Bachmann, Sarah A., Die kaiserliche Notariatspraxis im frühneuzeitlichen Hamburg
Bachmann, Sarah A., Die kaiserliche Notariatspraxis im frühneuzeitlichen Hamburg (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 70). Böhlau, Wien 2017. 354 S.
Detaillierte Untersuchungen über die Notariatspraxis nach der Reichsnotarordnung von 1512 bis zum Untergang des Reichs 1806 gehören noch immer zu den Desideraten der rechtshistorischen Forschung. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich Bachmann des Hamburger Notariats, zu dem noch keine detailliertere Untersuchung für die Zeit bis 1806 vorlag, angenommen hat. Grundlage der Untersuchungen sind, da Prozessakten und Notariatsakten bis 1780 beim großen Stadtbrand 1872 verbrannt sind, die vom Hamburger Staatsarchiv verwahrten, sich auf Hamburg beziehenden Prozessakten des Reichskammergerichts. Herangezogen werden die Prozesse, „in denen der Hamburger Rat entweder als Vorinstanz urteilte und dies in den Akten dokumentiert war oder nach solchen Prozessen, in denen der Rat selbst als Streitbeteiligter auftrat“ (S. 67; Verzeichnis der herangezogenen Akten S. 11f.). Hinzu kommen noch einige Akten des Reichshofrats sowie Testamente und notarielle Instrumente. Herangezogen wurde auch die frühneuzeitliche Literatur zum Notarrecht. Ziel der Arbeit ist, die „Verwendung notarieller Urkunden im frühneuzeitlichen Hamburg darzustellen“ (S. 64; Einsatz der Urkunden im Prozess als Beweismittel, urkundliche Glaubwürdigkeit und Einwendungen gegen die im Prozess vorgelegten Urkunden).
Der erste Hauptteil des Werkes umfasst die „Notare und ihre Schriftstücke“ (S. 79-117). Hierbei geht es im Schwerpunkt um die drei für Hamburg relevanten Schreibertypen (Schreiber, kaiserliche Notare und Ratsnotare, die bis auf einen einzigen nicht zugleich kaiserliche Notare waren) sowie um die „notariellen Schriftstücke“ (notarielle Urkunde, notarielle Kopie, notarielle Dorsalurkunde und besiegelte Urkunde sowie notarielle Unterfertigung; tabellarische Zusammenfassung S. 115f.). Im umfangreichen dritten Kapitel (S. 118-274) beschäftigt sich Bachmann nach einen Überblick über den Hamburger Zivilprozess und dessen Beweisrecht (S. 127ff.) mit dem Beweis durch notarielle Urkunden, „mit den Anforderungen, die an ein notarielles Instrument gestellt wurden, damit man ihm Glaubwürdigkeit zubilligte, und anschließend mit den Möglichkeiten, die urkundliche Beweiskraft zu erschüttern“ (S. 269). Leitbegriff der Untersuchungen ist die fides (publica) der notariellen Urkunden, die abhängig war von der Einhaltung der Beurkundungsvorschriften (S. 151ff.) und der persönlichen Glaubwürdigkeit des beurkundenden Notars (S. 183ff.). Die von Bachmann ausgewerteten Akten lassen vielfältige Angriffsmöglichkeiten auf die fides erkennen (S. 228ff.). Außer der Geltendmachung von Formfehlern spielten eine Rolle der Angriff auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Notars (Verleumdungen, Nachweis eines schlechten Rufs des Notars) und „willkürliche, teils gewaltsame Eingriffe“ des Hamburger Rats in das kaiserliche Notariatswesen (S. 263ff. zu den Abwehrmaßnahmen, die dem Notar und dem Urkundenverwahrer zur Verfügung standen). Gegen die Geltendmachung eventueller Formfehler versahen die Notare ihre Urkunden oft mit zusätzlichen „Sicherungen“ (S. 266ff.).
Im vierten Kapitel „Freiheitswahrung, oder weshalb sich das kaiserliche Notariat in Hamburg etablierte“ (S. 275-335) beschäftigt sich Bachmann mit dem Recht der „freien Vergabung in Hamburg“ und untersucht, inwieweit hiervon durch Testamente Gebrauch gemacht wurde. Anhand von zwei Testamenten versucht sie nachzuweisen, inwieweit der Rat am Ende des 16. Jahrhunderts Einfluss nahm auf die Erstellung von Ratsherrentestamenten (Vermachung von Geldern zu gemeinnützigen Zwecken; S. 301ff.). Schutz gegen solche Einflussnahmen gewährte das von kaiserlichen Notaren beurkundete Testament. Nach den Feststellungen Bachmanns war bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts das Notariatswesen in Hamburg „eher eine Randerscheinung“ (S. 324). Erst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahm die Zahl der Notare erheblich zu. Mit den 48 Notaren des 17. Jahrhunderts verdoppelte sie sich nahezu (S. 326), ohne dass man von einem eklatanten „Notarüberschuss“ sprechen kann (S. 337). Nach der Reformation bedienten sich vorzugsweise die protestantische Geistlichkeit und vor allem die Altgläubigen (Katholiken) der notariellen Testamentsform (S. 328ff.). In der Folgezeit machte auch die vermögende Hamburger Oberschicht Gebrauch von notariell errichteten Testamenten – „offenbar“ nach dem Befund von Bachmann – aus „prinzipiellen Erwägungen zur Verteidigung von selbstbestimmten Handelns“: „Die Testatoren setzten sich also höchstwahrscheinlich nicht gegen die Einflussnahmen zur Wehr, um ihre Erben zu schützen, sondern offenbar hauptsächlich, weil der Rat ihre zugesicherten Freiheiten willkürlich beschnitt“ (S. 334). Das Notariatsrecht wirkte nach Bachmann „mit seiner ausgeprägten formalen Ausrichtung … nicht etwa freiheitsbegrenzend, sondern garantierte Gleichmäßigkeit und Schutz vor obrigkeitlicher Willkür“ (S. 335). Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass Hamburg nach der Einführung des französischen Notariats 1811 (hierzu Jan Jelle Kähler, Französisches Zivilrecht und französische Justizverfassung in den Hansestädten Hamburg, Lübeck und Bremen [1806-1815], 2007, S. 137ff.) dieses in modifizierter Form als Nurnotariat beibehielt. Hingewiesen sei auch darauf, dass die Rheinländer, die bereits 1798 das französische Notariat kennengelernt hatten, auf der Aufrechterhaltung des selbständigen Notariats gegenüber Altpreußen bestanden, wo das Notariat erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine größere Rolle spielte. Hingewiesen sei auch noch darauf, dass Hamburg, obwohl dies zulässig gewesen wäre, im Gegensatz zu anderen Territorien des Reichs kein eigenständiges Notariatsrecht, wie etwa die Reichsstadt Frankfurt, Jülich-Berg und Baden, ausbildete. Grund hierfür dürfte gewesen sein, dass für die Hamburger Kaufmannschaft ein „unbeeinflusstes, funktionierendes kaiserliches Notariatswesen weitaus günstiger“ war (S. 248) als ein eigenständiges Hamburger Notarrecht. Das Werk wird abgeschlossen mit einer kurzen „Zusammenfassung und Tragweite der Ergebnisse“ (S. 336-338). Der Anhang bringt ein Verzeichnis der kaiserlichen Notare in Hamburg für die Zeit von 1500-1700, gefolgt von einem Sachregister. Das Quellenverzeichnis und das Literaturverzeichnis finden sich am Anfang des Bandes (S. 11-47).
Trotz der Quellenarmut ist es Bachmann gelungen, eine hinreichend aussagekräftige Darstellung der Hamburger Notariatspraxis vorzulegen. Nicht ganz zu befriedigen vermag die Gliederung des Werkes. Die Darstellung über die Anfänge und die zahlenmäßige Ausbreitung des Hamburger Notariats, die erst am Ende des Bandes erfolgt, hätte man gerne bereits im ersten Hauptteil des Werkes gelesen. Der Abschnitt über den Hamburger Zivilprozess hätte im Hinblick auf den gemeinrechtlichen, für das Reichskammergericht geltenden Kameralprozess ausführlicher sein können besonders im Hinblick auf das Beweisinterlokut/Beweisurteil. Die von Bachmann entwickelte Theorie der freiheitswahrenden Funktion des kaiserlichen Notariats ist primär anhand der notariellen Testamentsbeurkundung entwickelt worden. Es fragt sich, ob diese Theorie auch für die sonstigen notariellen Beurkundungen zutrifft. Die Regelungen zum Notariatswesen in Hamburg (S. 231-234) hätten vielleicht schon früher gebracht werden sollen, zumal der Hamburger Rat „ ‚sein Notarrecht im partikularen Bereich‘“ weitgehend durchsetzen konnte (vgl. S. 337). Insgesamt liegt mit den Untersuchungen von Bachmann über die Notariatspraxis nach der RNO eine wichtige Darstellung zum frühneuzeitlichen Notarrecht vor, die Vorbild sein könnte für weitere Untersuchungen der notarrechtlichen Praxis in anderen Territorien des Alten Reichs.
Kiel
Werner Schubert