Rüthers, Bernd, Geschönte Geschichten

– geschonte Biographien. Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen. Ein Essay. Mohr (Siebeck), Tübingen 2001. XII, 168 S. Besprochen von Wilhelm Wolf. ZRG GA 121 (2004)

Rüthers, Bernd, Geschönte Geschichten – geschonte Biographien. Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen. Ein Essay. Mohr (Siebeck), Tübingen 2001. XII, 168 S.

 

In der Tat: „Wer einen Essay über ,geschönte Geschichten’ und ,geschonte Biographien’ der Geschichtsschreiber unternimmt, kann kaum ein Anwachsen der Zahl seiner Freunde erwarten. Allein das Thema ist geeignet, Kritik und Aggressionen zu wecken.“[1] Der von Rüthers vorgelegte Essay provoziert dies schon mit seinem Titel, impliziert er doch den Vorwurf der Geschichtsfälschung zum Zweck der Exkulpation in aller Deutlichkeit. In der Sache handelt es sich zunächst aber lediglich um die Anregung, sich dem Großprojekt eines epochenübergreifenden Vergleichs der verschiedenen Systemwechsel im Deutschland des 20. Jahrhunderts - ein Desiderat nicht nur der juristischen Zeitgeschichte – anhand der begleitenden Literaturen und Autoren zu nähern. Das Interesse ist damit in erster Linie ein wissenschaftshistorisches, das Ergebnis dieses ersten Zugriffs aber nicht weniger ein hoch politisches.

 

Der Autor strukturiert seinen Versuch, kollektive Entstehungsgründe für zeittypische Literaturen und die Verbindungslinien zwischen den Urhebern darzustellen und zu analysieren, in sechs äußerst kurzweilig zu lesende Kapitel. Die Einführung formuliert die grundlegende These von parallelen oder analogen Strukturen von Autorengruppen in Wendeliteraturen. Sie verschafft weiter eine begriffliche Klarstellung zentraler Kategorien der weiteren Untersuchung, die im wesentlichen der Tatsache geschuldet ist, dass sich der Essay in erster Linie an juristische Leser wendet, denen diese aus der modernen Geschichtswissenschaft und Soziologie herrührenden Begrifflichkeiten eher unbekannt sein dürften. Den Zusammenhang von Sozialisationskohorten und Wendeliteraturen beschreibt Rüthers am Ende dieser Begriffsklärung dahin, dass der grundlegende Wechsel von Wertvorstellungen, ganzen Verfassungen oder politischen Systemen in aller Regel von einem Schub literarischer Beiträge begleitet werde, deren systempolitische Bedeutung und Wirkung über die Einzelbeiträge und ihre jeweiligen Autoren weit hinausgehe. Ihr voller Gehalt werde nur erfasst, wenn sie in ihrer Gesamtheit als Ausdruck eines kollektiven geistigen Trends der Zeit verstanden würden. Es sei daher zu fragen, ob und inwieweit der einzelne Autor mit seinem Beitrag nur als Individuum agiere oder in welchem Umfang er als Vertreter, Instrument und Sprachrohr einer Sozialisationskohorte anzusehen sei.[2] Definiert sieht der Autor die einzelnen Kohorten durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Alters- und Berufsgruppe, durch die Verbundenheit mit einem speziellen akademischen Lehrer, seiner Institutionalisierung und seiner Schule, die positive Grundhaltung zu dem herrschenden Verfassungssystem, die Begeisterung und den Anpassungsdruck in Folge eines Systemwechsels, den Einfluss historischer Erfahrungen, den Umbruch der Staats- und Rechtsordnung und schließlich – insoweit wohl typisch eher für die deutsche Entwicklung – übersteigerte Gemeinschaftsideologien.

 

Die beiden folgenden Kapitel testen die Leistungsfähigkeit der Arbeitsthese am historischen Material. Die Sozialisationsprozesse der NS-Autoren und – deutlich knapper – diejenigen der DDR-Juristen werden untersucht. Die am Ende dieser Kapitel gezogenen Zwischenbilanzen bleiben äußerst zurückhaltend und vorsichtig, für die derzeit wohl doch intensiver erforschte Geschichte der nationalsozialistisch geprägten Rechtswissenschaft beinahe blass und in der Zurückhaltung auch wenig überzeugend: Im ersten Versuch einer solchen Analyse – so resümiert der Autor – werde es kaum gelingen, alle in der jeweiligen Epoche wirksamen Momente zu erfassen und zutreffend zu gewichten. Es könne insoweit nur darum gehen bewusst zu machen, dass Wendeliteraturen in einem bisher wenig beachteten Maße aus Sozialisationsprozessen ihrer Autoren entstünden und das Ergebnis von gruppendynamisch beeinflussten, kollektiven Bewussteinsverlagerungen seien.[3] Hier wissen wir mittlerweile mehr und Genaueres[4]. Das Zwischenergebnis zur Deutschen Demokratischen Republik ist kaum konkreter: Der Auf- und Ausbau der dortigen Staats- und Rechtsordnung und der sie handhabenden Rechtsstäbe sei durch bestimmte Sozialisationsbedingungen und Prägefaktoren ermöglicht, mindestens aber entscheidend gefördert worden. Der Erfolg dieser Bemühungen des SED-Staates sei erwiesen.[5]

 

Im vierten Kapitel werden einige zentrale Vergleichsaspekte zu den Wendeliteraturen nach 1919, 1933, 1945/49 und 1989 beleuchtet. An erster Stelle gerät der Grundsatz- und Methodenstreit nach Systemwechseln ins Visier des Autors. Das Ergebnis der an dem Thema der Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen interessierten Analyse dieser Diskussionen ist für Rüthers ein doppeltes. Zunächst lasse sich die Entwicklung eines literarischen Diskurses über Methodenfragen hin zu einem juristischen Glaubenskrieg finden, der in dieser Form wohl nur unter den Bedingungen totalitärer Weltanschauungsstaaten habe stattfinden können. Dabei sei die Zielsetzung der Protagonisten identisch gewesen: Die rechtspolitischen Absichten des totalitären Regimes sollten möglichst effiziente Umsetzung finden. Das zweite Ergebnis ist mit dem ersten engstens verbunden: die Auslassung dieses Teils der juristischen Wissenschafts(zeit)geschichte in der juristischen und rechtshistorischen literarischen Behandlung durch die Jurisprudenz der jungen Bundesrepublik. An dieser Stelle beschreibt Rüthers den Befund plakativ: Aus den Schreibekohorten vor 1945 seien nach 1945 Schweigekohorten[6] geworden. Das erklärt zunächst noch nichts, liefert aber den Ansatz für den weiterführenden exemplarischen Vergleich mit den Wendeliteraturen nach 1989 auf der Suche nach strukturellen Ähnlichkeiten[7]. Wer aber an einen Systemvergleich zwischen nationalsozialistischem und SED-Staat denkt, der wird sich zumindest im Rahmen der deutschen Diskussion mit dem stereotypen Einwand auseinanderzusetzen haben, Unmögliches leisten zu wollen, da Unvergleichbares eben nicht zu vergleichen sei. Diese Hürde überwindet Rüthers ebenso knapp wie elegant mit dem Hinweis auf die Gesetze der Logik, nach denen das Verdikt der Unvergleichbarkeit ernstlich nur dann erhoben werden könne, wenn tatsächlich bereits verglichen worden sei[8]. Die „unterschiedlichen Ausgangslagen“[9] geraten für den weiteren Vergleich dennoch nicht aus dem Blick. Unter Berücksichtigung und jeweils treffender Beschreibung des „totalen Zusammenbruchs des NS-Staates 1945“, des „spärlichen Elitenwechsels in Westdeutschland und die Schweigephase“, der – allerdings schon hinlänglich bekannten – „peinlichen literarischen Wendemanöver“ und der nicht minder peinlichen „Normalitätsthese“ findet Rüthers für die Nachwendeliteraten zwei Typen. Die einen seien bestrebt gewesen, ihre Rolle in der NS-Zeit zum heimlichen Widerstand zu erheben, die anderen verdrängten ihre Vergangenheit, blieben eine mehr oder minder lange Zeit stumm, schlossen sich später der Normalitätsthese an und legten sodann eifrige Bekenntnisse zur freiheitlich demokratischen Grundordnung ab.[10] Die Ausgangslage für Wendeliteraturen am Ende der DDR ist eine offensichtlich andere. Noch am Ende des SED-Systems habe die Hoffnung unter den Intellektuellen der DDR vorgeherrscht, die Existenz eines deutschen Teilstaates, dem demokratischen Sozialismus verpflichtet, zu erreichen, den „Geist des Humanismus“ weiterzutragen[11].

 

Dennoch findet Rüthers „Ähnlichkeiten der Strukturen und Argumentationsmuster in Nachwendeliteraturen“[12]. Die fällige Grundsatzdiskussion über Recht und Staat, die verschiedenen Varianten von Defensivstrategien, für die DDR-Juristen der Antifaschismus als Verteidigungs-, Rechtfertigungs- und Tarnargument, für die Juristen der NS-Zeit der Mythos vom heimlichen Widerstand, und schließlich die Normalitätsthese, die für das nationalsozialistische Recht als längstens widerlegt gelten kann, dem Autor für das DDR-Recht jedoch noch einen überprüfenden, fragenden und aufklärenden Unterabschnitt wert ist, beschreiben tatsächlich strukturelle Ähnlichkeiten der sie beherrschenden literarischen Beiträge.

 

Rüthers geraten indes die offensichtlichen Unterschiede nicht aus den Augen. Diese sieht er im wesentlichen bedingt durch die völlig unterschiedlichen äußeren politischen, wirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen Bedingungen der Systemwechsel etwa 1945/1949 einerseits und 1989/1990 andererseits.

 

Das abschließende Kapitel enthält Hinweise auf eine noch lange nicht bewältigte Materialfülle, die dazu einlädt, den Spuren von Wendeliteraturen und Sozialisationskohorten nachzugehen und das Wissen um Zusammenhänge offenzulegen, das die literarischen Protagonisten jener Umbrüche nicht selten mit ins Grab zu nehmen hofften. Es regt ferner dazu an, auch vermeintlich nur aktuell motivierte Debatten unter der Perspektive der Konkurrenz verschiedener Sozialisationskohorten zu analysieren. So aufschlussreich, konzise und in der Darstellung ebenso souverän wie deutlich die entsprechende Analyse des Historikerstreits[13] sein mag, darf man sich doch fragen, ob sich in der ureigenen Disziplin des Verfassers nicht zahlreiche Debatten hätten finden lassen, die ähnlich Bemerkenswertes, mindestens aber die Offenlegung entsprechender Kohorten, zu Tage gefördert hätten. Nicht nur das Arbeitsrecht der Bundesrepublik, sondern auch weite Bereiche des Schuldrechts, etwa die Diskussion um die Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen, Entstehen und Anerkennung faktischer Vertragsverhältnisse, zentraler Bereiche des Verbraucherschutzrechts und nicht zuletzt die Methodendiskussion lieferten reichlich Material. Vielleicht liegt die Antwort auf diese Frage in einer zentralen Feststellung des Emeritus, die auch für die heutige Juristengeneration noch zutreffen dürfte: Wenn nämlich nachgewiesen werde, dass bestimmte juristische Denkfiguren oder Argumentationsmuster, etwa „konkrete Ordnungen“, „Wesensargumente“, Parallelen zwischen Ehe und Arbeitsverhältnis, unter Verzicht auf den Quellennachweis aus der NS-Zeit übernommen würden, so werde darüber nicht in der Sache argumentiert, sondern die Autoren der Nachweise würden persönlich diffamiert[14]. Dass der Autor mit diesem Problem selbst konfrontiert sein könnte, ist ihm überdeutlich, er stellt dem die Unbekümmertheit und Freiheit des Alters entgegen und macht mit seinem Essay vernünftigem Gebrauch von beidem.

 

Rüthers bedient sich für sein Thema eines Ansatzes der Historiographie, der die der Sozialisation einer Generation eigenen Prägungen, Vorverständnisse und Wertvorstellungen als Ursachen geschichtlicher Prozesse vermutet und untersucht. In den Vordergrund treten kollektiv prägende Lebensumstände als bestimmende Faktoren des Handelns und Denkens der Protagonisten der unterschiedlichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Disziplinen. Das begründet die Erwartung strukturell ähnlicher Verhaltensweisen, Haltungen und Überzeugungen etwa der Gruppe der Juristen jenseits individueller Ausprägungen und Abweichungen wenn auch nicht im verfassungsrechtlichen Detail, so doch zumindest gegenüber den einschneidenden tiefgreifenden verfassungspolitischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Die in diesem Sinne gleich Konditionierten bilden die Sozialisationskohorten.

 

Entscheidende Faktoren für die Bildung derartiger Kohorten sollen sein: die Zugehörigkeit zu einer Alters- und Berufsgruppe, das Ausbildungssystem und seine spezielle institutionelle Kultur sowie die Ausbildung von wissenschaftlichen Schulen, gemeinsam erfahrene lebensprägende Ereignisse (Weltkrieg und Niederlage, Revolution, politischer System- und Weltanschauungswechsel, Wirtschafts-, Sozial- und Währungskatastrophen), die Ausbildung gemeinsamer Empfindungen, Einstellungen, Urteilsmaßstäbe und Verhaltensmuster, Sehnsucht nach und Hoffnung auf eine ,ganz neue, bessere’ Staats- und Gesellschaftsordnung und schließlich erhoffte günstigere Lebens- und Berufschancen.

 

Die Plausibilität und das auf die großen historischen Zusammenhänge gerichtete Erklärungspotential sind die Stärken dieses Ansatzes. Haben nicht tatsächlich die Protagonisten der Rechtswissenschaft der Weimarer Republik, des Dritten Reichs, der jungen Bundesrepublik und der DDR ähnliche Sozialisationen erfahren, sich eben in annähernd identischen Anpassungstechniken an die jeweils herrschenden politischen Verhältnisse geübt?

 

Die Antwort scheint offensichtlich: Die Lebenssituation des jungen Larenz zum Zeitpunkt der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten etwa scheint sich von der des jungen Wieacker hinsichtlich ihrer beruflichen Situation kaum unterschieden zu haben. Larenz, selbst Sohn eines hohen Richters, so Rüthers, habe über Jahre hin als Privatdozent in Göttingen neben seinem Lehrer J. Binder ein bescheidenes, fast elendes Dasein gefristet, obgleich er eine vierköpfige Familie zu ernähren gehabt habe. Mit der Machtergreifung Hitlers hätten sich ihm plötzlich ganz neue Perspektiven eröffnet. Denn nach langer Wartezeit habe ihn der ersehnte Ruf auf ein Ordinariat in Kiel erreicht.[15] Wieacker musste sich länger gedulden, obwohl auch er, wie sein Schüler Behrends berichtet, als junger ehrgeiziger Dozent habe zusehen müssen, dass er seine Berufungschancen verbesserte. Dies sei ihm am Ende auch gelungen, als er dann endlich den Ruf an die konservative Leipziger Juristenfakultät auf den Lehrstuhl von Ludwig Mitteis erhalten habe.[16] Die prägenden Faktoren für das Entstehen von Sozialisationskohorten, nämlich mindestens die Zugehörigkeit zu einer Alters- und Berufsgruppe und die erhofften günstigeren Lebens- und Berufschancen wären danach gleichzeitig mitursächlich für die Haltung beider Gelehrter zum Nationalsozialismus. Das wird für diese beiden Einzelfälle kaum zu bestreiten oder gar zu widerlegen sein. Vielmehr besteht sogar in beiden Fällen die Vermutung, dass die zufällige Gemeinsamkeit verbindender Lebensumstände zu einer bewussten Gruppenbildung und zur Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls führte, das die Denk- und Handlungsweisen für eine gewisse Zeit vereinheitlichte. Dafür spricht etwa der Bericht Wieackers über das Kitzeberger Lager, in dem er eine „kämpfende Arbeitsgemeinschaft der teilnehmenden jungen Rechtslehrer“ erreicht sah.[17]

 

Bei genauerem Hinsehen aber kommen Zweifel auf. Wie fügen sich Zeitgenossen, die den Nationalsozialismus in Amt und Würden erlebt und mit mancher Publikation begleitet haben, die später geflissentlich in den Fest- und Denkschriften unterschlagen wurde, wie Carl Schmitt, K. A. Eckhardt, H. C. Nipperdey, H. Stoll, W. Kisch, Boehmer, Hedemann, Lehmann, H. Lange und der Lehrer Larenz´ selbst, Julius Binder, in die Kohorte ein? Die Antwort fällt einigermaßen ernüchternd aus: Bis auf die Tatsache einer übereinstimmenden Profession und des Erlebens der großen Verfassungsumbrüche wird sich signifikant Verbindendes kaum finden lassen. Das erstaunt aber nur denjenigen, der die Vielfalt der im Nationalsozialismus in verschiedensten Funktionen und Institutionen agierenden Rechtswissenschaftler, ihrer Lebensläufe und wissenschaftlichen Profile, die bis jetzt nur sehr vereinzelt mit rechtshistorischem Interesse aufgearbeitet sind, entweder ignoriert oder sie zum Zwecke der legitimen Abstraktion oder der weniger legitimen Produktion holzschnittartiger Geschichtsbilder reduziert hat[18]. Je feiner die soziologischen Raster dieses Ansatzes werden, desto mehr werden die Kohorten zu Manipeln[19]. Das spricht nicht grundsätzlich gegen den Versuch, historische Abläufe aus den Prägungen der agierenden Generation zu verstehen, ist es doch gleichsam das Schicksal jedes historischen Interesses, zu einer immer differenzierteren Betrachtung des eigenen Gegenstandes zu gelangen. Die Differenzierung aber zeigt, dass überindividuelle bzw. kollektive Prägungen nur sehr beschränkt individuelles Verhalten in einer spezifischen historischen Situation zu erklären vermögen und sehr schnell wieder die Ebene der Einzelanalyse – etwa auf der methodischen Grundlage der Werkbiographie – erreicht ist.

 

Tatsächlich hat die jüngere rechtshistorische Forschung bereits längst die Suche nach empfindlicheren Rastern aufgenommen, die eine präzisere Beschreibung der verschiedenen Sozialisationen der rechtswissenschaftlichen Akteure und der sie prävalent prägenden Faktoren erlauben könnten. Alt bekannt und nur wenig weiterführend jedoch ist insoweit die Kategorisierung „Kieler Schule“ und „Schmittianer“. Sie erfasst nur einen geringen Teil der Protagonisten und ist wohl für den größten Teil der Privatrechtslehrer gänzlich unpassend. Die Unterscheidung zwischen „neugermanischem Führungsnachwuchs“ und „konservativer Führungselite“[20] ist politisch betrachtet ergiebig und lenkt die Aufmerksamkeit auf eine bisher vergleichsweise wenig beachtete Gruppe junger höchstqualifizierter Juristen, die ihre berufliche Entwicklung aber nicht in der Wissenschaft nahmen, sondern als Ministerialbeamte oder Parteifunktionäre ihre Karrieren schmiedeten. Unter den Privatrechtslehrern zeigt die Gruppe der Akademiejuristen und unter diesen die Elite der Ausschussvorsitzenden in ihrer Haltung zum Kodifikationsgedanken und zur juristischen Methode übereinstimmende Merkmale einer spezifischen Sozialisation: Gemeinsam ist den Ausschussvorsitzenden wie Hedemann, Nipperdey, Boehmer, H. Lehmann, Felgentraeger, Schmidt-Rimpler und H. Lange trotz aller Unterschiede in Alter, Herkunft, Ausbildung und Intensität politischer Betätigung die in ihrer Akademiearbeit vor allem zur Schaffung eines neuen „Volksgesetzbuches“ zu Tage tretende und dokumentierte Überzeugung, die Rechtserneuerung auf dem Gebiet des Privatrechts im Wege der kodifikatorischen Gesetzgebung bewältigen zu können. Ursache hierfür könnte eine juristische und methodologische Ausbildung sein, die hinsichtlich der Normtechnik, der Sprache des Gesetzes, seiner Systematik, seiner Gegenstände und seiner Grundbegriffe dem BGB und den Lehren seiner Schöpfer verpflichtet war.[21]

 

Auch einen geschichtstheoretischen Einwand wird man dem Essay nicht ersparen können. Der von Rüthers verfolgte Ansatz impliziert die Annahme, dass die Aktivitäten der wissenschaftlichen Protagonisten entscheidend bedingt sind durch die Umstände ihrer jeweiligen Umwelt. Jenseits der Frage, ob solche Kausalitäten bestehen, ist diese dem Strukturalismus verpflichtete Sichtweise darauf angelegt, die historische Bewertung der individuellen Handlungen in den Grundzügen festzuschreiben, bevor die eigentliche Analyse stattgefunden hat: Die Frage nach den äußeren Bedingungen und Prägungen bestimmten Verhaltens lässt die individuelle Verantwortung für das eigene Tun in den Hintergrund treten. Wer strukturalistisch fragt und argumentiert, der muss damit rechnen und beabsichtigt dies mitunter sogar, dass am Ende der Untersuchung das Individuum entlastet und die „Schuld“ kollektiviert ist.[22] Der einzelne hat sich dann eben nur mit den übermächtigen Verhältnissen – meist als kleiner Teil einer Gruppe - arrangiert. Man kann es selbstverständlich auch pathetischer und dramatischer fassen und etwa mit H. Mommsen über den „faustischen Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime“ publizieren statt von der politischen Willfährigkeit der einzelnen Ostforscher zu sprechen. Dieser Problematik ist Rüthers sich im Einzelfall durchaus bewusst. Völlig zu Recht und in bewundernswerter Deutlichkeit kritisiert er diesen historisch und soziologisch absichtsvollen Euphemismus[23] Mommsens, seine von ihm selbst gewählte Untersuchungsmethode aber birgt – zumindest theoretisch – die Gefahr ähnlich problematischer Würdigungen, die sich vielleicht schon realisiert haben könnte, wenn man die familiäre und wirtschaftliche Situation Larenz als – mehr oder weniger zwingende – Erklärung für die in seinen Publikationen in der Anfangsphase des Nationalsozialismus zu Tage tretenden politischen Wertungen einführt.

 

Jenseits dieser Einwände kommt dem Essay jedoch das nicht hoch genug zu veranschlagende Verdienst zu, nicht nur auf eine Literaturgattung hingewiesen zu haben, von der man annehmen darf, dass sie die deutsche Jurisprudenz des 20. Jahrhunderts und mit ihr das gesamte vermeintlich moderne deutsche Rechtsdenken maßgebend geprägt hat, sondern deren fundamentale Wirkungen und Gefahren für die eigene Disziplin zumindest angedeutet zu haben. Die juristischen Wendeliteraturen erschöpfen sich eben nicht in der „Verdrängung, Verschweigung und Verschönerung des Geschehenen“[24], sondern wirken weiter. Sie bilden nicht selten die Voraussetzung und die Grundlegung für die Kontinuität juristischer Begriffsbildungen und dogmatischer Modelle. Die Lehre von den faktischen Vertragsverhältnissen, der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, der Pflichtbindung des Erblassers, des Vertrages als Organismus mit größerer Richtigkeitsgewähr, die Lehre von der Geschäftsgrundlage und – von Rüthers selbst exemplifiziert – die Betriebsgemeinschaftslehre im Arbeitsrecht bedurften zu ihrer fortgesetzten Verwendbarkeit in der modernen Zivilistik nicht nur der personalen Exkulpation ihrer Schöpfer und Verkünder, sondern der formalen Entkoppelung von der nationalsozialistischen Ideologie und gleichzeitig der Kompatibiltätserklärung mit dem Rechtsstaat des Grundgesetzes. Das gelang nicht selten nahezu zu perfekt, um vergessen werden zu dürfen. Die genannten Dogmen und ihre Kohorten wirkten lange nach den Umbrüchen fort, bildeten Generationen von Juristen aus, die die jeweiligen Begrifflichkeiten als geronnenes juristisches Wissen aufnahmen und operationalisierten. Das „nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis“ im Nachbarrecht, die „Betriebsgemeinschaft“ im Arbeitsrecht und der „Schutzgedanke“ im Verbraucherrecht prägen auch heute noch die Diskussionen, ohne dass der jeweilige Ursprung bewusst wäre.

 

Grundsätzlicher wirft der Essay die Frage auf, inwieweit weite Bereiche der sozialwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Literatur auch heute von Sozialisationskohorten beherrscht werden, die zwar nicht mehr durch für Verfassungsumbrüche typische Umweltbedingungen konditioniert werden, sondern durch andere Einflüsse mehr der political correctness als der Wahrheit verpflichtet sind.

 

Der Essay von Rüthers ist im besten Sinne des Wortes grundlegend. Er sollte zur Pflichtlektüre für alle Juristen werden; für die jungen zur Warnung und Vorsicht, für die älteren zur Selbsterkenntnis.

 

Laubach                                                                                  Wilhelm Wolf

[1] Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, Tübingen 2001, S. 161

[2] Rüthers, Anm. 1, S. 21.

[3] Rüthers, Anm. 1, S. 57.

[4] Sehr beeindruckend hat die von Rüthers vermuteten Wirkungszusammenhänge etwa für Carl Schmitt schon die Arbeit von A. Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reichs“, Darmstadt 1995 untersucht. Für Heinrich Lange siehe W. Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht. Das Konzept der normgestützten Kollektivierung in den zivilrechtlichen Arbeiten Heinrich Langes (1900-1977), (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 21), Tübingen 1998.

[5] Rüthers, Anm. 1, S. 71.

[6] Rüthers, Anm. 1, S. 85.

[7] Rüthers, Anm. 1, S. 86.

[8] Rüthers, Anm. 1, S. 87.

[9] Rüthers, Anm. 1, S. 90-102.

[10] Rüthers, Anm. 1, S. 98.

[11] Rüthers, Anm. 1, S. 101f.

[12] Rüthers, Anm. 1, S. 107-146.

[13] Rüthers, Anm. 1, S. 150-156.

[14] Rüthers, Anm. 1, S. 154.

[15] Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, Tübingen 2001, S. 4.

[16] Behrends, Franz Wieacker 5.8.1908 – 17.2.1994, SZRom 112 (1995), S. XIII – LXII, XXV.

[17] Wieacker, DRW I (1936), S. 74.

[18] Dass Rüthers dieser Gefahr erliegen könnte ist indes nicht zu erwarten. Er weiß um die Problematik, wie sich aus seiner Schrift Entartetes Recht, Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2. A., 1989, S. 19, ergibt. Dort räumt er bereits ein, dass seiner epochalen Habilitationsschrift die Vorstellung einer gleichsam monolithischen Zivilistik und Methodik zugrundegelegen habe.

[19] Einst die Unterabteilung der römischen Kohorte.

[20] Grundlegend insoweit A. Koenen, Anm. 4.

[21] Hierzu W.Wolf, Anm. 4, S. 350-352.

[22] Zum Strukturalismus in der Geschichtstheorie: K. Acham, Zu einigen unverändert aktuellen Problemen der Theorie der Geschichtswissenschaft, in: G. Wunberg, D. A. Binder (Hrsg.), Pluralität: eine interdisziplinäre Annäherung; FS für Moritz Csáky, Köln 1996, S. 9ff., 14ff.

[23] Rüthers, Anm. 1, S. 152.

[24] Rüthers, Anm. 1, S. 148.