Kleinknecht, Otto, Im Sturm der Zeiten

– Aus den Erinnerungen eines württembergischen Staatsanwalts 1929 bis 1949, hg. v. Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit Elser, Walter J. Verlag regionalkultur. Ubstadt-Weiher 2016. 482 S. Besprochen von Werner Schubert.

Kleinknecht, Otto, Im Sturm der Zeiten – Aus den Erinnerungen eines württembergischen Staatsanwalts 1929 bis 1949, hg. v. Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit Elser, Walter J. Verlag regionalkultur. Ubstadt-Weiher 2016. 482 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Otto Kleinknecht (1901-1983), von 1930-1945 als Staatsanwalt in Stuttgart tätig, hat anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen eine 2000 eng beschriebene DIN-A-4-Seiten umfassende „Lebensbeschreibung“ niedergeschrieben und diese dem damaligen Stuttgarter Pfarrer und Dekan Walter J. Elser überlassen. Dieser fasste die historisch relevanten Teile zusammen, die für die Jahre 1929 bis 1949 vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg in „Zusammenarbeit“ mit Elser nunmehr in gedruckter Form vorliegen. Der Band wird eingeleitet von Elser (S. 15-25), der näher auf das „Leben“ Kleinknechts eingeht, und abgeschlossen mit einer historischen Einordnung von Thomas Schnabel, dem Leiter des Stuttgarter Hauses der Geschichte.

 

Kleinknecht war nach dem zweiten juristischen Staatsexamen 1927 in Stuttgart im württembergischen Justizdienst verblieben und nach mehreren Zwischenstationen 1930 zum Staatsanwalt ernannt worden. Ende 1928 konvertierte er zur römisch-katholischen Kirche im Kloster Neresheim. Kleinknecht bezeichnet sich als konservativ und wählte meist das Zentrum, aber auch die Deutschnationalen, deren „protestantisch-preußischer Einschlag“ er kritisierte. 1932 kaufte er sich Hitlers „Mein Kampf“, den er nicht ganz durchlas, weil ihn das Buch „nicht fesselte“. Dass Hitler „jemals in die Lage kommen werde, alles das, was er da proklamierte, wirklich zur Ausführung zu bringen“, hielt er „immer noch für ausgeschlossen“ (S. 91). Schnabel bescheinigt Kleinknecht eine „nicht unkritische Reflexion über die eigene Verstrickung in eine Unrechtsjustiz mit all ihren zeitgebundenen Urteilen“ (S. 10).

 

Auf Veranlassung seiner Braut, die er im August 1933 heiratete, trat er im April 1933 der NSDAP bei, lehnte jedoch bald, wie auch seine Frau, den Nationalsozialismus innerlich ab, ohne jedoch hieraus die Konsequenz zu ziehen, den Staatsdienst zu verlassen. Für die Ämter als Amtswalter und Blockwart war er aufgrund eines ärztlichen Attestes „bis auf weiteres dienstunfähig“ (S. 115). In den „Erinnerungen“ befasst sich Kleinknecht mit den Verhältnissen bei der Staatsanwaltschaft und Richterschaft, aber auch mit Urlaubsreisen und persönlichen Erlebnissen. U. a. geht er auch ein auf den einzigen – unpolitischen – Mordprozess, den er als Staatsanwalt zu bearbeiten hatte (S. 123ff.). Er betraf einen SS-Mann, der in erster Instanz zum Tode verurteilt wurde. Bei der erneuten Verhandlung wurde der Angeklagte nach Aufhebung des Schwurgerichtsurteils – Kleinknecht befand sich zu dieser Zeit im Urlaub – zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt. Während es Kleinknecht noch 1937 gelang, ein Referat beim Sondergericht Stuttgart abzulehnen, wurde ihm etwa im Juni 1941 ein solches Referat zugeteilt, das ein reines Kriegswirtschaftsdezernat war und vor allem Schwarzschlachtungen betraf. Dieses Dezernat konnte er nicht abwenden, es war ihm aber „auch nicht unerwünscht“, da „durch den Einsatz bei der Anklagebehörde beim Sondergericht, der als besonders kriegswichtig galt“, seine „UK-Stellung fester zementiert wurde“ (S. 217). In zwei Kriegswirtschaftsstrafsachen und in einer unpolitischen Volksschädlingssache – es handelte sich um ein Sittlichkeitsverbrechen – stellte er auf Anweisung des Reichsjustizministeriums einen Antrag auf Verhängung der Todesstrafe. Ausführlich geht er auf den Sondergerichtsvorsitzenden Hermann Albert Cuhorst (seit 1937) ein, der bereits 1930 in die NSDAP eingetreten und 1934 zum Senatspräsidenten an dem Oberlandesgericht Stuttgart ernannt worden war (vgl. S. 211f., 246ff., auch Schnabel, S. 437ff., 456ff.). Da Cuhorst in Heimtückeverfahren sich oft „mild“ zeigte – das Sondergericht Stuttgart galt als das zweitmildeste im Reich (S. 248) – wurde er im November 1944 aus diesem Grunde seines Amtes enthoben und der Wehrmacht unterstellt. Im Nürnberger Juristenprozess wurde er 1947 freigesprochen, jedoch im Entnazifizierungsverfahren 1948 als „Hauptschuldiger“ eingestuft und zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt.

 

Das Kriegsende erlebte Kleinknecht in Marbach. Als Parteimitglied wurde er alsbald entlassen und im Entnazifizierungsverfahren als „Mitläufer“ eingestuft. Zunächst als juristischer Hilfsarbeiter bei den Staatsanwaltschaften Stuttgart und Heilbronn tätig, wurde er zum 1. 4. 1947 zum Staatsanwalt am Landgericht Heilbronn ernannt, von dem er im Dezember 1948 als Amtsrichter (1951 Oberamtsrichter) an das Amtsgericht Marburg wechselte. Das Werk wird abgeschlossen mit einem Überblick über die „Lebensdaten“ Kleinknechts und einem Orts- und Personenregister. Ein Sachregister wäre hilfreich gewesen, zumal das Inhaltsverzeichnis wenig aussagekräftig ist. Mit dem Werk Kleinknechts liegt erstmals eine begrenzt selbstkritische Auseinandersetzung eines Staatsanwalts mit seiner Tätigkeit unter dem Nationalsozialismus vor. Es gibt insbesondere einen Einblick in das „Denken und Handeln“ Kleinknechts während des Nationalsozialismus und „spart dabei die eigenen Schwächen“ nicht aus. Es gibt einen Einblick in die „Möglichkeiten und Grenzen der Staatsdiener im Dritten Reich“, weit über den Justizbereich hinaus (Schnabel, S. 454). Der Vorzug der „Erinnerungen“ Kleinknechts ist darin zu sehen, dass sie wohl im Wesentlichen auf dem zeitgenössischen Wissensstand beruhen, ohne dass die Literatur zur nationalsozialistischen Zeit nachträglich berücksichtigt wurde, und insoweit die Mentalität der Justiz in der NS-Zeit widerspiegeln. Allerdings bedürfen die „Erinnerungen“ aus diesem Grunde auch einer kritischen Lektüre, die durch die Anmerkungen und vor allem durch den Beitrag Schnabels erleichtert wird. Schnabel gibt insbesondere auch einen Einblick in die württembergische Justiz während der nationalsozialistischen Zeit, der allerdings noch hätte detaillierter sein können. Auch die Anmerkungen zu den „Erinnerungen“ dürften nicht immer hinreichend ausführlich sein. Es zu wünschen, dass der angekündigte Band der „Erinnerungen“ für die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Anfänge der Weimarer Zeit und vielleicht noch über weitere Zeitabschnitte (vgl. die Übersicht S. 467) bald erscheint.

 

Kiel

Werner Schubert