Huber, Florian, Hinter den Türen warten die Gespenster
Huber, Florian, Hinter den Türen warten die Gespenster. Das deutsche Familiendrama der Nachkriegszeit. Berlin/Piper, München 2017. 348 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Mit „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945“ (2016) ist dem Journalisten und promovierten Historiker Florian Huber bereits ein Bestseller gelungen. Das aufwühlende Thema des Suizids, die Ansprache der „kleinen Leute“ im Titel, vor allem aber Art und Komposition der Darstellung durch Verschränkung des allgemeinen historischen Geschehens mit individuellen, konkret fassbaren Schicksalen zeichneten für den breiten Erfolg des Buches verantwortlich. Somit liegt es nahe, das bewährte Konzept anhand eines weiteren Themas neuerlich zu realisieren. Florian Hubers jüngste Publikation wirft nun Schlaglichter auf die vom Erlebnis der Diktatur, des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen gezeichnete und deformierte deutsche Familie der Nachkriegsjahrzehnte mit ihren bis in die Enkelgeneration fortwirkenden Verwerfungen.
Erste Parallelitäten sind bereits in der Titelstruktur manifest: Auch der aktuelle Band beginnt mit einem emotionsgeladenen Bild, den hinter den Türen wartenden Gespenstern. Der zentrale Bedeutungsträger ist nunmehr der nachfolgende Begriff der Familie, plakativ ausgeweitet zum „Familiendrama“. Dessen Identifikationspotential übertrifft noch jenes der „kleinen Leute“, denn jeder Mensch ist, unabhängig von seiner sozialen Stellung, in irgendeiner Form Angehöriger einer Familie, deren Wurzeln in die Vergangenheit zurückreichen. Somit kann sich auch jeder Mensch hierzulande die Frage stellen, inwieweit die Epoche der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges nach 1945 Spuren in seiner eigenen Familie hinterlassen hat. Dass dies nicht unwahrscheinlich ist, zeigt der Verfasser an einer Reihe einzelner Familienschicksale auf, die er auf der Grundlage von Ego-Dokumenten erhoben hat, in episodischer Form kontrastierend erzählt und in zeittypische Kontexte stellt. Die Akteure des Geschehens sind Männer, Frauen und Kinder, die einander in vielfältiger Weise und aus vielerlei Gründen fremd geworden sind und für die sich der Sehnsuchtsort Familie oft genug als Illusion erweist. Enttäuschungen, der ambivalente Stellenwert des Systems Familie in einem gesellschaftlichen Umfeld des Beschweigens und Verdrängens der Vergangenheit, die wechselseitigen Rückwirkungen und die eruptive Entladung der Spannungen etwa in Gestalt von Jugendkrawallen seien kennzeichnend für die 1950er-Jahre und hätten die in ihnen sozialisierte Generation unweigerlich geprägt. Denn, so ist zu lesen: „Es war die Ära der Familiengeheimnisse. Die Welt hinter den Haustüren war nicht jener Ruhepol, von dem alle in Deutschland, von Heimkehrer und Hausfrau bis zum Familienminister, träumten. […] Die Konstruktion vom ‚normalen Leben‘ und dem Glück durch Langeweile blieb eine Wunschvorstellung. Hinter den Türen saßen Männer mit namenlosen Erinnerungen, Frauen, die sich verleugneten, und Kinder, die dem Treiben der Erwachsenen zusahen, sich zu Komplizen machten oder dagegen aufbegehrten. […] Es ist eine banale Feststellung, dass die Familien den Kern der Gesellschaft bilden. Dieser Kern hatte viele Schattierungen, von schäbiggrau bis grellrot und tiefschwarz. In den darin verborgenen Schichten herrschten Leidenschaften, Sehnsucht oder eisige Kälte. Sie führten zu Erwartungen und Illusionen, Identitätswechseln, Ersatzpartnerschaften, Doppelleben und Parallelfamilien“ (S. 12f.).
Seine konkreten Inhalte schöpft Florian Huber aus drei Gruppen von Quellen, die auch im zusammenfassenden Verzeichnis jeweils für sich stehen. Neben der dritten, nicht näher erklärungsbedürftigen Kategorie „Weiterführende Literatur“ umfasst ein erster Satz an Dokumenten zeitgenössische Berichte – am bekanntesten darunter wohl Hannah Arendts „Besuch in Deutschland“ (1950) und Helmut Schelskys „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ (1955) – und Tagebücher aus den Beständen des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen. Davon unterschieden werden nachträgliche Erinnerungen und Familiengeschichten. Viele der unter dieser Rubrik verzeichneten Titel hat der Verfasser mit kurzen Regesten versehen, welche die Bedeutung des jeweiligen Textes und die Biographien der Protagonisten knapp erläutern. Über Alexandra Senffts Buch „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“ (2007) erfährt der Leser hier etwa: „Alexandra Senfft ist die Tochter von Heinrich Senfft und Erika Ludin. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren Erla und Hanns Ludin, der als NS-Kriegsverbrecher hingerichtet wurde. In ihrer Familiengeschichte stützt sich Senfft u. a. auf den lebenslangen Briefwechsel zwischen ihrer Mutter Erika und Großmutter Erla“ (S. 337).
Das generationenübergreifende Beispiel der Familie dieses nicht unbekannten nationalsozialistischen Spitzenbeamten – Hanns Elard Ludin war als Gesandter des Deutschen Reiches in der Slowakei 1941 bis 1945 auch für Judendeportationen verantwortlich gewesen, war dort 1947 in einem Prozess schuldig gesprochen und durch den Strang hingerichtet worden – mag im Folgenden die Konstruktionsprinzipien des Gesamttextes exemplarisch veranschaulichen. In Kapitel 1 „Zerrissene Welt“ wird unter anderem erzählt, wie für Hanns Ludin nach einem Diplomatenleben im Wohlstand mit der deutschen Niederlage, seinem Gerichtsverfahren und dem Todesurteil „(d)as Spiel zu Ende (geht)“ (Titel des betreffenden Unterabschnittes), die Familie hatte mit der Vollstreckung des Spruches „ihren Mittelpunkt verloren“. Ludins Lieblingstochter Erika bleibt „(e)ine Tugendpredigt als väterliches Vermächtnis“, der Witwe Erla ein Abschiedsbrief mit der Einräumung von Irrtümern, „die deutsche Schicksalsformel gegen die eigene Verantwortung“ (S. 24f.). Kapitel 3 „Die Welt der Frauen“, Unterkapitel „Haus ohne Mann“, greift die Familiengeschichte der Ludins erneut auf: Auf einem schwäbischen Einödhof kniet sich Erla Ludin, abgestiegen „von der Diplomatengattin zur verwitweten Bäuerin mit sechs Kindern“, nun ganz in die Arbeit, „um die Familie durchzubringen“, und „tat alles, um ihre Familie vor Anfeindungen zu schützen“. Sie habe ihr Leben lang an der „Legende vom Vater, der stets das Gute wollte und von der Vernichtung der slowakischen Juden in seinem Machtbereich nichts gewusst habe“, gewoben und sich als „Kriegerwitwe“ verstanden, deren Mann – ungeachtet des wahren Sachverhalts – „auf dem Schlachtfeld gefallen“ sei: „Das Böse sollte in der Familie Ludin keinen Platz haben“ (S. 76ff.). Das folgende Unterkapitel „Mutterkinder“ berichtet über die von diesen Lebenslügen beeinflusste, eigenwillige Beziehung der Tochter Erika zu ihrer Mutter Erla, erst als „Sorgenkind“, sodann als „Ratgeberin, Kritikerin und Provokateurin, […] Tochterkind und Männerersatz“; in ihrem Umgang miteinander „wechselten Vertrauen und Vorwürfe ohne Übergang. […] Dieses Kind war mit dem Tod des Vaters mit einem Mal erwachsen geworden, ohne seine Kindheit abgeschlossen zu haben. Was dieser Mann für sie beide bedeutete, sein Leben und sein Tod, darüber sprachen sie miteinander nicht“ (S. 87f.). An späterer Stelle (Kapitel 7 „Die Welt der Kinder“, Unterkapitel „Auf der Suche nach dem Vater“) wird Erikas weiterer Lebensweg aufgegriffen, ihre Bemühungen, aus Fotos und Briefen und im Kontakt mit „alten Kameraden“ ihres Vaters Antworten zu finden, ihr Umzug nach Hamburg, ihre gescheiterte Ehe. „Gemessen am Moralkatalog ihres Vaters, den dieser aus der Haft […] für sie geschrieben hatte, scheiterte sie in nahezu allen Punkten.“ Die „Symbiose“ mit ihrer Mutter „endete erst, als Erla Ludin im Mai 1997 mit 91 Jahren starb. Über den Vater und Ehemann hatten sie nie gesprochen. Ein Jahr später starb […] Erika“ (S. 211); wie man im Abschlusskapitel 9 „Die Kisten der Pandora“ erfährt, „stürzte sie in eine Badewanne mit kochend heißem Wasser“ (S. 312). Erst ihrer Tochter Alexandra gelingt es jetzt, sich aus dem Bann zu lösen und sich anhand materieller Relikte der befreienden Auseinandersetzung mit den Schatten der Vergangenheit zu stellen: „Die Kiste im Keller […] wurde leichter, je tiefer sie hineingriff. Die Legenden […] fielen ab und gaben die Sicht frei auf Menschen mit Fehlern, Irrtümern und Verdiensten. Darüber musste die Liebe für sie nicht sterben“ (S. 314).
Die so kaleidoskopisch präsentierte Geschichte der Familie Ludin ist nur eine unter vielen, die in ähnlicher Strukturierung jeweils für sich stehen, dennoch aber durch die spezielle Konstellation längerfristig gestörter Familienbeziehungen in Folge des Fortwirkens aus der Vergangenheit herrührender Belastungen verbunden sind. Für ein stabiles Gerüst der Narration sorgen die Darstellungen des gesellschaftspolitischen Zeithintergrundes, wie die Ausführungen zur rechtlichen Aushebelung der Entnazifizierung (Ergänzungsgesetz zum Grundgesetzartikel 131 aus 1951, das „Minderbelasteten“ der Kategorie III wieder den Zugang zur Beamtenlaufbahn und die Geltendmachung von Versorgungsansprüchen eröffnete) in der Ära Adenauer (S. 108ff.) oder zur restriktiven Handhabung des Bundesversorgungsgesetzes in Bezug auf die Ansprüche von „Dystrophikern“ nach Vorgabe der damals herrschenden psychiatrischen Lehre, wonach die menschliche Seele grenzenlos belastbar und folglich psychischen Beschwerden ohne physisch fundierte Diagnose der Charakter einer Erkrankung abzusprechen sei (S. 136ff.). Diese Folien sind unverzichtbar, um die auf die individuellen Schicksale einwirkenden Kräfte identifizieren und allgemeine Ableitungen treffen zu können. Folgerichtig stellt auch die den Zeitraum von 1945 bis 1969 erfassende gemischte Zeittafel (S. 339ff.) immer wieder neben relevante Daten der allgemeinen historischen Entwicklung Eckdaten aus den Schicksalen der im Buch behandelten Familien. Florian Huber nennt im Vorwort den deutschen Familienkosmos nach 1945 „eine historisch einzigartige ‚Versuchsanordnung‘“, in ihm liege „der Schlüssel zum Verständnis einer Epoche und der Menschen, die darin aufeinandertrafen“ (S. 13). Obwohl viele der von ihm dargestellten Konfliktfelder unabhängig von der zeitlichen Positionierung dem familiären Kontext als systemimmanent zuzurechnen sind, kann er glaubhaft vermitteln, dass sie durch die spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit vielfach angestoßen und verstärkt worden sind.
Kapfenberg Werner Augustinovic