Schäffer, Johannes, Justizfähigkeit von Individualrechten
Schäffer, Johannes, Justizfähigkeit von Individualrechten. Eine historische und auch systematische Untersuchung zur juristischen Maßstabsbildung (= Bielefelder Studien zur Geschichte des Verfassungsrecht 2). Nomos, Baden-Baden 2017, 711 S. Besprochen von Werner Schubert.
Mit seinem Werk – einer Bielefelder Dissertation unter Michael Kotulla – untersucht Schäffer die Geschichte der Individualrechte unter dem Topos des juristischen Maßstabs „im Lichte von Zielkonflikt und Letztentscheidung“ (S. 31). Nach einem einführenden Abschnitt (S. 23-33) befasst sich Schäffer zunächst mit „Verständnis und Systembildung“ (S. 35-74). Ziel der Arbeit ist es, „mögliche Individualrechtsverletzungen im Spiegel der Entscheidungsausgestaltung zu untersuchen, wobei nicht das Ergebnis einer Entscheidung, sondern der juristische Maßstab derselben im Fokus steht“. Dabei geht es Schäffer „um den Zugang zu qualitativ unterschiedlichen Entscheidungsmaßstäben“. Die Antworten hierauf haben nach Schäffer „nicht allein historisch-analytischen Charakter, sondern wirken systembildend“ (S. 31). Grundprämisse der Untersuchungen war, „dass dem Einzelnen überhaupt eine im Detail wie auch immer gefasste Individualrechtssphäre zukommt“ (S. 40). Hierauf beruhen die von Schäffer untersuchten „vier Eckpunkte“: „Individualrechtssphäre, mögliche Rechtsverletzung, Entscheidungsorganisation im Allgemeinen, konkrete Ausgestaltung der Entscheidung“ (S. 40). Dabei ging es um einen „Zielkonflikt zwischen Verwaltung und Justiz im funktionalen Gewaltenverhältnis“ (S. 43). S. 78-84 kennzeichnet Schäffer den Stand der Forschung, aus dem sich ergibt, dass eine „umfassende rechtshistorische Studie“, verbunden mit den von Schäffer herausgearbeiteten systematischen Ansprüchen, bisher noch nicht geschrieben worden sei (vgl. S. 31).
Im zweiten Teil geht es um die Justizfähigkeit von Individualrechten im späten Alten Reich (S. 75-203). „Theoretisch“ habe es im Alten Reich einen sehr weitgehenden Rechtsschutz der Untertanen gegenüber den Landesherren gegeben (S. 199 unter Hinweis auf Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, 1962), soweit er die „natürliche Freiheit“ und wohlerworbene Rechte (iura quaesita) betraf. Im Einzelnen schildert Schäffer auch die konkrete Verfahrensausgestaltung vor dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat.
Der dritte Teil: „Das Ende einer Ära – Verstaatlichung privater Justiz und Erosion individueller Berechtigung (S. 205-277) betrifft den Übergang vom Alten Reich bis zur Revolution von 1848. Der staatliche Justizanspruch „erstarkte“ allgemein, während parallel die „Individualrechtssphäre des Reiches bis zur Jahrhundertmitte zerfiel“ (S. 277). Die Grundrechte – so Schäffer, seien nicht in der Lage gewesen, „die wesentliche Funktion der ‚alten‘ Individualrechtssphäre, namentlich dem Gesetzgeber Schranke zu sein“ zu substituieren (S. 277). Die Patrimonialgerichtsbarkeit wurde 1848/1850 aufgehoben (S. 299ff.).
Im vierten Teil ist die „Systemfrage zwischen 1806 und Jahrhundertmitte in den Händen der Einzelstaaten“ (S. 279-436) Gegenstand der weiteren Untersuchungen. In Altpreußen erreichte die Justizfähigkeit von Individualrechten in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts einen Tiefpunkt (S. 361). Parallel hierzu werden untersucht die Errichtung eines Gerichtshofes zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten im Jahre 1847 und die Entwicklungen im Rheinland. In den süddeutschen Staaten kam es nur in Württemberg im Gegensatz zu Baden und Bayern zu einer „systemgerechten“, d. h. „merklich folgerichtigen Ausprägung der Administrativjustiz“ (S. 423). Das französische Modell dieser Justiz hätte etwas eingehender beschrieben werden sollen. Justizstaaten waren in dieser Zeit Sachsen, Kurhessen und Braunschweig (S. 425ff.).
Im fünften Teil: „Im Frühstadium von öffentlichem Recht, subjektiven Rechten und Verwaltungsgerichtsbarkeit“ (S. 437-541) geht es um die Etablierung von Oberverwaltungsgerichten und die Herausarbeitung des subjektiv-öffentlichen Rechts. Eine wichtige Rolle spielten das Enumerationsprinzip für die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit und das Ermessen, das „zumeist als negativ zu verstehende Grenzbestimmung“ fungierte (S. 540). Herausgearbeitet wird die herausragende Rolle Gerbers (Über öffentliche Rechte, 1852) und Walter Jellineks (System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892) für die Etablierung des subjektiv-öffentlichen Rechts (S. 447ff.). Im Einzelnen werden von Schäffer untersucht die Entwicklungen in Baden, Bayern, Württemberg und Preußen (S. 464 ff.). Von Interesse wäre noch ein detaillierteres Eingehen auf die Entwicklung in Österreich gewesen.
Mit der Folgeentwicklung beschäftigt sich Schäffer im sechsten Teil: „Potential, Vernichtung und Katharsis (Systeme in den Jahren 1918-1945“ (S. 543-581). In der Weimarer Zeit kam es „trotz der freiheitsfreundlichen Ausgestaltung“ der Grundrechte in der Verfassung zu keiner „veritablen Systementscheidung für den Individualrechtsschutz“ (S. 548f.). Mit Recht gibt Schäffer zu bedenken, dass der Weimarer Republik die Zeit für eine „grundsätzliche Erneuerung“ gefehlt habe (S. 552f.). Die neuen umfassenden Verwaltungsgerichtsbarkeiten in Hamburg und Bremen zeigen, „dass einerseits das subjektiv-öffentliche Recht sowie andererseits die Grenze zwischen Rechtsbegriff und Ermessen jeweils an Schärfe gewannen“ (S. 568). – Für die nationalsozialistische Zeit spricht Schäffer von einem „System-Kollaps“ (S. 568ff.). Die Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichte wurden stark beschnitten durch eine Verordnung vom 28. 8. 1939, welche die Letztentscheidungen grundsätzlich in die Hände der Verwaltung legte: „An die Stelle der Anfechtung einer Verfügung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren tritt die Anfechtung im Beschwerdewege bei der vorgesetzten Behörde oder der Aufsichtsbehörde“. Die Beschwerdebehörde konnte „im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung oder die besonderen Umstände des Einzelfalles statt der Beschwerde das verwaltungsgerichtliche Verfahren zulassen“ (RGBl. I 1939, S. 1535, 1536, IV. Abs. 2).
Im siebten Teil: „Zur Justizfähigkeit von Individualrechten nach 1945, insbesondere im und unter dem Grundgesetz“ (S. 583-681; S. 587ff. zum Recht und Rechtsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik) analysiert Schäffer zunächst die zur Justizfähigkeit von Individualrechten unter dem Grundgesetz entwickelten Rechtspositionen und arbeitet anschließend „Grundlagen einer Neukonzeption der Justizfähigkeit von Individualrechten“ heraus (S. 647ff.). Hierzu stellt er abschließend fest, es bleibe der „Rechtsbegriff“: „Nicht Spielraum oder Ermessen. Es bleiben Methodik und Zielkonflikt. Und es bleibt jene daraus resultierende, dem juristischen Maßstab immanente Grenzziehung innerhalb von Rechtsbegriffen: die Unmöglichkeit rechtlicher Determination“ (S. 681). Ein konkretes Beispiel für die Vorteile dieser Neukonzeption wäre hilfreich gewesen.
Insgesamt liegt mit dem Werk Johannes Schäffers eine bedeutsame Studie zur Geschichte des Schutzes von Individualrechten vor, die einen wichtigen Teil der Geschichte des Verfassungsrechts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit behandelt.
Kiel
Werner Schubert