Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne,
SchildtKommunikation20000908 Nr. 10139 ZRG 118 (2001)
Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. v. Rösener, Werner (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000. 412 S.
Der hier anzuzeigende Sammelband reflektiert die Ergebnisse des vom „Arbeitskreis für Agrargeschichte“ im März 1997 in Göttingen durchgeführten internationalen Kolloquiums zum Thema „ Formen der Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne“. Die auf der Göttinger Tagung gehaltenen Vorträge werden in zum Teil stark erweiterter Fassung abgedruckt und durch einige weitere Beiträge ergänzt. Als Klammer zur Wahrung wissenschaftlicher Kohärenz waren den Vortragenden/Autoren drei thematische Schwerpunkte vorgegeben; sie betrafen erstens das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der ländlichen Gesellschaft, zweitens die Kommunikations- und Verkehrsbedingungen im ländlichen Raum vom Mittelalter bis zur Moderne und drittens schließlich die Zusammenhänge zwischen ländlichen und städtischen Kommunikationsräumen. Zeitlich umfassen die Beiträge das Mittelalter, die frühe Neuzeit und die neueste Zeit, wobei der zuletzt genannte Zeitabschnitt im wesentlichen ausgangs des 19. Jahrhunderts endet.
Ein ausführliche, womöglich noch kritische Besprechung der insgesamt zwölf Sachbeiträge im einzelnen verbietet sich schon aufgrund ihrer thematischen Bandbreite und des hier zur Verfügung stehenden Raumes. Einen instruktiven Überblick über Ergebnisse und Probleme bietet die den Sammelband abschließende Übersicht des Herausgebers (S. 399-412).
Die Palette des unterschiedlichen Zugangs zum Tagungsthema ist breit gefächert. Nach einer kurzen Einleitung des Herausgebers, in der in gebotener Kürze der Forschungsstand referiert und die Zielstellung der Tagung skizziert werden, schließt sich der erste Sachbeitrag von Eike Gringmuth-Dallmer, Wege, Mittel und Ebenen der Kommunikation aus der Sicht der Archäologie (S. 21-45), an. Hier zeigt sich gleich am Beginn geradezu beispielhaft der interdisziplinäre Ansatz des Tagungsthemas. Gringmuth-Dallmer legt überzeugend dar, daß der archäologische Zugriff auf Kommunikation immer nur indirekt faßbar wird und insoweit ähnlich wie bei der historischen Geographie nur eingeschränkt Aussagen zur ländlichen Kommunikation getroffen werden können. Insbesondere für die rechtsgeschichtlichen Fragestellungen kann die Archäologie kaum etwas beisteuern.
Werner Rösener, Dinggenossenschaft und Weistümer im Rahmen mittelalterlicher Kommunikationsformen (S. 47-75), untersucht anhand spätmittelalterlicher Weistümer aus dem Gebiet des Oberrheins die Rolle der Dinggenossenschaft als Zentrum ländlicher Kommunikation. Rösener fragt insbesondere nach den Gründen für die seit dem Spätmittelalter zu beobachtende Praxis der Aufzeichnung der zuvor nur mündlich tradierten Weistümer; er führt dies auf einen Wandel innerhalb der Dinggenossenschaft aufgrund wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen im Spätmittelalter zurück, die durch eine Schwerpunktverlagerung vom Fronhof zur dörflichen Gemeinde gekennzeichnet waren. Gezeigt wird ferner, daß der Übergang zur Schriftlichkeit tiefgreifende Auswirkungen auf die Kommunikationsverhältnisse im ländlichen Bereich hatte. Rösener betont den Übergang zur Schriftlichkeit ferner als ein Gestaltungselement des frühmodernen Territorialstaates und zwar im deutlich artikulierten Gegensatz zur tradierten bäuerlichen Rechtskultur der alten Dinggerichtsbarkeit, die eben im wesentlichen eine orale Kommunikationsform gewesen ist.
Der sich anschließende Beitrag von Enno Bünz, „Die Kirche im Dorf lassen ....“. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen (S. 77-167), fällt zunächst durch seinen überdimensionalen Umfang auf. Der Autor analysiert überaus quellennah den Gegensatz zwischen der hierarchisch strukurierten Amtskirche und der eher ursprünglichen Volksfrömmigkeit, als deren jeweilige Vertreter sich Dorfpfarrer und spätmittelalterliche Landgemeinde gegenüber stehen. Bünz sieht in der Dorfpfarrei das Endglied einer langen Kommunikationskette innerhalb der kirchlichen Hierarchie. Der Dorfpfarrer war insoweit einerseits der personelle Endpunkt dieser innerkirchlichen Kommunikationsreihe, andererseits war er aber auch der Sakralgemeinschaft der Dorfgemeinde zugehörig.
Klaus J. Lorenzen-Schmidt fragt in seinem Beitrag: Schriftliche Elemente in der dörflichen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: das Beispiel Schleswig-Holstein (S. 169-187), nach den Erscheinungsformen schriftlicher Kommunikationselemente innerhalb der ländlichen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Entgegen einer (nach seiner Auffassung) weit verbreiteten Wahrnehmung läßt sich die schriftliche Kommunikation in ländlichen Gesellschaften nicht auf Rechtsaufzeichnungen wie Weistümer, Willküren und Dorfordnungen reduzieren. Lorenzen-Schmidt weist demgegenüber nach, daß Schriftlichkeit im ländlichen Bereich in Schleswig-Holstein darüber hinaus auch vier anderen Erfordernissen entsprang: erstens der Notwendigkeit bäuerlich individueller Schreibtätigkeit aufgrund des bäuerlichen Handels, zweitens die herrschaftliche Schriftlichkeit in der Kommunikation mit den Dörfern, insbesondere im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Polizeigesetzgebung, drittens zur Regelung innerdörflicher bzw. innergemeindlicher Streitfragen, wie sie sich geradezu zwangsläufig aus wirtschaftlichen und naturräumlichen Gegebenheiten ergaben und viertens schließlich die Regelung außerdörflicher Streitfragen, also die Regelung strittiger Fragen im Verhältnis zu anderen Gemeinden.
Für den Beitrag von Heinz-Dieter Heimann, Dorfbild – Ereignisbild – Weltbild. Die neue Sicht der „kleinen“ Welt in frühen Kartenwerken (S. 189-208), gilt ähnliches wie für den Eingangsbeitrag von Gringmuth-Dallmer – er vermittelt eher indirekte Einsichten in das Kommunikationssystem ländlicher Gesellschaften.
Werner Troßbach, „Mercks Baur“. Annäherung an die Struktur von Erinnerung und Überlieferung in ländlichen Gesellschaften (vorwiegend zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts), (S. 209-240), analysiert Grundlagen und spezifische Ausdrucksformen bäuerlicher Erinnerungskultur. Dabei wird deutlich, daß die Gedächtnisleistung in hohem Maße von den Interessen der Tradierenden abhängig ist; insoweit wird auch verständlich, weshalb das häufig bis ins 18. Jahrhundert beobachtete Nichtwissen um das eigene Alter nur scheinbar im Gegensatz zur ausgezeichneten Kenntnis derselben Personen über das für sie wirtschaftlich und sozial wichtige Wissen um die dörflichen Flurverhältnisse steht.
Den unterschiedlichen Kommunikationsebenen innerhalb der ländlichen Gesellschaft geht Rudolf Schlögl in seinem Beitrag: Bedingungen dörflicher Kommunikation. Gemeindliche Öffentlichkeit und Visitation im 16. Jahrhundert (S. 241-261), nach. Aus der Identifizierung von Sozialem und Kommunikation schließt der Verfasser konsequent, daß die Frage nach der dörflichen Kommunikation zugleich eine nach der Sozialordnung der Gemeinde beinhaltet.
Einem bisher eher vernachlässigtem Problem wendet sich Renate Blickle in ihrem Beitrag: Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat (S. 263-317), zu. Sie macht die große Bedeutung des Supplikationswesens innerhalb des bayerischen Territorialstaats in der frühen Neuzeit anhand exemplarischer Beispiele deutlich. Der Begriff der Supplikation weist einen überaus breiten Bedeutungsinhalt auf, unter den prinzipiell alles zu fassen ist, was an Initiativen seitens der Untertanen an den Landesherrn herangetragen wurde.
Am Beispiel des ostwestfälischen Raumes thematisiert Reiner Prass, Schriftlichkeit auf dem Land zwischen Stillstand und Dynamik. Strukturelle, konjunkturelle und familiäre Faktoren der Alphabetisierung in Ostwestfalen am Ende des Ancien Régime (S. 319-343), Unterschiede zwischen den einzelnen ostwestfälischen Regionen im Alphabetisierungsgrad und der Signierfähigkeit von Brautpaaren. Er führt dies auf unterschiedliche konfessionelle und schulhistorische Gegebenheiten sowie auf abweichende marktwirtschaftliche Anforderungen zurück.
Einer Umbruchzeit wendet sich Gunter Mahlerwein, Wandlungen dörflicher Kommunikation im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 345-364), zu. An der Nahtstelle von früher Neuzeit und Moderne bildete sich im ländlichen Bereich Rheinhessens aus der alten bäuerlichen Oberschicht eine neue ländliche Elite heraus. In den neuen und erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten des frühen 19. Jahrhunderts wird der entscheidende Impuls zur Etablierung einer regionalen Elite gesehen. Auch für die dörflichen Unterschichten änderten sich mit der Individualisierung agrarischer Produktion kommunikative Gewohnheiten, weil beispielsweise mit der Aufteilung der Allmenden der jahrhundertelang bestehende faktische Zwang zu diesem Umstand Rechnung tragenden entsprechenden Absprachen entfallen war.
Die beiden folgenden und abschließenden Beiträge von Clemens Zimmermann, Kommunikationsmedien in der ländlichen Gesellschaft. Telegraf und Telefon 1850-1930 (S. 365-385), sowie Andreas Gestrich, Ländliche Arbeiterbewegung und Schreibkultur. Das Beispiel Botnang um 1900 (S. 387-398), markieren den zeitlichen Endpunkt der auf der Göttinger Tagung vorgetragenen Überlegungen zur Kommunikation innerhalb ländlicher Gesellschaften.
Zimmermann geht es in seinem Beitrag um die veränderten Kommunikationsbedingungen in der ländlichen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Tatsache, daß Telegraf und Telefon in städtischer und ländlicher Umgebung in ganz unterschiedlicher Intensität genutzt worden sind. Er fragt nach den Ursachen der sehr viel größeren Verbreitung dieser Medieninnovationen im städtischen als im ländlichen Bereich und führt dies zum einem auf den Umstand zurück, daß Telefonnetze in Großstädten effektiver und billiger zu unterhalten waren und ferner für die Ersetzung unmittelbarer oraler Kommunikation durch Einschaltung des Mediums Telefon aufgrund der anders gearteten Verhältnisse auf dem Dorf ein deutlich geringeres Bedürfnis bestand.
Gestrich zeigt am Beispiel des in der Nähe von Stuttgart gelegenen Arbeiterdorfes Botnang zu welchen Veränderungen wachsende Schriftkultur im Kommunikationsverhalten führen konnte. Mit dem Wachsen des Anteils der Arbeiterschaft an der Gesamtbevölkerung während der Industrialisierung etablierte sich in Botnang eine Arbeiterkultur, die geprägt war durch ein breit gefächertes Kultur- und Bildungsprogramm, wobei der Dorfbibliothek als institutionalisierte Voraussetzung von Bildung besondere Bedeutung zukam. Daneben entstand eine von Gestrich so bezeichnete politische Schreibkultur, die die politischen Auseinandersetzungen weg von den Stammtischen in eine breitere Öffentlichkeit hob.
Aufs Ganze gesehen vermittelt der vorgelegte Tagungsband einen instruktiven Überblick über eine Vielzahl unterschiedlicher Kommunikationsprobleme in der ländlichen Gesellschaft, insbesondere des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit.
Bochum Bernd Schildt