konnte. Je nach Gebrauch der lateinischen Sprache gelang es den Notaren, klare und formell makellose Testamente aufzusetzen. Unter den Rechtsinstituten, die speziell in der betrachteten Region vorkommen und nicht durch fremden Einfluss rezipiert wurden, arbeitet Poudret insbesondere heraus, den Zuschlag von Zweidritteln des väterlichen Erbes zugunsten der Kinder aus erster Ehe, das Prinzip der Güterrückgabe nicht nur eigener Güter an die Ursprungsfamilie (paterna paternis, materna maternis) sowie das vor einem Notar beurkundete Testament ohne Zeugen.

 

Es ist zwar richtig, dass Poudret die verschiedenen Institute des Ehe-, Familien- und Erbrechts über mehrere Jahrhunderte betrachtet und auch miteinander vergleicht, so dass man die Ergebnisse der Vergleiche immer in Zweifel ziehen kann, doch handelt es sich um echte Arbeitsergebnisse, wie dass das Gewohnheitsrecht in den betrachteten Gebieten von einer sehr großen Stabilität gekennzeichnet ist. Immer wieder fällt die Sonderrolle von Fribourg auf. das recht oft den Rechtsordnungen der anderen abweicht. Im Ergebnis hat Poudret sein Ziel, ein Handbuch des Rechts der „pays romands“ zu schaffen, nahezu erreicht und für die bisher vorgelegten vier Bände bestens umgesetzt. Dadurch wird die wissenschaftliche Lücke in der Rechtsgeschichte der Schweizer Romanistik wieder kleiner. Für die Zukunft hat er sich noch vorgenommen, zwei weitere Bände über Sachen-, Schuld- und Zwangsvollstreckungsrecht vorzulegen. Auf das Erscheinen dieser Bände darf die Rechtsgeschichte zweifelsohne mit Spannung warten.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen