Sebaldt, Martin, Nicht abwehrbereit
Sebaldt, Martin, Nicht abwehrbereit. Die Kardinalprobleme der deutschen Streitkräfte, der Offenbarungseid des Weißbuchs und die Wege aus der Gefahr (= Standpunkte und Orientierungen 9). Carola Hartmann Miles, Norderstedt 2017. 156 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung 1989/1990 verband sich im Westen und der Mitte Europas die trügerische Hoffnung auf einen allgemeinen Zugewinn an Sicherheit, die mit einem Rückschrauben militärischer Kapazitäten einherging. Dieser von der Politik hinsichtlich erwarteter Kosteneinsparungen freudig begrüßte Trend fand seinen Ausdruck unter anderem in der Zurückdrängung der klassischen Wehrpflichtigenarmeen zugunsten unterschiedlicher Berufsheermodelle. Während sich im neutralen Österreich die Bevölkerung dennoch mehrheitlich für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht ausgesprochen hat, wurde diese in der Bundesrepublik Deutschland nicht zuletzt aus Gründen der Wehrgerechtigkeit (die Einziehung aller tauglichen Wehrpflichtigen war in Ermangelung hinreichender Ausbildungskapazitäten nicht zu gewährleisten) ausgesetzt; die zu erwartenden Probleme bei der Rekrutierung entsprechend qualifizierten Personals im erforderlichen Umfang folgten auf dem Fuß. Dies ist jedoch nur ein Aspekt der Misere, mit der laut dem Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Regensburg und langgedienten Offizier der Reserve, Martin Sebaldt, die deutsche Bundeswehr derzeit zu kämpfen hat. Die Widrigkeiten würden vielmehr das gesamte System als solches betreffen und seien im Wesentlichen als insgesamt sechs „Kardinalprobleme“ anzusprechen, die, so der Verfasser, in die „bedrückende Gesamtdiagnose“ münden, „dass die Bundeswehr aufgrund fehlender Aufwuchspotentiale, einer nicht nachhaltigen Personallage, ihrer zunehmenden Distanz von der Gesellschaft, einer immer bedrohlicher werdenden Ausstattungsmisere, rapide veraltender Organisationsstrukturen und nicht zuletzt wegen strategisch-konzeptioneller Blindstellen ihrem derzeitigen Aufgabenportfolio nicht gerecht werden kann“ (S. 139). Während die Zeitschrift „Der Spiegel“ 1962 noch mit Bezug auf die Bundeswehr „Bedingt abwehrbereit“ getitelt und damit eine breite Diskussion angestoßen habe, sei das „Weißbuch“ 2016 der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr nicht nur angeblich „das schlechteste Verteidigungsweißbuch seit langem“, sondern darüber hinaus von der Öffentlichkeit kaum rezipiert worden, obschon es mit seinem Mangel an substantiellen Inhalten gleichsam in einem „Offenbarungseid“ den worst case bestätige: „Deutschland ist nicht abwehrbereit. Die Bundeswehr kann den Auftrag des Grundgesetzes zur Verteidigung unseres Landes nicht erfüllen, und sie wird auch den Ansprüchen unserer westlichen Bündnispartner nicht mehr gerecht“ (S. 11f.). So umfasse „(d)as gesamte deutsche Heer heute für die Kernaufgaben im Gefecht lediglich vier Artillerie- und sechs Panzerbataillone sowie rund zwei Dutzend Jäger- und Panzergrenadierverbände“, womit es, an den üblichen Einsatznormen gemessen, gerade einmal „Teile des Bayerischen Waldes zumindest zeitweise halten (könnte), aber mangels einsatzfähiger Reserven […] nicht dauerhaft“ (S. 25).
Martin Sebaldts Mängelrüge geriert sich bewusst nicht als trockene, rein wissenschaftliche Abhandlung, sondern will als unbequeme Mahnung dienen und im Dienst der Sache die politisch Verantwortlichen durch einen bisweilen ironischen Tonfall aufrütteln. Die Truppe selbst sei außen vor, denn sie leiste „unter teils üblen Rahmenbedingungen ihr Möglichstes“ und habe es „verdient, dass ihr gefährlicher Dienst am Vaterland wenigstens in der Zukunft sinnvoll geplant ist“ (S. 10). Deshalb sei eine umfassende Reform der Streitkräfte überfällig, die sich vorrangig der folgenden sechs „Kardinalprobleme“ anzunehmen habe: 1. Die Bundeswehr verbleibt ohne effektive Reserven; 2. Die Bundeswehr verliert ihr personelles Potential; 3. Die Bundeswehr verschwindet aus der Gesellschaft; 4. Die Bundeswehr verliert ihre materielle Effektivität; 5. Die Bundeswehr verharrt in starren Strukturen; 6. Die Bundeswehr vernachlässigt ihre Strategie. Der Verfasser behandelt die einzelnen Punkte jeweils in einem dreistufigen Prozess. Zunächst wird das jeweilige Problem phänomenologisch konkret in seinen Grundzügen dargelegt, im Anschluss daran werden die betreffenden – in aller Regel als unbefriedigend wahrgenommenen – Passagen aus dem „Weißbuch“ angeführt und bewertet. Im dritten Schritt führt Martin Sebaldt aus, welche Maßnahmen aus seiner Sicht geboten, zielführend und unter den gegebenen Rahmenbedingungen auch realistisch umsetzbar wären. Von den Teilstreitkräften steht dabei vorwiegend das Heer im Fokus.
Betreffend das Fehlen effektiver Reserven konstatiert der Verfasser, dass den drei zukünftigen Großverbänden des deutschen Heeres („Division Schnelle Kräfte“ - DSK, 1. und 10. Panzerdivision) nicht nur wesentliche Komponenten zum eigenständigen Führen des Gefechts der verbundenen Waffen genommen worden seien (so sind alle unterstellten Brigaden ohne ein eigenes Artilleriebataillon), sondern zudem „wegen völlig unzureichender Reservestrukturen (ein organisatorischer Aufwuchs auf Einsatzstärke […] unmöglich)“ sei (S. 28). Die Lösung liege hier, neben der angemessenen Adaptierung der Großverbände, im flächendeckenden Ausbau der Territorialorganisation (Heimatschutz) auf bis zu 400.000 Mann und ihrer Verschränkung mit den aktiven Teilen: „Diese Verbände träten dann also zu den rund 100.000 Mann des […] verstärkten aktiven Heeres hinzu. Gut 500.000 Soldaten insgesamt wären dann auch eine Einsatzstärke, mit der sich das Aufgabenportfolio der Bundeswehr im Frieden und im Verteidigungsfall, im nationalen Einsatz und im Rahmen der Bündnisse gut bewältigen ließe“ (S. 36). Das Kadergerüst der Heimatschutzbataillone sei durch Berufssoldaten und Zeitsoldaten zu stellen, das Gros des Personals über ein flexibles, mit einer fortdauernden zivilen Beschäftigung zu vereinbarendes Verpflichtungs- und Dienstmodell aufzubringen, wie es in ähnlicher Art schon für das Technische Hilfswerk (THW) bestehe. Dabei sei vor allem die „zwar rechtlich derzeit nicht bestehende, aber moralisch gebotene Bürgerpflicht wieder deutlich stärker in den Vordergrund“ zu rücken (S. 58). Der Verfasser hat „keinen Zweifel, dass ein derartiges Wehrdienstprofil […] genügend Bürgerinnen und Bürger mobilisieren würde“, ja, „dass es am Ende so viele sein werden, um Posten mehrfach zu verplanen“ (S. 61). Die flächendeckende Präsenz dieser breit aufgestellten und zahlenmäßig starken Heimatschutzorganisation würde die demokratiepolitisch so bedeutsame tiefgreifende Verankerung der Bundeswehr in der Bevölkerung gewährleisten, ihre defensive Ausrichtung vom Ausland nicht als Bedrohung eingestuft und die völkerrechtlich auferlegten Obergrenzen für die aktive Truppe in Friedenszeiten – laut Zwei-plus-Vier-Vertrag 370.000 Soldaten – würden „nicht einmal annähernd erreicht“ werden (S. 76).
Auf dem Materialsektor kritisiert Martin Sebaldt veraltete, logistisch durch Typenvielfalt schwer handhabbare und zu komplexe Systeme. „Anwenderfreundlichkeit“ müsse bei der Beschaffung im Zentrum der Überlegungen stehen, dem „Digitalisierungs- und Vernetzungswahn“ insofern entgegengewirkt werden, dass bei der bekannten Störanfälligkeit digitaler Technologie jederzeit die Erfüllung des Auftrags auch auf analogem Weg gesichert bleibe (S. 92). Nicht mehr den Anforderungen der Zeit entsprechend sei überdies die Fortschreibung der „klassische(n) teilstreitkraftbasierte(n) Gliederung der Bundeswehr“ (S. 98). Teilstreitkraftübergreifende „Joint Operations“ seien international längst die Regel und verlangten nach einer entsprechenden Organisationsstruktur. Der Verfasser schlägt hier bei Beibehaltung der klassischen Teilstreitkräfte (Heer, Luftwaffe, Marine) eine variable Matrixstruktur unter Schaffung spezieller, im Einsatzfall zu bildender „Fähigkeitskommandos“ vor, die dann bedarfsorientiert entsprechende Kontingente bei den Teilstreitkräften abrufen; in Zeiten ohne Einsatz würden weiterhin die Teilstreitkräfte die Aufgaben der Rekrutierung, der Ausbildung und der Truppenführung wahrnehmen. Die Erarbeitung einer zeitgemäßen, an den aktuellen Bedrohungsszenarien orientierten Streitkräftedoktrin wiederum verlange vor allem militärwissenschaftliche Grundlagenarbeit, wofür „in Deutschland allerdings erst die nötigen Kapazitäten geschaffen werden“ müssten (S. 136).
Ohne Zweifel bedürfen die vom Verfasser aufgezeigten Schwachstellen der grundlegenden Bearbeitung; es handelt sich um gravierende Probleme, die von der politischen Opposition und mit dem Amtsantritt Donald Trumps auch vom amerikanischen Bündnispartner in vielen Bereichen bereits eindringlich moniert worden sind. Was die vorgeschlagenen Lösungen betrifft, so fällt ihr vielfach rückwärtsgewandter Charakter auf, der auch mit der militärischen Sozialisation des 1961 geborenen Autors während des Kalten Krieges in Zusammenhang stehen könnte. Seine Heimatschutz-Konzeption weist starke Parallelen zum Milizsystem des Österreichischen Bundesheeres auf, das auf diese Weise in den 1980er-Jahren das kräfteintensive Konzept der Raumverteidigung umgesetzt hat. Die auch für die Ausbildung zuständigen aktiven Landwehrstammregimenter waren damals jeweils mobilmachungsverantwortlich für mehrere Milizbataillone, die im Zweijahresrhythmus als Volltruppe zu Übungen herangezogen wurden. Bei der materiellen Ausstattung dieser Reservistenverbände wurde auf „Miliztauglichkeit“ geachtet, was bedeutete, dass die sichere Bedienung von Waffen und Gerät auch bei kurzfristiger Auffrischung der Ausbildung gewährleistet sein musste, wodurch allzu komplexe Systeme ausschieden. Der vorgesehene Aufstellungs- und Einsatzraum der Milizsoldaten befand sich nach Möglichkeit im Nahbereich ihrer Wohnorte; auf diese Weise waren die sogenannten Milizgemeinschaften regional gut vernetzt und die Streitkräfte insgesamt in der Bevölkerung breit integriert. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde dann auch in Österreich das Gros der Milizverbände aufgelöst oder umgegliedert.
Es bleibt also die Frage, ob, was für die damaligen Verhältnisse in Österreich maßgeschneidert war, in gleicher Weise den Anforderungen gerecht wird, mit denen heute die deutsche Bundeswehr in einem ganz anderen Umfeld konfrontiert ist; dies ist schon wegen der zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung des militärischen Handwerks eher zu bezweifeln. Vor allem aber beruhte und beruht Österreichs Milizsystem zentral auf der allgemeinen Wehrpflicht, die den kontinuierlichen Zufluss an geeignetem Personal sicherstellt und deren Reaktivierung in Deutschland Martin Sebaldt mit Recht als sehr unwahrscheinlich einschätzt. Der Rezensent kann den großen Optimismus der Prognosen des Verfassers, was das freiwillige Engagement der Deutschen im Heimatschutz angeht, nicht teilen und hält den von ihm angeführten Umfang der Personalgewinnung wegen des offenkundigen Fehlens entsprechend attraktiver Rahmenbedingungen für nicht realistisch. Auch der Gedanke, den „ungedienten Freiwilligen […] eine etwa vierwöchige Grundausbildung“ zu geben, und zwar „nicht am Stück, sondern in Wochen bzw. […] in noch kleinere Zeittranchen gestückelt“, wobei überdies „nicht nur die üblichen infanteristischen Grundkenntnisse, sondern auch die für den Heimatschutz nötigen (vermittelt)“ werden sollen (S. 60f.), mag zwar den zivilen Bedürfnissen der männlichen und weiblichen Interessenten durchaus entgegenkommen, erscheint aber aus dem Blickwinkel langjähriger militärischer Führungserfahrung als wenig effizient.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Verfasser ein weiteres Kardinalproblem nicht in seine Betrachtung einbezogen hat, von dem alle anderen aber direkt betroffen sind. Es handelt sich dabei um den Bereich der Budgetierung, wo auf die Folgen langjähriger chronischer Unterfinanzierung ebenso einzugehen wäre wie auf Strukturfragen (etwa das Verhältnis von fix gebundenen Mitteln zum frei verfügbaren Investitionsvolumen). Eine seriöse Auseinandersetzung mit diesem sensiblen Bereich würde allerdings nach profunder ökonomischer Expertise verlangen, weshalb man dem Verfasser das Weglassen derartiger Erörterungen, ebenso wie seine Konzentration auf das Heer und die inhaltliche Vernachlässigung der anderen Teilstreitkräfte, nicht unbedingt ankreiden sollte. Vielmehr darf man ihm insgesamt zugutehalten, dass er sich nicht nur darauf beschränkt, Kritik zu üben, sondern darüber hinaus mit konstruktiven Vorschlägen diskussionswürdige Alternativen anbietet.
Kapfenberg Werner Augustinovic