Huber, Florian, Kind, versprich mir, dass du dich erschießt
Huber, Florian, Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. Piper, München 2016. 303 S., 9 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Obwohl die Dauer der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland gerade einmal zwölfeinhalb Jahre betrug, vermochte dieses System die Menschen in vielerlei Art so stark zu vereinnahmen, dass mit dessen Zusammenbruch und dem Ableben Adolf Hitlers für manche das Ende der Welt gekommen schien. Nicht nur die schwer belasteten Spitzen wie Hitler selbst, Goebbels, Himmler (auf der Flucht erkannt) oder Göring (nach der Verkündung des Nürnberger Urteils) suchten ihr Heil im Tod von eigener Hand. Gefühle von Angst, Sinnverlust, Selbstmitleid und Schuld trieben eine nicht geringe Anzahl deutscher Bürger – „kleine Leute“ – in die Selbsttötung. Manchenorts, wie in der von 15.000 Einwohnern und einigen Tausend Flüchtlingen belegten Kleinstadt Demmin in Vorpommern, hat dieses Verhalten epidemische Züge angenommen. Wohl mehr als 900 von ihnen legten Hand an sich oder wurden Opfer ihrer Familienangehörigen im Zuge erweiterter Suizide.
Doch abstrakte Zahlen sind nur eine Seite der Medaille, sie werden aufgenommen, mit Erstaunen, vielleicht auch mit Erschrecken registriert, um doch bald wieder im Nebel des Vergessens unterzugehen. Erst die Betrachtung der individuellen Schicksale erzeugt Bilder und empathische Anteilnahme und ist zugleich die Voraussetzung für ein tieferes Verständnis der dem allgemeinen Phänomen zugrunde liegenden Mechanismen. Dessen ist sich auch der 1967 in Nürnberg geborene Florian Huber bewusst, promovierter Historiker und als Dokumentarfilmer journalistisch erfahren. Seine höchst erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Selbstmordwelle von 1945 – das Buch erschien 70 Jahre nach dem Kriegsende 2015 im Berlin-Verlag der Piper Verlagsgesellschaft, wurde wegen des großen Publikumsinteresses bald auch als Paperback aufgelegt und mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzt – präsentiert sich als historische Reportage mit mentalitätsanalytischem Anspruch. Der Verfasser erzählt wie eine laufend die Einstellung wechselnde Kamera weitgehend unpathetisch Episoden aus dem Leben seiner Protagonisten, wobei sich deren Emotionen im Erleben ihres je eigenen persönlichen Mikrokosmos in ihrer Gesamtheit gleichsam zu einem allgemeinen Geist jener Zeit verweben. Diese Miniaturen wechseln im harten Schnitt ab mit Passagen, die, ebenso stets sinnlich und bildhaft, den großen historischen Kontext synchron oder in Rückblenden eintragen und so Sinnzusammenhänge und Kausalitäten implizit aufzeigen. Filmische Techniken leiten die Narration und erzeugen den attraktiven Sog, in den der Leser unweigerlich gezogen wird.
Im ersten Teil des Buches steht die kollektive Psychose des Massensuizids von Demmin zwischen dem 28. April und dem 3. Mai 1945 im Fokus, wo, während sich Adolf Hitler in Berlin das Leben nahm, sich der Einmarsch der Roten Armee vollzog. „Demmin ist überall“, verkündet der zweite Teil und thematisiert ähnliche Vorkommnisse vorwiegend, aber nicht ausschließlich im Osten des Deutschen Reiches (aus unterschiedlichen Gründen war wohl die Furcht der Bevölkerung vor der Sowjetarmee weitaus größer als vor den Westalliierten, obwohl es auch in deren Zuständigkeitsbereichen zu verbrecherischen Übergriffen kam). Für den Verfasser ist die „Selbstmordepidemie, die in Wellen von Ost nach West durch das verglühende Reich gerollt war, […] eine Antwort auf den emotionalen Untergang gewesen, (e)ine radikale Antwort, in der Deutsche die ihnen alltäglich gewordene Gewalt gegen sich selbst wendeten […,] der extreme Ausdruck einer Sinnleere und eines Schmerzes, in den sich die Menschen angesichts von Irrtum, Niederlage, Demütigung, Verlust, Scham, persönlichem Leid und Vergewaltigung geworfen sahen“ (S. 253f.). Teil drei „Im Taumel der Gefühle“ illustriert von der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 bis zum Untergang 1945, wie Deutsche, ob bereitwillig oder zunächst widerstrebend, der gewaltaffinen Dynamik Hitlers und des nationalsozialistischen Regimes erlagen und – oft mit ambivalenten Gefühlen – auf Gedeih und Verderb ihr persönliches Schicksal mit ihnen verknüpften. Damit manövrierten sie sich oder gerieten endlich in „das Paradox des deutschen Durchhaltewillens: Je schlechter die Kriegslage, umso grausamer die Exekutionen, umso mörderischer das Vernichtungsprogramm, umso größer die Angst in Deutschland – und umso dringender der Wunsch, dass der Krieg um keinen Preis verloren gehen durfte. ‚Man hörte häufig sagen: Wenn Deutschland verliert, werden alle Deutschen umgebracht.‘ Genährt aus den untergründigen Gefühlen von Schuld, Scham und Verstrickung, angereichert um den lange geschürten Hass auf die Feinde, führte die Furcht vor der Niederlage zu einer letzten großen Leugnung der Wirklichkeit: dass eben diese Niederlage nicht mehr abzuwenden war“ (S. 237). Aber auch die, welche im Angesicht der Niederlage nicht Hand an sich zu legen vermochten, seien weiter Gefangene ihrer Erfahrungen geblieben und hätten sich allzu selten ihrer Verantwortung gestellt, sondern im „Sog des Schweigens“ – so der vierte und letzte Abschnitt der Darstellung – lieber eine Opferrolle kultiviert: „Die Volksgemeinschaft mochte noch im Untergehen in ihre Millionen Einzelglieder zerfallen sein, doch sie blieb nicht ohne Erbe. Aus dem gemeinsamen Hungern und Frieren wuchs eine neue Leidensgemeinschaft, aus dem Gefühl von Verratensein, Unrecht und Ohnmacht eine Opfergemeinschaft, im Wiederaufbau eine Interessengemeinschaft“. Die für 1945 eingeführte „Metapher von der ‚Stunde null‘“ sei besonders nützlich gewesen, „einen Teil der Wirklichkeit abzuspalten“, indem sie die Verbindung zur „übermächtigen Vergangenheit“ kappte und zugleich „den Neubeginn einer Gesellschaft [verkündete], die in der Katharsis des Untergangs alle Rechnungen beglichen hatte“ (S. 273). Hier sei auch die Erinnerung an die Selbstmordepidemie „(wie) die anderen Geschichten vom massenweisen Sterben […] der vereinbarten Kultur des Beschweigens“ unterlegen (S. 278) und trotz der Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seit den 1960er-Jahren, abgesehen von wenigen lokalen Initiativen, nicht wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt.
Tatsächlich sind aber viele Faktoren, die für die Selbstmordwelle 1945 verantwortlich zeichnen, von der Forschung keineswegs unbemerkt geblieben. Dies gilt insbesondere für den Konnex zwischen den deutschen Verbrechen im Verlauf des Vernichtungskriegs im Osten, dem von der nationalsozialistischen Propaganda gezeichneten Bild des sowjetischen Feinds und seiner Vergeltung, mit der man sich mit dem Zusammenbrechen der Ostfront real konfrontiert sah. Im Zusammenhang mit den aus politischen Rücksichten lange tabuisierten, massiven sexuellen Übergriffen von Soldaten der Roten Armee auf Frauen der Besiegten sind vielfach Selbsttötungen im Nachgang, aber auch bereits im Vorfeld der Vergewaltigungen beschrieben worden. Die nationalsozialistische Propaganda über den sowjetischen „Untermenschen“ bestätigte sich für diese Frauen und all jene, die davon erfuhren, durch reales Geschehen, Ängste steigerten sich ins Irrationale und förderten autodestruktive Verhaltensweisen. Auch der vorliegende Band berichtet über den Zeitpunkt, an dem Propaganda und Realität erstmalig ineinander fielen: Am 23. Oktober 1944 stießen Soldaten der Wehrmacht bei der Rückeroberung von Nemmersdorf in Ostpreußen auf ein Massaker der Roten Armee, das der nationalsozialistische Propagandaapparat in drastischen Bildstrecken als „Grauen von Nemmersdorf“ ausschlachtete, um damit den Durchhaltewillen anzustacheln; tatsächlich versetzte er damit „die Zivilbevölkerung in einen Zustand haltloser Furcht“. Diese war in der Folge durchaus begründet, denn „(b)ei ihrem Vormarsch begingen die vom Krieg verhärteten, von der eigenen Propaganda aufgepeitschten und vom Alkohol enthemmten Rotarmisten massenweise Verbrechen. Besonders die deutschen Frauen und Mädchen, von ganz jung bis ganz alt, waren entsetzlichen Misshandlungen und regelrechten Vergewaltigungsorgien ausgesetzt. Bis zu zwei Millionen Frauen, so die Schätzungen, wurden von den Rotarmisten in der gesamten Endphase des Krieges vergewaltigt“. So traf „(d)ie Wucht der Vergeltung für die Verbrechen des deutschen Vernichtungskrieges diejenigen, die nicht schnell genug davongekommen waren“ (S. 40f.). Genau in dieser Lage sahen sich auch die Einwohner Demmins: Von den eigenen Soldaten im Stich gelassen und mit abgeschnittenen Fluchtwegen nach Westen, saßen sie hoffnungslos „alle in der Falle“ (S. 22), viele schritten daraufhin zur letzten Konsequenz. Besonders tragisch gestaltete sich das Schicksal zahlreicher Kinder, das hier, stellvertretend für die grausigen Einzelheiten des Dramas von Demmin, zitiert sei: „Wie die Erwachsenen endeten auch sie erschossen, ertränkt, erhängt, vergiftet, verblutet. Doch bis auf wenige knapp volljährige Jugendliche, die sich selbst töten konnten, waren es ihre Mütter und Väter, manchmal ihre Großeltern oder andere Verwandte, die ihnen den Strick um den Hals legten, ihnen das Gift in den Mund schoben und die Handgelenke aufschlitzten. Sie mussten mitunter große Kräfte aufbieten, um ihre Babys und Schulkinder mit sich zu schleifen und so lange unter Wasser zu drücken, bis sie keinen Widerstand mehr spürten“ (S. 66). Dem weithin bekannten Ende von Propagandaminister Joseph Goebbels und seiner vielköpfigen Familie kommt somit keine Alleinstellung zu.
In Anbetracht des zweifellos traumatischen Charakters dieses nun über sieben Jahrzehnte zurückliegenden Geschehens erscheint es nicht abwegig zu vermuten, dass die heute vielleicht noch lebenden, betagten Angehörigen der Opfer – ähnlich wie jene der unzähligen gefallenen Soldaten – wenig Veranlassung sehen, diese schwer zu heilenden Wunden durch eine öffentliche Zurschaustellung wieder aufzureißen. Für ein „bis heute währendes Tabu“ (Umschlagtext Rückseite), ein gesellschaftlich gewolltes, bewusstes Beschweigen der Suizide, wie es der Verfasser nahelegt und wie es für viele Verbrechen der NS-Herrschaft einst opportun war, spricht hingegen wenig, da sich kein überzeugendes Motiv ausmachen lässt. Die Stärke der vorliegenden Darstellung liegt in der unmittelbaren Vermittlung der geschilderten, in Tagebüchern, Briefen, Berichten, Erinnerungen und Erzählungen dokumentierten Schicksale, mit der sie Betroffenheit erzeugt, und der nachvollziehbaren Darlegung individueller Motivketten, die in der schrittweisen Auslieferung an die Verlockungen eines totalitären Regimes wurzeln und in einer tiefen Verstrickung enden, die im Angesicht der Niederlage und des damit einhergehenden, gefühlten Nihilismus die (erweiterte) Selbsttötung als einzige Option zuzulassen schien. Zugleich ist zu betonen, dass in diesem Akt der Auslieferung Subjekt und Objekt zusammenfallen, indem der sich dem System Andienende Teil des Systems wird und damit für dessen Output automatisch (Teil-)Verantwortung trägt. Die von den Alliierten propagierte „Befreiung“ vom Nationalsozialismus konnte unter diesem Gesichtspunkt von der Masse der deutschen Bevölkerung auch über 1945 hinaus nicht wirklich als eine solche wahrgenommen werden, erst Jahrzehnte später brach sich ein entsprechendes Verständnis allgemein Bahn. Weitet man die historische Perspektive, bieten sich Strukturvergleiche der Tragödie von Demmin mit ähnlich gelagerten Vorgängen an, etwa mit dem Verhalten der japanischen Soldaten und Zivilisten im Zuge der Schlacht um Saipan 1944 oder – um ein Beispiel aus der Antike zu bemühen – der Einwohner Masadas in Judäa bei der römischen Belagerung 73 n. Chr.
Kapfenberg Werner Augustinovic