Thielen, Thorsten, Friede und Recht
Thielen, Thorsten, Friede und Recht. Studien zur Genese des frühmittelalterlichen Herrscher- und Tugendideals in der lateinischen Literatur der römischen Antike und des frühen Mittelalters (= Rechtshistorische Reihe 471). Lang (PL Academic Research), Frankfurt am Main 2017. 874 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Der aus den Hominiden vor mehr als 100000 Jahren entstandene Mensch ist ein zugleich soziales und individuelles Lebewesen, das ohne seine Mitmenschen nicht bestehen kann und sich trotzdem mit ihnen aus angeborenem Egoismus auseinandersetzen muss. Zum Ausgleich seiner natürlichen Aggressivität hat er in der Gesellschaft das Recht entwickelt. Mit dessen Hilfe kann er auch den Zustand ungestörter Ordnung sichern, in dem sich niemand der Gewalt bedient, um seine besonderen Interessen zu verwirklichen.
Mit einem einzelnen Aspekt dieser allgemeinen Problematik beschäftigt sich die 2005 von Hans Hattenhauer mit seiner Schrift Pax et iustitia (1983) angeregte, von Franz Dorn betreute, in dem Wintersemester 2016/2017 von dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier angenommene Dissertation des in Trier in Rechtswissenschaft ausgebildeten, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Lehrstuhl seines Betreuers (früher) und als Lehrbeauftragter bzw. anscheinend als Richter an dem Sozialgericht tätigen Verfassers. Seine umfangreiche Untersuchung gliedert sich nach einer Einleitung über Gegenstand, Gang der Darstellung, Struktur und Quellenauswahl von der römischen Republik über Panegyrik, christliche Apologetik bis zur konstantinischen Wende, lateinische Panegyrik nach Konstantin, christliche Herrschafts- und Herrscherethik im vierten und fünften Jahrhundert sowie christliche Tugendlehre in den „germanischen“ regna in sieben Sachabschnitte. Sie betreffen die römische Herrschertugend im ersten vorchristlichen und nachchristlichen Jahrhundert und damit losgelöst von der Republik, die lateinische Panegyrik von Plinius bis Constantius, die frühchristliche Herrscherideologie und die „konstantinische Wende“, das lateinische Herrscherlob unter und nach Konstantin, die christliche Tugendlehre bis Augustinus, das christliche Kaisertum in der Literatur des fünften Jahrhunderts und das römisch-christliche Tugendideal in den „germanischen“ regna, für die Avitus von Vienne, Ennodius von Pavia, Boethius, Cassiodor und Venantius Fortunatus ausgewertet werden.
Am Ende stellt der Verfasser das römische Tugendideal vor, schildert den Einfluss des Christentums und behandelt auf dieser Grundlage die römisch-christliche Herrschertugend in den „germanischen“ regna. In seinem Mittelpunkt steht ein in jeder Hinsicht universeller Tugendbegriff, der Geistestugend voraussetzt und Handlungstugend durch Bewährung in dem Gemeinwesen fordert, aber seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert christlich umgedeutet wird, Die Schriften der nach dem Untergang des römischen Westreichs unter „germanischen“ Königen wirkenden Autoren knüpfen in der Sache vollständig an diese römisch-christliche Ideologie an, so dass die Überzeugung fortbesteht, dass dann, wenn innerhalb der Königsherrschaften das Gemeinwesen in der Zuwendung auf Gott durch Frieden und Recht gesichert und in dem Friedensraum durch tugendhafte Herrscher jedem das Seine gewährt wird, das römische Weltreich auch in Zukunft eine Ordnungsmacht sine fine bleibt.
Innsbruck Gerhard Köbler