Bruhns, Hinnerk, Max Weber und der Erste Weltkrieg
Bruhns, Hinnerk, Max Weber und der Erste Weltkrieg. Mohr Siebeck, Tübingen 2017. 221 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Wie erlebte der berühmte deutsche Soziologe Max Weber (1864-1920) den Ersten Weltkrieg? Welche Haltung nahm er gegenüber den politischen Herausforderungen dieser Zeit, gegenüber Krieg und Frieden ein, schlug sich diese in seinem wissenschaftlichen Werk nieder, und wenn ja, wie? Derlei Fragen treiben den 1943 in Bielefeld geborenen, promovierten Historiker und Romanisten Hinnerk Bruhns um, der 1985 zum Directeur de recherche im Centre de recherches historiques der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales bestellt worden war. Sein Interesse sei durch die Lektüre der Kriegsbriefe Max Webers geweckt, ein ursprünglich zusammen mit Gerd Krumeich geplantes Übersetzungsprojekt ins Französische dann aber nicht realisiert worden. So mündete der 2012 in diesem Zusammenhang vom Verfasser gehaltene Vortrag schließlich in den vorliegenden schmalen Band, der neben den genannten Briefen auch Abhandlungen, Reden und Zeitungsartikel Max Webers verwertet. Zugute kommt der Arbeit, dass durch das weit gediehene Projekt der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG, 1984ff.) ein geordneter Zugriff auf diese Materialien, die durch die wissenschaftliche Literatur ergänzt werden, nunmehr unkompliziert möglich ist.
„Von der Schwelle des dritten Kriegsjahres zum Versailler Vertrag“ titelt etwas überraschend der erste von insgesamt drei Abschnitten. Nicht 1914, sondern 1916 ist das Jahr, mit dem die Betrachtungen einsetzen, denn im Juli 1916 konstituierte sich ein „Deutscher Nationalausschuss für einen ehrenvollen Frieden“, der zum 1. August in 39 deutschen Städten bekannte Persönlichkeiten als Redner zu diesem Thema sprechen ließ, um die Öffentlichkeit für einen „Verständigungsfrieden“ zu gewinnen. Obwohl Max Weber zwar nicht öffentlich, aber in privaten Briefen zunächst ebenfalls euphorisch den Krieg begrüßt und als Leutnant der Reserve freiwillig bis Ende September 1915 als Leiter der Reservelazarette in Heidelberg gedient hatte, hob sich seine in Nürnberg gehaltene Rede deutlich ab vom panegyrischen Schwulst der meisten patriotischen Redner wie Adolf von Harnack, der in der Reichshauptstadt Berlin Gottvertrauen, Kaiser und Heer beschwor. Zum Missfallen seiner Zuhörer erteilte Weber weitreichenden Annexionsplänen (Belgien, Polen), wie sie vor allem die Alldeutschen propagierten, aus sachlichen Gründen eine klare Absage. Die gleiche kühle Sachlichkeit ließ ihn scharfe Kritik an der Agitation für den verschärften U-Boot-Krieg üben, indem er dessen Bedeutung für „das Eingreifen Amerikas und die Lage Deutschlands im und nach dem Krieg“ hellsichtig erkannte (S. 22). Ganz in der außenpolitischen Tradition Otto von Bismarcks war Max Webers „eigener intellektueller Einsatz der Kampf für eine nüchterne, im besten Sinne interessengeleitete politische Kriegsführung. Wenn der Krieg geopolitisch unvermeidlich war und innenpolitisch, für die Festigung der Nation, ein konstruktives Ergebnis zeitigen sollte, dann mussten die Kriegs- und Friedensziele auf dieser Grundlage definiert werden“ (S. 35). Die vom Nationalökonomen Johann Plenge so benannten, philosophisch verbrämten und wenig exakten „Ideen von 1914“ waren ihm eine „widerwärtige Geschmacksentgleisung sich wichtig nehmender Literaten“ (S. 41). Max Webers Versuch, sie durch eigene „deutsche Ideen von 1918“ zu entkräften, sei aber nach Ansicht des Verfassers „misslungen“: „Für die Verfechter der Ideen von 1914 standen die äußeren Konfliktlinien im Vordergrund: Deutschland gegen die ganze Welt, genauer: die Welt gegen Deutschland. Webers Zukunftsideen, die Ideen von 1918, gingen von den inneren Konfliktlinien aus: von politischen, sozialen und ökonomischen“ (S. 50). Wegmarken dieser von Hinnerk Bruhns im Weiteren näher charakterisierten, im Zeichen eingeforderter Sachlichkeit stehenden „Ideen von 1918“ sind die im Begriff des Staatsbürgers zum Ausdruck kommende und durch ein gleiches Wahlrecht zu realisierende „Einheit des Staatsvolks an Stelle der Gespaltenheit der privaten Lebenssphären“ (S. 60), die „Reduzierung des preußischen Einflusses im Reich“ (S. 62) sowie der Aufbau einer an Westeuropa orientierten politischen Kultur. Max Webers persönliches politisches Engagement endete frustriert als Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles im Mai 1919. Als Sprecher der Heidelberger „Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts“, die Stimmung für einen Frieden nach den Grundsätzen Präsident Wilsons machen wollte, war er in Versailles bestenfalls Werkzeug der Diplomatie und ohne realen Einfluss. In der Kriegsschuldfrage sah er ohnehin, wie aus seinem Artikel in der „Frankfurter Zeitung“ vom 17. Januar 1919 hervorgehe, keineswegs die Mittelmächte, sondern neben Russland Frankreich, Belgien und die Vereinigten Staaten in der Verantwortung, was er, der „gewesene( ) Jurist( )“, auf der Basis des Entwurfs eines fiktiven „künftige(n) Kriegsvölkerrechtsstatut(s) mit vier Artikeln“ anhand dessen rückwirkender Anwendung durchexerzierte und zu belegen suchte (S. 83).
Der zweite Teil der Publikation widmet sich dem Komplex „Krieg und Wissenschaft“. Hier widerspricht der Verfasser geäußerten Anschauungen, welche die religionssoziologischen Arbeiten Webers als „Weltflucht oder Kontemplation“ deuten. Vielmehr bestehe „(i)n Anbetracht seiner ungeheuren Arbeitskapazität kein Anlass zu der Annahme, seine religionssoziologischen und anderen wissenschaftlichen Studien hätten seinem gleichzeitigen politischen Engagement und Interesse für das Kriegsgeschehen Abbruch getan“ (S. 94f.). Seine Versuche, nach dem Ausscheiden aus dem Lazarettdienst in der Verwaltung tätig zu werden, seien darauf hinausgelaufen, dass für ihn zwar in Brüssel, Berlin oder Warschau wissenschaftliche Verwendungen auf ökonomischem und sozialem Gebiet bereitgestanden hätten, doch „(war es) sein eigentlicher Wunsch, ‚an politische Fragen‘ zu kommen“ (S. 105). Was den Wissenschaftsbetrieb angeht, zeige sich während des Ersten Weltkriegs bei den bedeutenden deutschen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften nicht nur Kontinuität, sondern eine deutlich gesteigerte Produktivität: Webers „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (AfSS) publizierte seit August 1914 zusätzlich spezielle „Kriegshefte“, und auch „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“ bearbeitete verstärkt Kriegsthemen. Neben pragmatischen, technischen und empirischen Studien beschäftigte man sich mit politischen und sozialen Reformen sowie mit Analysen grundsätzlicher Natur. Während der bereits erwähnte Johann Plenge und andere in der Kriegswirtschaft ein prägendes Modell für eine kommendes Wirtschaftssystem zu erkennen glaubten, stand für Max Weber fest, „dass die Kriegswirtschaft genauso wenig das Muster sein könne für die normale Friedenswirtschaft wie die derzeitige Kriegsverfassung ‚für die politische Struktur des Friedens‘“ (S. 122). Eine geschlossene Soziologie des Ersten Weltkriegs, wie sie von Emil Lederer (1915) bekannt ist, hat Weber allerdings nicht vorgelegt. Dessen ungeachtet sei aus der Summe seiner Äußerungen erkennbar, dass für ihn „der Weltkrieg vor allem der Siegeszug einer bestimmten ‚Lebensform‘, nämlich ‚der rationalen, arbeitsteiligen, fachmäßigen bureaukratischen Organisation aller menschlichen Herrschaftsverbände, von der Fabrik bis zum Heer und Staat‘ über die ganze Welt (bedeutete). […] Als Beobachter der sozialen Wirklichkeit in den Kriegsjahren ist er besorgt über die Festigung der Vormachtstellung der Agrarier und anderer Kriegsgewinnler, die Deklassierung der Soldaten und der ‚Arbeiterarmee, welche den Kriegern draußen den Kampf ermöglicht‘. Diese sozialen, politischen, ökonomischen Folgen gehörten für Weber, neben der Kriegswirtschaft, zu den sozialwissenschaftlichen und gleichzeitig politischen Dimensionen des Krieges“ (S. 132). Interessant ist, dass Max Webers Arbeiten bereits vor dem Krieg nur selten übersetzt worden sind und er erstaunlich wenige persönliche wissenschaftliche Auslandskontakte pflegte, sodass „zweifelhaft“ sei, „ob Weber zu Lebzeiten wirklich schon einen weltweiten Ruf hatte“ (S. 139).
Der letzte Abschnitt, „Ehre, Schicksal und Geschichte“, sucht die Koordinaten von Max Webers persönlichem Nationalismus abzustecken, der uns heute, mit dem Wissen um die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, wohl einer anderen Welt zugehörig anmuten muss. Trotz schmerzhafter Verluste in seinem persönlichen Umfeld interpretiert er das Sterben im Krieg, den „Tod da draußen“ als „einzige(n), der Sinn hat, weil er ein Tod ‚für‘ etwas nicht nur ‚an‘ etwas ist“, der Krieg habe – im Gegensatz zum noch grausameren ökonomischen Kampf – „einen erkennbaren Sinn: das ‚Einstehen aller […] für die Ehre, und das heißt einfach: für vom Schicksal verhängte geschichtliche Pflichten des eigenen Volkes“ (S. 158ff.). „Ehre“, assoziiert mit Verantwortung und Pflichtgefühl, sei „ein zentrales Element in Webers Begriffshaushalt, auf der persönlichen und wissenschaftlichen ebenso wie auf der politischen Ebene[,] (d)er Einsatz von Kolonialtruppen im Krieg […] ist ihm ein Verstoß gegen die Standesehre der europäischen Staaten“. Die antike, weithin verbreitete Konzeption vom Barbaren strapazierend, spricht er, der den Kraftausdruck gern zelebrierte, in diesem Zusammenhang von einem „Auswurf afrikanischer und asiatischer Wilder“ und „alle(m) Räuber- und Lumpengesindel der Erde“ (S. 162). Ebenso drastisch geißelt er aber auch „Realitätsferne, ideologische Verbohrtheit, Herrschaftsinteressen, Klassenegoismus, Standesdünkel und Eitelkeit“, Kaiser Wilhelm II. ist für ihn der „dilettierende( ) gekrönte( ) Fatzke“ (S. 175). „Schicksal“ – ein weiterer zentraler Begriff Webers – ist für ihn die „Gesetzlichkeit des ‚Macht-Pragma‘, das alle politische Geschichte beherrscht“; Deutschland als Macht- und Nationalstaat sei demnach „dazu verurteilt, ein Heerlager zu sein“ (S. 176f.). In seinem Denken blieb Weber weit entfernt von jeder populären Deutschtümelei und Geschichtsromantik. Seine „positive(n) Gestalten und Gestalter der deutschen Geschichte“ sind „der Nationalliberale Rudolf von Benningsen, die Männer der Paulskirche und die Göttinger Sieben“. Aber: „Politiker, wie Bismarck, die eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung hinterlassen, und […] ein preußischer Staat und ein autoritäres System, die ‚Kanaillen‘ erziehen und den Deutschen an das autoritäre Empfinden […] gewöhnen: das nennt Max Weber eine ‚gedrückte Vergangenheit‘“ (S. 187).
Die Rolle, für die sich der „gelernte Jurist“ Max Weber, der sich „immer viel Zeit für Rechtshändel (nahm)“ (S. 31), „eigentlich berufen“ sah, sei, wie er 1920 bekannte, „die des Gesetzgebers“, also des aktiven Gestalters der künftigen Verfassung gewesen (S. 198). Dieser Wunsch blieb unerfüllt, das baldige Ableben des schillernden Protagonisten verhinderte jedes politische Engagement im Kontext der Republik von Weimar. Zieht man die vielschichtigen Haltungen ins Kalkül, die Hinnerk Bruhns im vorliegenden Band Max Weber in der Zeit des Ersten Weltkriegs zuschreiben kann, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er deren Entwicklung nicht nur von der Warte des distanzierten wissenschaftlichen Beobachters begleitet hätte.
Kapfenberg Werner Augustinovic