Pauer-Studer, Herlinde/Velleman, J(ames) David, „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“
Pauer-Studer, Herlinde/Velleman, J(ames) David, „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen. Suhrkamp, Berlin 2017. 349 S., 14 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als der Journalist Heinz Höhne vor nunmehr gut einem halben Jahrhundert unter dem Titel „Der Orden unter dem Totenkopf“ als Erster eine differenzierte Darstellung der Geschichte der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS) vorlegte, waren ihm Person und Tätigkeit des SS-Richters Dr. Konrad Morgen (1909 – 1982) bereits einige Aufmerksamkeit wert. Dessen im Auftrag von Reichsführer-SS Heinrich Himmler 1943 einsetzende Nachforschungen zu Korruption und Mord in Buchenwald und weiteren Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, stellte er in den folgenden Kontext: „Der SS-Richter Konrad Morgen durfte zeitweilig eine Selbstreinigung der SS-Liquidatoren betreiben, in der Heinrich Himmler als eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde figurierte. […] Ein absurdes Schauspiel: Himmler ließ durch eine Rotte SS-eigener Staatsanwälte ein paar ‚unerlaubte‘ Judenmorde verfolgen – in Vernichtungslagern, die täglich Zigtausende von Menschen zu Tode brachten!“ Der Grund dafür sei Himmlers paradoxes Verständnis von „Anständigkeit“ und „Moral“ gewesen, das er der SS-Ideologie zugrunde gelegt hatte und in Gefahr wähnte. Morgen wird trotz seiner unbestreitbaren Bemühungen, Missstände radikal aufzuklären und die Täter unnachsichtig der Strafverfolgung zuzuführen, attestiert, dass „auch er an der Schizophrenie seines Reichsführers teilhatte“, indem er zwar streng gegen eigenmächtige Tötungen vorging, aber über die von der Führung offiziell angeordneten Tötungen im Rahmen der „Endlösung“ oder der „Euthanasie“ hinwegsah. Es sei dann „kein Zufall“ gewesen, dass „Himmler die Aktion Morgens just in dem Augenblick abstoppte, da sich die Ermittlungen gegen den Auschwitzer Lagerkommandanten Höß richteten. In Rudolf Höß verkörperte sich jener hygienische Massenmord, jenes klinisch-saubere Robotertum, jener ideale SS-Mann, um dessen 'Reinheit' Himmler allein besorgt war, als er die kurze Episode der Selbstsäuberung zuließ“ (Höhne, Orden S. 352ff.).
Genau dieser hier wahrgenommene, sich im Protagonisten des aktuellen Bandes verkörpernde Zwiespalt zwischen einem traditionellen, liberalen Werten verpflichteten Gerechtigkeitsideal und der rassistisch fundierten SS-Ideologie steht im Zentrum des Interesses der beiden Philosophen Herlinde Pauer-Studer (Universität Wien) und James David Velleman (New York University), wobei sie die Arbeit Höhnes weder im Text noch im Literaturverzeichnis erwähnen. Ihr Buch versteht sich als „Studie in moralischer Komplexität“, denn Konrad Morgen „war als SS-Offizier und SS-Richter nicht nur Teil des Systems, sondern aktives Mitglied, ja Vollzugsorgan einer Institution des Regimes. Gleichzeitig zwang ihn sein berufliches Rollenverständnis, das gegenüber gewissen Standards der Rechtsstaatlichkeit nicht gänzlich blind war, ein über der SS-Ideologie stehendes Ideal der Gerechtigkeit im Blick zu haben“. Gegenüber Morgens Selbstbeschreibung als „Gerechtigkeitsfanatiker“ melden die Verfasser Vorbehalte an, denn dieser „fühlte sich einer spezifischen Form der Gerechtigkeit bedingungslos, ja ‚fanatisch‘ verpflichtet, die er sich zurechtgelegt hatte, um seinen komplexen, teils widersprüchlichen normativen Bindungen zu entsprechen. […] Sein moralisches Bewusstsein war zu selbstbezogen und ideologisch zu verformt, um kritischer Distanz und unparteilicher Reflexion zugänglich zu sein. Letztlich zeigte sich sein Gerechtigkeitsverständnis der systematischen Inhumanität, die ihn umgab, nicht gewachsen“ (S. 11). Denn: „Seine fanatische Verfolgung verbrecherischer Einzelfälle stand in krassem Gegensatz zu seinem fehlenden Sinn für den größeren politisch-verbrecherischen Zusammenhang, in dem sie standen“ (S. 131).
Einen orientierenden Überblick über die Stationen der Biographie Konrad Morgens, die dann im Text auf 18 Kapitel verteilt näher ausgeführt wird, gibt zunächst die vier Druckseiten umfassende, der Untersuchung vorangestellte Zeittafel. Danach umreißt das erste Kapitel vorwiegend die Entwicklung der nationalsozialistischen Judenverfolgung bis zur „Endlösung“ und betont unter anderem, dass Rechtsgelehrte wie Otto Koellreutter und Ernst Rudolf Huber „den Nürnberger Gesetzen Verfassungsrang zu(schrieben)“ (S. 53). In Kapitel drei wird die vom Hauptamt SS-Gericht administrierte SS- und Polizeigerichtsbarkeit als „SS-interne Justiz, die strafrechtliche Vergehen von Mitgliedern der Waffen-SS, der Polizeieinheiten im besonderen Einsatz, der SS-Totenkopfverbände und der SS-Verfügungstruppe verfolgte“, auf dem „deutsche(n) Militärrecht, das auch das allgemeine Strafrecht einschloss“, beruhte, aber in der Auslegung „das in der SS kultivierte Wertesystem“ maßgeblich zu berücksichtigen hatte, skizziert (S. 77f.). Die übrigen Sektionen rekonstruieren und diskutieren die Amtshandlungen Konrad Morgens aus den Quellen inklusive der Nachkriegsaussagen (der SS-Richter äußerte sich als Zeuge in mehreren Verfahren, so im Nürnberger Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher, in den Prozessen gegen Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, Oswald Pohl und Gottlob Berger, im Frankfurter Auschwitz-Prozess und im Düsseldorfer Majdanek-Prozess) und versuchen seine Motive zu ergründen und kritisch zu prüfen. Zusammengefasst bestand seine Strategie darin, dass er, „(d)a er keine Möglichkeit hatte, das Verbrechen des Massenmords gerichtlich zu verfolgen, versuchte, dagegen etwas zu unternehmen, indem er die Täter für geringfügigere Delikte belangte“ (S. 248). Allerdings scheiterte sowohl die Bestrebung, den Organisator der „Endlösung“, Adolf Eichmann, wegen möglicherweise veruntreuter Juwelen zu belangen, als auch jene, Rudolf Höß, den Kommandanten von Auschwitz, wegen persönlicher Verfehlungen im Zusammenhang mit einem weiblichen Häftling anzuklagen. Selbst die spektakulären Ermittlungen im prominentesten Vorgang, dem Buchenwald-Komplex, endeten im Ergebnis „für Morgen ernüchternd. [Der ehemalige Lagerkommandant] Koch wurde zwar zum Tode verurteilt, allerdings wegen Veruntreuung und Betrugs, nicht wegen Mordes. […] [Seine Ehefrau] Ilse Koch wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. [Waldemar] Hovens [= ehemaliger Lagerarzt] Verurteilung wurde immer wieder verschoben […] und (er) wurde schließlich im März 1945 entlassen“ (S. 258). Himmler genehmigte zwar im Mai 1944 die Errichtung eines allgemeinen Gerichts zur besonderen Verwendung in München zum Zweck der Untersuchung und Anklage größerer Verbrechenskomplexe in den Konzentrationslagern, doch ernannte er „Morgen weder zum Leiter dieser Abteilung noch gab er ihm freie Hand“ (S. 250), sondern zielte „klar auf eine subtile Form der Neutralisierung Morgens“ (S. 254), der sich durch sein rigides Vorgehen nicht wenige hohe SS-Führer zum Feind gemacht hatte.
Im Vergleich mit der englischsprachigen Originalausgabe „Konrad Morgen. The Conscience of a Nazi Judge“ (2015) wurde der deutschsprachige Text nun zusätzlich mit einer Einleitung versehen, die den rechtstheoretischen Kontext während der Ära des Nationalsozialismus beleuchtet und auf Themen wie die zeitgenössische Strafrechtskonzeption, das politisch-weltanschaulich erweiterte Ermessen des Richters, die Untergrabung der Justiz, auf das Verhältnis von Recht und Moral sowie auf bestimmte rechtsphilosophische Überlegungen eingeht, die im Nachwort die Basis des Versuchs einer Gesamtbeurteilung des Falls Konrad Morgen bilden. Was war grundsätzlich problematisch am Wirken dieses SS-Richters, der in den eigenen Reihen wegen seiner Zähigkeit und unbestechlichen, kompromisslosen Haltung gefürchtet war und der doch 1942 mit seiner vorübergehenden Entlassung aus der SS- und Polizeigerichtsbarkeit und der Versetzung an die Ostfront erfahren musste, wie sehr Wohl und Wehe de facto von den Launen seines Reichsführers Himmler abhingen?
Die Verfasser bemühen dazu die Kontroverse zwischen der Naturrechtslehre und dem Rechtspositivismus in der Frage um eine Moralisierung des Rechts. Sie hinterfragen kritisch die vorherrschende Ansicht in der Rechtsphilosophie der Nachkriegszeit, eine symbiotische Verbindung zwischen Recht und Moral hätte die Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus verhindern können. Auf der Grundlage theoretischer Reflexionen des Aristoteles, Immanuel Kants, Ronald Dworkins und Jürgen Habermas‘ kommen sie zum Schluss, dass sich gerade „die nationalsozialistischen Rechtstheoretiker für eine Vereinheitlichung von Recht und Moral aussprachen“, um durch eine „moralisierende Rhetorik [zu] verschleier(n), in welchem Ausmaß das NS-Regime Recht und Gesetz in ein Mittel der autoritären politischen Kontrolle und letztendlich des Terrors sowie des Mordens umfunktioniert hatte“ (S. 293). Eine Moral, orientiert an Dworkins Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme, dürfe daher als oberster Standard und Korrektiv nicht innerhalb, sondern müsse neben dem Rechtssystem autonom existieren: „Statt einer gegen ideologischen Missbrauch ungeschützten Moralisierung des Rechts das Wort zu reden, sollten wir vielmehr darauf achten, dass eine Rechtsordnung normative Bedingungen wie Öffentlichkeit, Transparenz, Konsistenz und Berechenbarkeit erfüllt, Bedingungen also, die konstitutiv für Rechtsstaatlichkeit sind, die aber nicht die Vereinheitlichung von Recht und Moral verlangen. Die schlichte Forderung, alle Rechtsnormen, also auch alle Befehle Hitlers, zu veröffentlichen, hätte die schlimmsten Exzesse des nationalsozialistischen Regimes wohl verhindert“ (S. 298f.).
Konrad Morgen konnte, so die Verfasser, „die Grenzen zwischen Moral und ideologischer Moralisierung nicht klar und einwandfrei ziehen. Als Richter blieb er Gefangener seiner doppelbödigen normativen Identität: Zum einen verstand er sich als der noch an rechtsstaatlichen Prinzipien geschulte Richter, der sich lediglich einem besonderen System der Rechtsprechung, eben der SS-Gerichtsbarkeit, zugeordnet fand. Zum anderen war er der SS-Richter, der sich mit dem SS-Ethos und dessen spezifischer Auslegung durch Himmler identifizierte und dieses als Richter umsetzte“ (S. 297). Die Grenzen, die ihm hier gesetzt waren, seien „Grenzen der eigenen Willigkeit, sich dem politischen System zu widersetzen“, gewesen, vor allem aber auch die durch den Einfluss von Politik und Gewalt markierten Grenzen des geltenden „Rechtssystems, in dem er sich bewegte“ (S. 300). Die um eine alphabetische Aufstellung der im Band erwähnten Hauptpersonen mit ihren wesentlichen biographischen Daten und eine ebensolche akribische Auflistung der umfangreichen Archivmaterialien angereicherte Studie vermittelt somit am Beispiel Konrad Morgens eine rechtsphilosophisch vertiefte und doch lebensnahe kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Grenzen und moralischen Implikationen systemkonformer strafrechtlicher Arbeit im Schatten und in Kenntnis staatlich initiierter Massenverbrechen. Im Kern untermauert und präzisiert sie das von Heinz Höhne lange erkannte Dilemma, das – selbst unter Annahme der lautersten Absichten des Akteurs – in der faktischen Unmöglichkeit besteht, zwei jeweils konträre, inkompatible Überzeugungen von Recht und Moral (liberale Rechtsordnung und humanistische Werte versus nationalsozialistische Rechtsordnung und Rassenideologie) im juristischen Alltag widerspruchsfrei zusammenzuführen. So bleibt der Glaube, als „Gerechtigkeitsfanatiker“ in einem strukturell defekten Rechtssystem durch die konsequente Anwendung der vorhandenen Normen heilend wirken zu können, trotz gelingender kosmetischer Korrekturen letztlich stets Illusion.
Kapfenberg Werner Augustinovic