Vormbaum, Thomas, Die Schule Franz von Liszts
Die Schule Franz von Liszts. Sozialpräventive Kriminalpolitik und die Entstehung des modernen Strafrechts, hg. v. Koch, Arnd, Löhnig, Martin. Mohr (Siebeck), Tübingen 2016, VI, 247 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.
Hält der Trend an, so ist die „Erste Liga“ der Strafrechtsdenker des 19. und 20. Jahrhunderts bald mit Sammelbänden abgedeckt – nach Paul Anselm Feuerbach und seinem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813[1] und Hans Welzel[2] jetzt also die Schule Franz von Liszts. Dem Vernehmen nach ist in Kürze ein Band über Karl Binding zu erwarten. Verglichen freilich mit dem „Hype“, den der 250. Jahrestag des Erscheinens von Beccarias Buch „Von den Verbrechen und von den Strafen“ in Italien ausgelöst hat, erscheinen diese Aktivitäten moderat. Und bemerkenswert ist auch, dass alle erwähnten Bände ihre Protagonisten durchaus differenziert betrachten und neben den Lichtseiten auch die Schattenseiten – mitunter sogar sehr deutlich – sichtbar werden lassen, während die Referenten der zahlreichen italienischen Beccaria-Tagungen nicht selten ihr Bestreben darin erblicken, den Schild ihres Heroen unbefleckt zu erhalten[3]. Wer also der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft – die auch den Großteil der Autoren der erwähnten Bände stellt – glaubt vorwerfen zu sollen, sie verharre in provinzieller Selbstgenügsamkeit und erhebe zugleich einen Suprematie-Anspruch gegenüber ausländischen Schwesterwissenschaften, hat nicht zuletzt ihre Debattenkultur und Bereitschaft zur Selbstkritik ausgeblendet, die auch in diesen Bänden sichtbar wird.
Die Herausgeber des hier besprochenen Bandes sind auch die Herausgeber – wenn nicht die einzigen, aber doch wohl die maßgeblichen – des Bandes über Feuerbachs Strafgesetzbuch von 1813. Sie haben in beiden Fällen dem Haupttitel einen Untertitel hinzugefügt. Und wie im damaligen Fall[4] wirft auch im jetzigen Fall der Untertitel Fragen auf – zunächst eine Frage, die aus dem Vergleich der beiden Untertitel hervorgeht. Wurde nämlich Feuerbach und seinem Gesetzbuch die „Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts“ zugerechnet, so wird im Untertitel des aktuellen Bandes die „Entstehung des modernen Strafrechts“ mit der sozialpräventiven Kriminalpolitik Franz v. Liszts und seiner Schule in Beziehung gesetzt. Das Geburtsrecht für das moderne Strafrecht zwei Autoren, zwischen denen immerhin ein knappes Jahrhundert liegt, zuzusprechen, kollidiert auf den ersten Blick mit dem Satz vom Widerspruch. (Ein Hinweis auf den Unterschied zwischen „Geburt“ und „Entstehung“ würde nicht weiterhelfen, denn die „Entstehung“ liegt ja vor der Geburt).
Sind also die Herausgeber in der Zwischenzeit zu anderer, evtl. besserer Einsicht gelangt, was die Erstlingsrechte am modernen Strafrecht angeht? Ich glaube eher, dass man ihnen zubilligen muss, sich insoweit in einem Dilemma befunden zu haben. Es gibt ja jeweils mehr oder weniger gute Gründe[5], einen der beiden Kriminalisten als Schöpfer des modernen Strafrechts zu titulieren – jedenfalls gilt dies für die deutsche Entwicklung[6]. Dies hängt nicht nur von den Personen, sondern auch von dem zugrunde gelegten Epochenverständnis ab. Ich selber habe mich dafür ausgesprochen, den Beginn der modernen Rechtsepoche mit der Sattelzeit vor und nach dem Beginn des 19. Jahrhunderts anzusetzen, werde jedoch in Diskussionen wiederholt mit der Gegenauffassung konfrontiert, welche diesen Beginn im ausgehenden 19. Jahrhundert dingfest macht[7]. Und so mag man denn das doppelt vergebene Etikett der Modernität auch als Angebot zu einer Diskussion dieser Frage verstehen. Wenn ich es richtig sehe, verbinden die Herausgeber und die Autoren beider Bände mit diesem Etikett nicht ohne Weiteres eine positive Bewertung; und darin ist ihnen zuzustimmen.
Fragen kann man freilich auch, ob zur Charakterisierung einer Schule, die mit Vertretern bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein stattliches Alter erreicht hat, der Ausdruck „Entstehung“ angemessen konnotiert ist. Man vermutet als Grund, dass ein Teil der Beiträge sich ganz oder überwiegend mit dem Gründer der Schule selber befasst, und wird in dieser Vermutung bereits durch einen Blick in das Inhaltsverzeichnis bestätigt.
Gegenstand der Diskussion kann schließlich noch die Frage sein, ob man so selbstverständlich von einer „Schule Franz von Liszts“ sprechen kann, wie es der Titel des Buches suggeriert. Doch werden eben diese Zweifel in mehreren Beiträgen des Bandes selbst artikuliert. Wie schon beim Titel des Feuerbach-Buches standen auch hier die Herausgeber vor der schwierigen Aufgabe, einen griffigen Titel mit möglichst wenig Substanzverlust zu präsentieren.
Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Wolfgang Frisch, der sich mit „Werk und Wirkung“ Franz v. Liszts befasst. Er nimmt dessen Wirken aus drei Perspektiven in den Blick: derjenigen des Strafrechtsdogmatikers, des Kriminalpolitikers und – knapp – des Begründers der „gesamten Strafrechtswissenschaft“. Den Dogmatiker macht Frisch vor allem an den zahlreichen Auflagen seines Lehrbuchs (und dessen oft tiefgreifenden Umarbeitungen) fest. Dass die Systematik dem heutigen Leser kaum Bemerkenswertes bietet, führt er darauf zurück, dass Liszt eben als der Begründer der heutigen Strafrechtssystematik angesehen werden kann (4); ihm – so Frisch – haben wir es zu verdanken, dass „das ganze systematische Durcheinander der Verbrechenslehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwunden ist“ (5). Er habe damit „der Lehre von der Straftat die bis heute gültige Grobstruktur aufgezeigt“ (6). Was die Aufgabenstellung des Strafrechts angeht, weist Frisch darauf hin, dass v. Liszt in sein Verständnis des Strafrechts als Rechtsgüterschutz auch die Bestätigung der Geltung der verletzten Norm einbezogen habe, allerdings sei sein Konzept zu einseitig und naturalistisch nur auf die reale Präventionswirkung ausgerichtet (8). Innovativ seien auch v. Liszts Aussagen zum Inhalt der Systemkategorien – was nachgewiesen wird anhand des Handlungsbegriffs (bei dem Frisch auf die oft übersehene Unterscheidung Liszts zwischen Handlung im weiteren und im engeren Sinne hinweist), der Unterlassungsdogmatik, des materiellen Rechtswidrigkeitsbegriffs und – mit Einschränkungen – des Schuldbegriffs (8ff.). Gegen die Einordnung als Positivist nimmt Frisch v. Liszt weitgehend in Schutz (14), übt allerdings Kritik an einem Mangel an Legitimation der Strafe gegenüber dem Täter und dessen Freiheitsrechten, der aus seiner weitgehenden Fixierung auf das für den Strafzweck Erforderlich resultiere (15).
Den Kriminalpolitiker Liszt misst Frisch vor allem am seinem Marburger Programm und einigen weiteren kriminalpolitischen Arbeiten. Hier hebt er den Kampf gegen die kurzen Freiheitsstrafen (17) und für die relativ unbestimmte Strafe (19) hervor und weist darauf hin, dass zahlreiche seiner Vorschläge – wenn auch gelegentlich unter anderem Firmenschild (Strafrestaussetzungsmöglichkeit statt relativ unbestimmter Strafe) – verwirklicht worden sind. Erfolgreich sieht er ihn vor allem dort, wo seine Vorschläge zu Milderungen geführt haben, wo sich also die Legitimationsfragen nicht stellten. Hier hätte aber wohl ein Hinweis auf die Sicherungsverwahrung das Bild der „Erfolge“ abgerundet, denn „Humanitätsduselei“ war Liszt – worauf auch Frisch (mit Nachweisen) hinweist (23) – fremd (was dem Zeitgeist entsprach). Die abschließenden Hinweise auf den Begründer der gesamten Strafrechtswissenschaft zeigen Liszts Bedeutung für Kriminalistik, Kriminologie (vorwiegend Kriminalsoziologie) und Pönologie als Folge seines Bestrebens, künftige Praktiker gediegen auszubilden, (24f.).
Vom Liszt’schen Streben nach Praxisbezug geht auch der Beitrag von Arnd Koch aus, der sich die „Liszt-Schule“ zum Thema setzt, zunächst aber ebenfalls deren Protagonisten in seinen Voraussetzungen und Folgen betrachtet. An den Anfang stellt er neben dem Marburger Programm von 1882/83 die weniger bekannte Rektoratsrede Die Reform des juristischen Studiums in Preußen von 1886, die eine heftige Kritik u.a. an der Vernachlässigung des Strafrechts und dessen Hilfswissenschaften in der Juristenausbildung übte (28). Koch nimmt dies zum Anlass, einen Blick auf den Zustand der Strafrechtswissenschaft vor 1871 zu werfen. Er diagnostiziert einen Krisenzustand, der bedingt ist durch Rechtszersplitterung und eine Praxisferne, die dazu geführt hat, dass die literarische Reflexion auf das Strafrecht beispielsweise in Preußen auf die „im Zweifel konservativen preußischen Praktiker“ übergegangen sei. Diese mit dichten Literaturnachweisen belegte Analyse vermittelt einen interessanten und bislang zu wenig beachteten Aspekt der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts; sie müsste wohl noch um eine Betrachtung der Reformliteratur ergänzt werden, die ergeben könnte, dass Engagement und Einfluss dort größer waren als im Bereich der Dogmatik[8]. Eine weitere Frage: Liszt hat seinen Vorwurf der Praxisferne (i.e. des Versagens bei der Verbrechensbekämpfung) nicht nur gegen die deutsche Strafrechtswissenschaft, sondern gegen das deutsche Strafrecht insgesamt gerichtet. Der Vorwurf traf also auch die besagten „preußischen Praktiker“. Liszt war mit seinen beiden Philippicae wohl vor allem der Seismograph des politischen, ökonomischen und kulturellen Umbruchs des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der sich im Strafrecht – folgt man Peter Becker[9] – in einem Paradigmenwechsel vom Verbrecher als „Verdorbenem“ zum Verbrecher als „Entartetem“ niederschlug. Das erstgenannte Paradigma entsprach dem Strafrechtsverständnis der Aufklärung und der idealistischen Philosophie. Was aber macht dann das „Konservative“ der preußischen Praktiker aus? Kochs Beitrag zeigt, wie viel in diesem Bereich noch zu ergründen ist.
Dem eingangs angesprochenen Problem der Ermittlung einer „Liszt-Schule“ nähert Koch sich geschickt in mehreren Schritten an: Nach Blicken auf die institutionelle Seite (Lehrbuch, Zeitschrift, IKV, Kriminalistisches Seminar) leitet er zu der personellen Seite (40ff.) über und zieht dort den Kreis stufenweise enger – ausgehend vom „Kreis um Franz von Liszt“[10], über die betreuten Habilitanden (deren Status zutreffend in seiner Bedeutung relativiert wird; 42f.) bis zu dem (von Koch favorisierten) Kriterium der mit Aufgaben in seinem Seminar betrauten Personen (43), also einem engen Kreis, mit wenigen Erweiterungen (Hafter, Liepmann und Radbruch). Es folgt die Erörterung der grundsätzlichen Frage, ob von einer „Liszt-Schule“ gesprochen werden könne (45ff.); hierfür – so Koch – spricht zwar vieles, doch dürften nicht die ebenfalls vorhandenen Divergenzen unter den „Schülern“ übersehen werden, die nach 1930 offen zutage traten und auf der letzten Tagung der IKV die autoritäre Seite der Liszt-Tradition deutlich hervortreten ließen (47)[11].
Es folgt ein Blick auf die Gegner der Liszt-Schule, die sog. Klassiker, die sich vor allem in der Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft versammelten und Liszt neben seinem Konzept der „gesamten Strafrechtswissenschaften“ und seiner Instrumentalisierung des Strafrechts vor allem seine Widersprüchlichkeit vorwarf (49) – nicht zu Unrecht, wie Koch anhand mehrerer Beispiele aufzeigt. Manche Positionen der „Klassiker“ verdienen gerade dort Zustimmung, wo die rechtsstaatlich schwachen Seiten der Liszt‘schen Richtung hervortreten (52f.); doch zeigt eine nähere Betrachtung, dass manches auch nur eine Frage der richtigen Etiketten war, hinter denen auch bei den Klassikern die autoritäre Strenge der Kriminalpolitik der Jahrhundertwende hervortritt (54).
Michael Pawlik stellt in einem anspruchsvollen Beitrag v. Liszt in den „Kontext zeitgenössischer philosophischer Strömungen“ (57ff.). Trotz sichtbaren Bemühens, ihm gerecht zu werden, fällt sein Urteil letztlich skeptisch aus. Sein vorweggenommenes Gesamturteil lautet, Liszt sei ein vom Zeitgeist stark beeinflusster, für das jeweils Aktuelle anfälliger Eklektiker geblieben (58). Dies zeigt er anhand der Komplexe „philosophische Erkenntniskritik und Strafrechtswissenschaft“, „Philosophie und strafrechtliches Zweckdenken“ und „Entwicklungsdenken und Strafrechtswissenschaft“. Beim ersten Komplex billigt er Liszt freilich zu, die Strafrechtswissenschaft nicht nur gegen vermeintliche Anmaßungen der Philosophie, sondern auch gegen solche der Naturwissenschaften verteidigt zu haben (63). Er kritisiert allerdings, dass Liszt mit seiner Aneinander Bindung von Determinismus und Zweckstrafe „jeden Sinn für die Eigenständigkeit der praktischen im Verhältnis zur theoretischen Vernunft vermissen“ lasse (65). In der Tradition der Reaktionszeit nach 1849 stehend, die sich bemühte, einen politikfreien Wissenschaftsbereich zu konstruieren, habe Liszt den „Rückbau von Kants reiner praktischen zu einer nichts als staatsklugen instrumentellen Vernunft“ betrieben (66). Entsprechend sei auch sein Zweckgedanke, für dessen Umsetzung in das Recht er im Rechtsgut – als Kürzel für die teleologische Konstruktion des Verbrechenssystems verstanden – ein Einfallstor sieht, frei von normativen Elementen, was der Auffassung vom Menschen als „bloßem Knotenpunkt von Zurechnungsprozessen“ entspreche (69). Die Frage nach der abschließenden Begründung des Zweckgedankens sei für Liszt eine rechtspolitische (72). Andererseits übernehme er von Stammler – freilich ganz äußerlich – den Begriff des „richtigen Rechts“ und behaupte als dessen Aufgabe die „Herstellung und Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“ (73). Wie Frisch registriert Pawlik eine rein instrumentelle Engführung des Begriffs der Kriminalpolitik, die eine „inhaltliche Abschaffung der Rechtsphilosophie“ (74) bedeutet und damit jeder beliebigen positiv-rechtlichen Ausfüllung zugänglich ist (75).
Schlussstein derartiger Theorien ist „ein zum Produzenten normativer Folgerungen aufgerüsteter Entwicklungsgedanke“ (76), mit dem Liszt die fehlerhafte Rezeption der Darwin’schen Lehren, die das 19. Jahrhundert durchzieht, fortschreibt, denn der normativ aufgeladene, auf „Fortschritt“ gepolte Entwicklungsgedanke führt dazu, dass das Seiende normativ gewendet, im Werdenden das Sein sollende am Werke gesehen wird (81). Da um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Begeisterung für das Fortschrittsdenken verflogen war, wurden Liszts theoretische Konstrukte überwiegend abgelehnt (83), und da er eine gehaltvolle Begründung für den Zweck der Strafe nicht liefert, erweist sich auch Liszts Behauptung, das von ihm vorgeschlagene System ermögliche die bestmögliche Aussonderung schädlicher Gesellschaftsmitglieder, als Petition Príncipe. Pawliks Resümee: „v. Liszt war ein bedeutender Rechtsreformer und ein begnadeter Didaktiker des Strafrechts – ein großer Strafrechtsdenker war er hingegen nicht“ (85).
Mit der von Franz v. Liszt initiierten Reformbewegung des Strafrechts und damit auch mit den „Innovationen und Ambivalenzen einer Modernisierungsidee“ (87) befasst sich Benno Zabel. Er stellt Franz von Liszt als Repräsentanten eines tiefgreifenden Strukturwandels dar, in dem die Organisation des Rechts von einer statischen auf eine dynamisch-zukunftsorientierte umgestellt wird; Ausdruck dessen ist die ausdrückliche Verknüpfung von Strafgerechtigkeit und Zweckrationalität (88)[12]. Die daraus folgende Praxisorientierung führt zum Streben nach internationaler und interdisziplinärer Kooperation (IKV, gesamte Strafrechtswissenschaft), aber auch zu einer Ambivalenz, die den Bürger einerseits als Träger von subjektiven Rechten sieht („magna Charta“), gleichzeitig auch als potentiellen Rechtsbrecher, weshalb es einer „‘(natur-) wissenschaftlichen Ausdeutung‘ des Individuums“ bedarf (89). Als „Liszt-Schule“ versteht Zabel ein „Netzwerk von Personen und deren Anspruch, v. Liszts Idee der zweckbezogenen Vergesellschaftung staatlichen Strafhandelns zu aktualisieren“ (90), nicht aber als homogene Gruppe, weshalb denn auch in der Zyste durchaus „interschulische Auseinandersetzungen“ stattfinden (93). In der näheren Bestimmung des erfassten Personenkreises nähert Zabel sich weitgehend dem von Koch ermittelten an.
Unter der Überschrift „Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie“ verfolgt Zabel sodann die These, dass der von Liszt verfochtene Zweckgedanke über die „gesellschaftsökonomische“ Seite hinaus auch für die Strafrechtsdogmatik im Sinne einer „wertimprägnierten Dogmatik und funktional ausgerichteten Verbrechensbekämpfung“ fruchtbar gemacht worden sei, dass aber gerade hierin die Ambivalenz des Reformprogramms selbst deutlich werde (94). Wenn Liszt das Rechtsgut als Tor für den Einzug des Zweckgedankens in die Rechtslehre ansieht, dann hat er damit die ursprünglich angenommene Magna-Charta-Funktion des Strafgesetzes als Wall gegen Übergriffe der Kriminalpolitik aufgegeben. Die „Liszt-Schule“ sah sich damit vor allem vor der Aufgabe, die methodischen Annahmen Franz v. Liszts neueren Entwicklungen anzupassen sowie der Zweck- und Präventionsidee in Dogmatik und Kriminalpolitik nachhaltig Geltung zu verschaffen. Die weiteren Ausführungen verfolgen diese Bemühungen anhand der Aktivitäten von Netzwerk-Mitgliedern (Liepmann, Eb. Schmidt, Radbruch, Graf zu Dohna, Grünhut) (97ff.).
Die Dynamik der Reformbewegung und die auf sie zurückgehende „teleologische Dogmatik“ (Radbruch) illustriert Zabel anhand der Problemfelder Rechtswidrigkeit und Schuldlehre. Sollte Rechtswidrigkeit nicht nur als formeller Normverstoß, sondern als Sozialschädlichkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens aufgefasst werden, so wandelt sich der Schuldbegriff von einem psychologischen zu einem normativen (Schuld als Vorwerfbarkeit) (107ff.); damit aber kommen Gesinnung und Charakter des Täters ins Blickfeld, und die Täterpersönlichkeit bzw. die Politisierung des Täters gewinnt immer größere Bedeutung.
Ein letzter Blick gilt den Rechtsfolgen und der richterlichen Strafzumessung, wo es der Reformbewegung um die Umsetzung eines „tätergerechten Sanktionsrechts“ geht (111); dass diese „Tätergerechtheit“ zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen (Sozialerziehung, Abschreckung, Unschädlichmachung) führen konnte, liegt auf der Hand. Zabel warnt davor, ahistorisch ein tendenziell fortschrittliches Verständnis Radbruchs gegen ein tendenziell illiberales Verständnis Liszts auszuspielen (114). Interessant ist sein Hinweis, dass die in der Logik der Reformbewegung liegenden weiten richterlichen Ermessens- und Beurteilungsspielräume eine „Engführung von Tat und Gefährlichkeit, von Schuldurteil und Fürsorgeauftrag“ enthalten, welche die „durchaus im ‘alten Sinne‘ gemeinte polizeyliche Affinität der Präventionslogik mehr als augenscheinlich“ machte (116). Am Ende steht auch bei Zabel die schon von den vorigen Autoren aufgezeigte Ambivalenz des Liszt’schen Reformprogramms, bei der „die Legitimation des Strafrechts als umfassender Freiheitsschutz“ leicht aus dem Blickfeld gerät (118).
Mit einer besonders problematischen Seite der Liszt-Schule, der „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen“, also der sog. Gewohnheitsverbrecher, befasst sich Johannes Kaspar. Der durch seine Forschungen zum Präventionsstrafrecht ausgewiesene Autor[13] rekapituliert zunächst die Sonderstellung der Unterbringung im Sinne der „Unschädlichmachung“, die als einzige Sanktion ihre Zielverwirklichung mit der Zunahme ihrer Dauer proportional steigert. Ihre Schwächen liegen in der schwierigen Feststellbarkeit ihrer Voraussetzung „Gefährlichkeit“ und in ihrem auf der Hand liegenden „Missbrauchspotential“ (121).
Dass mit der „Unschädlichmachung“ der „Unverbesserlichen“ die dunkle Seite der Liszt’schen Zwecklehre sichtbar wird, zeigt Kaspar am Ausgangspunkt der Lehre auf, wo die „beklagenswerte Milde“ der Strafgesetzgebung und der Strafgerichte“ kritisiert wird, an der Sprache Liszts, die er mit Recht als „rhetorische Dehumanisierung“ bezeichnet, an der– zumindest in den frühen Schriften – Charakterisierung von Resozialisierungsbemühungen bei „Unverbesserlichen“ als „Ressourcenverschwendung“, an der Größe des von der Unschädlichmachung erfassten Täterkreises, am Fehlen immanenter rechtsstaatlicher Grenzen, an der niedrigen Schwelle für die Verhängung der unbestimmten Strafe[14] (die das Gesetzlichkeitsprinzip entwertet) und an der mangelhaften empirischen Substanz für die Bestimmung der Unverbesserlichkeit („kolossales Begründungsdefizit“) (122-126). Kaspar bezweifelt, dass Liszt in diesem Bereich eine harte Gangart deshalb eingeschlagen habe, weil er damit die Akzeptanz seiner liberaleren Haltung im Bereich der „Verbesserlichen“ erhöhen wollte. Es gebe „keine Hinweise darauf, dass es v. Liszt mit der von ihm anvisierten unbestimmten Sicherungsstrafe mit all ihren Konsequenzen nicht ernst meinte“ (127).
Die weitere Entwicklung führte bekanntlich zur Übernahme der Sicherungsverwahrung im Rahmen des Zweispurigkeits-Konzepts (128) – zunächst in einer Reihe von Reformentwürfen, dann in das Strafgesetzbuch durch eines der ersten Strafgesetze des NS-Gesetzgebers. Der Frage nach der Kontinuität zwischen Liszter Lehre und der NS-Gesetzgebung lässt sich daher nicht ausweichen. Kapar zählt eine Reihe von Punkten auf, in denen sich die beiden Konzepte unterscheiden (z.B. „Sicherung“ vs. „Ausmerzung“; 130). Bei einigen dieser Punkte kann man darüber streiten, ob die nicht zu bestreitenden Unterschiede quantitativer oder qualitativer Natur sind. Ich tendiere zur ersten Ansicht, die man auch mit der Kennzeichnung „Radikalisierung“ erfassen kann; auch Kaspar sprich von „Radikalisierung“, hält sie aber für so „drastisch […], dass die Verbindungslinien nur schwach ausgeprägt sind“ (131).
Ein letzter Blick gilt dem Einfluss Liszts auf das heutige Strafrecht (132f.). Kaspar weist darauf hin, dass sich die Verfasser des Alternativentwurfes wiederholt auf Liszt berufen haben. In der Tat verbündete sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Lisztsche Lehre – wohl erstmals – mit einem liberalen Zeitgeist. M.E. konnte dies vor allem deshalb geschehen, weil der damalige Rechtszustand, nicht zuletzt als Erbe der NS-Strafgesetzgebung, zahlreiche Möglichkeiten bot, sich erfolgreich auf die liberale Seite der Lisztschen Lehre zu berufen (vor allem Vermeidung der kurzen Freiheitsstrafe). Abschließend wird Liszt noch gegen die Konstruktion einer Verbindungslinie zur Feindstrafrechtslehre in Schutz genommen. Zwar könne man in der Terminologie Liszt manche Parallelen zu derjenigen der Feindstrafrechts-Theoretiker entdecken; doch müsse Liszt hier aus dem Kontext seiner Zeit verstanden werden. Dies ist gewiss ein generelles Gebot geschichtswissenschaftlicher Betrachtung; doch müsste man wohl die persönliche Bewertung des Handelns historischer Persönlichkeiten von der Bewertung ihrer Wirkungen trennen. Und wenn denn Liszt sich in diesem Punkt nicht von vielen seiner Zeitgenossen unterschied, so drängt sich die Frage auf, wie weit der kriminalpolitische Geist von „damals“ über das 20. Jahrhundert hinweg seine Spuren hinterlassen hat. Das aber wäre über die Themenstellung des Aufsatzes hinausgegangen.
Mit der kriminologischen Seite v. Liszts und seiner Schule befasst sich Franz Streng (135ff.) Als die Verdienste Liszts auf diesem Feld nennt er neben der „mittelbaren Täterschaft“ durch Anregung empirischer Studien im Rahmen des Kriminalistischen Seminars und durch Eröffnung von Foren (ZStW, IKV) Liszts eigene, meistens auf der amtlichen Kriminalstatistik beruhende Untersuchungen, ferner sein differenziertes Verständnis der Verbindung von Anlage und Umwelt, bei Betonung der soziologischen Seite (138). Er hält ihm zugute, dass methodischen Mängel (fehlende Problematisierung des Dunkelfeldes, Fehlen einer umfassenden Kriminalitätstheorie; Nichtberücksichtigung von Selektionseffekten, Überschätzung des prognostischen Aussagegehalts von Rückfällen) zeitbedingt seien (138-141), weist aber darauf hin, dass Liszt zukunftsweisende Einsichten von Quetelet (Verbrechensbudget) und Dürkheim (Anomietheorie) übernimmt bzw. selbständig findet, und hebt besonders hervor, dass er – sozusagen avant la lettre – die spätere nationalsozialistische Tätertypenlehre ausdrücklich ablehnt (141); freilich bezog sich diese Ablehnung (nur, aber immerhin) auf die Absicht, „empirische Befunde an rechtliche Begriffe anzubinden; es bleibt doch die Frage, ob Liszts problematische Täterorientierung nicht doch jenseits begrifflicher Einordnungen einen (wie stark auch immer einzuschätzenden) Kausalitätsstrang für die NS-Doktrin gebildet hat.
Den Begriff der „Liszt-Schule“ problematisiert auch Streng, beschränkt sich allerdings pragmatisch auf die Betrachtung der kriminologischen Auffassungen von Gustav Aschaffenburg, Edmund Mezger, Franz Exner, Hans von Hentig und Wilhelm Sauer. Seine Bewertung fällt differenzierend aus (149f.): So fügten sich die in der NS-Zeit erschienenen Auflagen der Lehrbücher von Exner und Mezger zwar (vor allem beim Letzteren) in den (in der deutschen Kriminologie ohnehin von Anfang an starken) Trend zur Kriminalbiologie ein, doch bauten sie ihre Argumentation und ihren Struktur „letztlich immer noch, wenngleich mit anderer Gewichtung der Elemente, anhand der Strukturmerkmale der Kriminologie v. Liszts“ auf.
Carl-Friedrich Stuckenberg behandelt das Thema „Die v. Liszt-Schule und die Reform des Strafprozessrechts“; so wie der Autor selbst angesichts der Fülle des Reformmaterialien (die freilich bis heute nie zu einer Gesamtreform des Strafprozesses geführt haben) eine Auswahl treffen musste, kann auch die Vorstellung seines umfangreichen Beitrages nur einige Punkte hervorheben.
In der IKV und ihrer deutschen Landesgruppe stand zunächst das materielle Strafrecht im Fokus des Interesses; erst kurz nach der Jahrhundertwende begann, ausgelöst durch staatliche Reformaktivitäten, eine intensive Diskussion des Strafprozessrechts (154). Wichtigste Reformforderung Liszts war die nach Beseitigung der (damals ausschließlich mit Berufsrichtern besetzten) Strafkammern (159). Interessant ist Liszts Analyse, dass die Berufung überflüssig werde, wenn der Beschuldigte nicht erst im erstinstanzlichen Urteil erfahre, „welche Tatsachen und welche Beweismittel für das Gericht maßgebend waren, und sich dagegen folglich erst in einer erneuten Erörterung der Tatfrage verteidigen könne“ (159; zu weiteren Argumenten pro und contra Berufung s. 159ff.). Von den weiteren Reformdiskussionen untersucht der Beitrag die Themen Laienbeteiligung und Schwurgerichte[15], das Verfahrensmodell (Anklageprozess vs. Inquisitionsprozess) (165ff.), Vorverfahren und gerichtliche Voruntersuchung (168ff.), Legalitäts- und Opportunitätsprinzip (171f.), Untersuchungshaft (172f.) und Verteidigungsrechte des Angeklagten (173f.). Um das Thema Anklageprozess und Inquisitionsprozess herauszugreifen: Wie in den anderen Punkten war auch hier die Auffassung der Vertreter der „Liszt-Schule“ gespalten. Einig war man sich aber weitgehend, dass die Reichsstrafprozessordnung„ nur die Anklageform, nicht aber das Anklageprinzip“ eingeführt habe. Liszt forderte – vor allem nach dem Sturz der Monarchie – die konsequente Durchführung des Parteiprozesses (165). In der damit zusammenhängenden Frage der Ausgestaltung des Vorverfahrens bestand allerdings wenig Einigkeit (169)[16].
Damit taucht die Frage nach dem „Proprium der Liszt-Schule“ auf. Stuckenberg stellt sie unter die Alternative „Kurzer Prozeß“ oder „Soziales Strafrecht – liberaler Strafprozß“ (174). Und auch hier konstatiert er Uneinigkeit: Sie beginnt bereits bei der Frage nach dem zeitlichen Vorrang zwischen Straf- und Strafprozessreform (174f.) und setzt sich bei den übrigen erwähnten Punkten fort. Ist schon bei Liszt die Haltung zur Struktur des Verfahrens ambivalent (Befürwortung des akkusatorischen Prozesses, aber deshalb, weil er „am besten geeignet ist, die Wahrheit über die persönliche Eigenart, die ‘Gesinnung‘ des Täters zu erkennen“ [175]), so wird die Ambivalenz bei Goldschmidt besonders deutlich: Neben der Forderung nach prozessualen Garantien für den „normalen Bürger“ stehen erschreckende Aussagen, z.B. die, dass es Personen gebe, „die durch ihr Vorleben den Anspruch auf eine so weitgehende Berücksichtigung (s. c. ihrer Verteidigungsinteressen) verwirkt haben“; der Magna-Charta-Grundsatz gelte nicht – wie in der (in der Tat schiefen[17]) Formulierung von Liszt, für den Verbrecher, sondern für den Bürger – was zunächst erfreulich klingt, aber sogleich revoziert wird: gemeint ist nämlich, er gelte nicht für den Schuldigen, sondern für den Beschuldigten. Der Gewohnheitsverbrecher werde in seinem status libertatis geschmälert; „Die Feinde der Gesellschaft“ – so Goldschmidt – „werden gleichsam unter Kriegs- oder Ausnahmezustand gestellt“ (176). Man bedenke, dass zu diesen Feinden u.a. Landstreicher, Bettler, Arbeitsscheue und Dirnen gehörten – lauter Menschen, die heute niemand mehr wegen ihres Status vor Gericht stellen würde. Auch Radbruch machte gewisse Zugeständnisse, während Graf zu Dohna „keinen Grund sah, von den Forderungen des Liberalismus abzugehen“ (178); am weitesten ging Kohlrausch, der offen forderte „die allgemeine ‘weltanschauliche‘ Wendung vom liberalen Staat zum Polizei- und Fürsorgestaat“ auch im Strafprozess nachzuvollziehen (179). Stuckenberg bringt die Problematik auf den Punkt: Ihre (sc. der Liszt-Schüler) Formel ‘soziales Strafrecht – liberaler Strafprozeß‘ ist edel gedacht, aber nur realisierbar, wenn man sich von martialischen Parolen der Verbrechensbekämpfung verabschiedet, denn ein ‘Feindstrafprozessrecht‘ kann nicht liberal sein. Ihr Dilemma - rücksichtslose Verbrechensbekämpfung ohne rücksichtslose Eingriffe in die bürgerliche Freiheit – hat die Liszt-Schule auch im Strafprozessrecht nicht gelöst“ (182). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Stuckenbergs – materialreich belegter[18] – Beitrag liefert nicht nur solide Grundinformationen, sondern hilft auch, manche selektive Rezeption zu korrigieren.
Nachdem der hochkompetente und differenzierte Beitrag von Streng bereits einige Blicke in die Zeit der NS-Herrschaft geworfen hat, ist man gespannt, welche weiteren Erkenntnisse der Beitrag von Martin Löhnig über „die v. Liszt-Schule im totalitären Kontext“ hinzufügen wird[19]. Wie schon andere mehrere Autoren des Bandes charakterisiert Löhnig die Lehre Liszts zutreffend als ein „Nebeneinander von liberal-rechtsstaatlichen und autoritär-repressiven Inhalten“ (was aber doch wohl nicht nur, wie der Autor meint, „aus heutiger Sicht“ der Fall ist) (185). Ob man daraus schon folgern kann, dass die Lisztsche Konzeption eine „Wundertüte“ sei, „in der für jeden etwas drin ist, für den liberalen Strafrechtler ebenso wie für den repressiven Strafrechtler“, wie der Autor mit einer seiner eher belletristischen als analytischen Formulierungen meint (186), erscheint mir zweifelhaft. Bei aller Skepsis gegen diese Konzeption, die ich mit dem Autor teile, waren doch die vermeintlich liberalen Aspekte (die – jedenfalls auf der kriminalpolitischen Seite – unter der Herrschaft von Zweckerwägungen standen und durch sie begrenzt waren) in ihrem Anwendungsbereich (Gelegenheitstäter) immerhin deutlich von den autoritären (Gewohnheitsverbrecher) getrennt. Und ob die gewaltige prozentuale Zunahme der Geldstrafen zu Beginn der 20er Jahre wirklich auf Lisztschen Einfluss zurückzuführen ist, könnte erst bei Berücksichtigung der Gesamtmenge, die aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsstrafgesetzgebung stark angewachsen war, beantwortet werden.
Wie Streng macht auch Löhnig die Erörterung der NS-Zeit an den strafrechtswissenschaftlichen Protagonisten fest; betrachtet werden Franz Exner, Hans v. Hentig, Ernst Delaquis, Eduard Kohlrausch und Eberhard Schmidt. Löhnig bemüht sich sehr intensiv um eine ausgewogene Beurteilung. Die betrachteten Personen – abgesehen von dem Sonderfall des Emigranten Hans v. Hentig – bemühten sich, die Kompatibilität der Lisztschen Lehren mit dem NS-Gedankengut nachzuweisen. Wieweit dies aus taktischen Gründen oder aus Überzeugung geschah, ist naturgemäß schwer zu entscheiden. Zwar überzeugten sie damit die Regierenden nicht immer, doch fragt sich der (Rechts-) Historiker, wie weit denn in der Sache die Lisztsche Konzeption für deren Auffassungen anschlussfähig war. Löhnig schwankt hier zwischen mehreren Erklärungsmustern. So meint er einmal, der NS-Gesetzgeber habe den Weimarer Reformstau aufgelöst, er habe „dem Ganzen aber einen gewissen eigenen Dreh gegeben“; der „Weg von der v. Lisztschen Unbrauchbarmachung [recte: Unschädlichmachung] zum NS-Strafrecht“ setze „einen ganz grundlegenden strafrechtlichen Paradigmenwandel voraus“, weil die NS-Ministerialbürokratie diese mit dem Schutz der Volksgemeinschaft statt mit spezialpräventiven Erwägungen unterlegt habe (188); andererseits erklärt er bei der Frage der „Minderwertigkeit“ mit Recht, das Jahr 1933 sei „keine wissenschaftliche Wasserscheide“ gewesen, jedoch habe der NS-Staat ungleich radikalere Konsequenzen gezogen (190); dieselbe Aussage ließe sich bei der Frage der Unschädlichmachung doch wohl gleichermaßen treffen – wie übrigens auch beim Gedanken der „sozialen Verteidigung“, der auf die französische Lehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts („défense social“) zurückgeht, die Löhnig aber dem NS-Gedankengut zuzurechnen scheint (188).
Differenziert beurteilt Löhnig auch Eduard Kohlrausch, dem er bescheinigt, sein Verhalten sei letztlich „widersprüchlich“ und sperre sich einer pauschalen Gesamtbewertung[20]. Ob die dagegen recht benevolente Bewertung Eberhard Schmidts, den Löhnig der inneren Emigration zurechnet, mit dessen Verhalten während seiner Zeit in Hamburg in Einklang zu bringen ist, bedürfte weiterer Klärung. Es folgt ein knapper Hinweis auf das DDR-Strafrecht anhand der Person des „Wanderers zwischen den Welten“ Arthur Baumgarten (203f.).
Die Ausführungen Löhnigs machen deutlich, wie schwierig mitunter die Bewertung des (im doppelten Sinne) „Wirkens“ von Wissenschaftlern zu beurteilen ist. Unerlässlich erscheint mir das Gebot, zwischen der Lebenskontext des Handelnden und den Nachwirkungen seines Handelns zu unterscheiden. Selbst wenn man z.B. der Meinung ist, dass manche Lehren des NS-Strafrechts auf Franz v. Liszt zurückgeführt werden können, so ist damit zunächst noch keine persönliche Bewertung verbunden. Mit seiner bramarbasierenden, mitunter brutalen Sprache unterschied Liszt sich jedenfalls nicht radikal von seiner Umwelt, und seine Exklusionsvorstellungen entsprachen verbreitetem Denken; dies und Weiteres wäre in ein Gesamtporträt einzubringen. Dasselbe gilt natürlich erst recht für Wissenschaftler, die unter den Rahmenbedingungen einer Diktatur tätig waren.
Über die deutschen Grenzen hinaus führen die beiden abschließenden Beiträge.
Der amerikanische Rechtshistoriker Richard F. Wetzell behandelt das Thema „Franz v. Liszt und die internationale Strafrechtsreformbewegung (207ff.). Neben den Internationalen Gefängniskongressen, die vorwiegend von Regierungsvertretern dominiert wurden (208), und dem vor allem von italienischen Teilnehmern sowie von Medizinern und Anthropologen besuchten Internationalen Kongressen für Kriminalanthropologie war die Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV), eine Gründung Franz v. Liszts, der Belgiers Adolphe Prins und des Niederländers Antonius van Hamel, die dritte gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegründete kriminalpolitische Gruppierung. 1888/89 gegründet, stieg ihre Mitgliederzahl rasch und erreichte bis 1914 den vierstelligen Bereich (211). Wetzell zeigt anhand der Tagungsdebatten, dass – wohl bedingt durch die Vergrößerung der Mitgliederzahl – die ursprünglich ganz auf die Positionen der Gründer zugeschnittene Programmatik einer breiteren Diskussion Platz machte (211). So war die Kategorie der unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher auch innerhalb der IKV höchst umstritten (216ff.), und Liszt gelang es erst 1913, also 24 Jahre nach Gründung der IKV, auf der Kopenhagener Tagung einen Beschluss zugunsten der unbestimmten Strafe durchzusetzen (224f.), was freilich auch zeigt, dass „spätestens 1913 […] v. Liszts kriminalpolitische Positionen im Mainstream der transnationalen Strafrechtsreformbewegung angekommen“ waren (227). Auffällig ist allerdings, dass kaum strafrechtsdogmatische und strafprozessuale Fragen behandelt wurden, aber auch kriminologische Forschung nicht auf der Agenda stand (212f.); auch der Strafvollzug spielte nur eine marginale Rolle. Im Zentrum stand die Veränderung des materiellen Strafrechts.
Wetzells Anregung, weitere Einzelpunkte anhand der Debatten in der IKV näher zu erforschen, ist – wie schon die Erträge seines Beitrages zeigen – beherzigenswert.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Michael Kubiciel, der einen weniger bekannten Aspekt der Aktivitäten Franz v. Liszts in den Blick nimmt. Ausgangspunkt der Darstellung ist Liszts kleine Monographie „Ein mitteleuropäischer Staatenverband“, veröffentlicht im Herbst 1914 und damit geschrieben in der ersten für die Truppen der Mittelmächte erfolgreichen Phase des Weltkriegs (229f.). Mit ihr stieß Liszt eine heute fast vergessene Diskussion um die Möglichkeiten eines transnationalen Strafrechts an, an der sich prominente deutsche, österreichische und ungarische Strafrechtler beteiligten und die trotz ihrer historischen Bedingtheit – „Gegengewicht Mitteleuropas zu den Großmächten“ – eine Reihe von Argumenten und Gegenargumenten hervorbrachte, die, wie Kubiciel zeigt für die heutigen Diskussionen um ein europäisches Strafrecht fruchtbar gemacht werden könnten.
Die damaligen Debatten führten immerhin im Bereich der Strafrechtswissenschaft in den 20er Jahren zu den Bemühungen um eine deutsch-österreichische Strafrechtsangleichung[21], die aber in den 30er Jahren abbrachen (240f.)[22]. Der auf Liszt zurückgehende Vorschlag, (ausgerechnet) das Strafrecht zum „Hebel“ für eine kulturelle Angleichung der beteiligten Bevölkerungen zu benutzen (238), lehnt Kubiciel entschieden ab (238f.), was sich zweifellos generell gut begründen lässt[23]. Überhaupt dürfte ein großer Teil der Strafrechtler Kubiciels Skepsis gegenüber der Entwicklung des europäischen Strafrechts teilen. Jedenfalls sei Skeptikern wie Befürwortern die Lektüre dieses Beitrages nachdrücklich empfohlen.
Der vorgestellte Band bietet ein reiches Kaleidoskop an gründlichen, teilweise neuen Einsichten in das behandelte Thema. Der Rezensent, der als Verfasser eines einschlägigen Lehrbuches sich dort in der Pflicht sieht, seine Darstellung auf einer mittleren Höhe zu halten, empfindet dankbar die parallele Kette von Vertiefungen in Form der eingangs angesprochenen Sequenz von Sammelbänden, in die sich der besprochene Band einreiht. Auch wenn die Behauptung im Klappentext, der Band thematisiere „erstmals und umfassend die offene Frage nach den Grundlagen, Gewinnen und Gefahren ‘moderner‘ Kriminalpolitik“ ein wenig reklamemäßig klingt, wird doch an diesem Band niemand vorbeigehen können, der sich mit der darin behandelten Thematik ernsthaft befassen will.
Hagen Thomas Vormbaum
[1] Arnd Koch, Michael Kubiciel, Martin Löhnig u. a (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch. Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts. Tübingen (Mohr Siebeck) 2014; dazu meine Besprechung in Z.I.E.R 5 (2015).
[2] Wolfgang Frisch, Günther Jakobs, Michael Kubiciel, Michael Pawlik, Carl-Friedrich Stuckenberg (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels. Tübingen 2015; dazu meine Besprechung in Z.I.E.R. 5 (2015)
[3] Der Rezensent spricht insoweit aus Erfahrung; s. dazu Fußn. 7 meiner Besprechung des Feuerbach-Bandes in Z.I.E.R. 2015.
[4] S. meine Besprechung in Z.I.E.R. 5 (2015) a. E.
[5] Ich habe am Ende meiner Besprechung (wie Fußn. 4) es als einen Vorzug des Feuerbach-Bandes bewertet, dass es seinen programmatischen Untertitel letztlich selbst (zwar nicht widerrufen, aber doch) in Frage – vielleicht noch besser: zur Diskussion – gestellt hat.
[6] In der europäischen und weltweiten Szene hat eher die italienische kriminalanthropologische Scuola positiva Lombrosos und Ferris Aufmerksamkeit gefunden. Mit dieser Einschränkung ist auch die Bemerkung der Herausgeber im Vorwort (S. V) zu versehen, v. Liszt habe „mit seinem Programm eine europaweite Diskussion über den Zweck des Strafens und die angemessenen Mittel effektiver Kriminalitätsbekämpfung ausgelöst“; näher Th. Vormbaum, Italienische Einflüsse auf die deutsche Strafrechtsreform, JoJZG 2013, S. 93-101, erneut abgedruckt in: Frank L. Schäfer / Mathias Schmoeckel / Thomas Vormbaum (Hrsg.), Ad fontes! Werner Schubert zum 75. Geburtstag. Münster, Berlin 2015; S. 77ff.
[7] S. dazu meinen Hinweis in: Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte. 3. Auflage. Heidelberg, Berlin 2015, S. 18.
[8] Eine Untersuchung der Jahrgänge des Neuen / Archivs des Criminalrechts / Neue Folge könnte hier erste Erkenntnisse liefern; für ein Beispiel: Sergio Seminara, Die Versuchsproblematik in der deutschen Strafrechtswissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ders. / Hans Joachim Hirsch, Zu strafrechtlichen Versuchslehre im 19.und 20. Jahrhundert. Münster, Berlin 2008, S. 1ff. Zu denken ist auch an die beachtliche Zahl von gutachtlichen Stellungnahmen, die zum Entwurf eines StGB für den Norddeutschen Bund im preußischen Justizministerium eingingen, darunter die im Druck erschienene Kritik von Karl Binding, Der Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund in seinen Grundsätzen beurteilt. Neudruck der Ausgabe 1869. Aalen 1975.
[9] Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002.
[10] 23 Teilnehmer des Seminars später deutsche Strafrechtslehrer: S. 41f. mit Lebensdaten und weiteren Nachweisen.
[11] Dass neben Eberhard Schmidt und Eduard Kohlrausch auch Gustav Radbruch nach 1933 „die Härte v. Liszts herausstrich“ (48), finde ich nicht so erstaunlich (wenngleich dabei auch taktische Überlegungen mitgespielt haben mögen), denn wer „seinen“ Entwurf von 1922 genauer studiert, wird zögern, das (ohnehin nicht unverdächtige) positive Urteil Eberhard Schmidts zu bestätigen, das die Rezeption seit den 50er Jahren geprägt hat. Dass Radbruch Bewunderung und Sympathie für den „einspurigen“ StGB-Entwurf von Enrico Ferri bekundete, ist ebenfalls alles andere als ein Ausweis liberalen Strafrechtsdenkens; s. dazu Vormbaum, JoJZG 2013, S. 93ff. a. E.
[12] Die Vorstellung, dass die zweckmäßige Strafe die gerechte Strafe sei, findet sich bereits bei Beccaria, was wohl nicht zuletzt seine Rezeption bei aufgeklärt-autoritären Herrschern gefördert hat; im 19. Jahrhundert war sie jedoch zumindest in der Wissenschaft bis dahin nicht dominant.
[13] S. Johannes Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht. Baden-Baden 2014.
[14] Die Schwelle erfuhr übrigens eine gegenüber den vorhergehenden Vorschlägen dramatische Absenkung durch den Entwurf Radbruch von 1922. Kaspar (128) charakterisiert mit Muños Conde diesen Entwurf als einen im Übrigen „durchaus liberal geprägten Entwurf“. Dies dürfte einer näheren Prüfung nicht standhalten Ein persönlicher Hinweis sei gestattet: Während der Betreuung einer Reihe von Dissertationen zur Entwicklung einzelner Strafrechtsinstitute und Straftatbestände geschah es immer wieder, dass Doktoranden irritiert berichteten, dass der als liberal gepriesene Entwurf von 1922 diese Charakterisierung in dem von ihnen bearbeiteten Bereich nicht verdiene. Zur Objektivierung dieses Befundes s. Friederike Goltsche, Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch). Berlin 2009; Thomas Vormbaum, Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943. Materialien zur Verordnung und zu den Durchführungsverordnungen. Münster, Berlin 2011.
[15] Vgl. insofern insbesondere zur Emminger-Reform, welche die „echten“ Schwurgerichte beseitigte, und zu ihrer Vorgeschichte meine Monographie „Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924“ (198, die Stuckenberg unbekannt geblieben zu sein scheint.
[16] Schon damals herrschte die – m.E. auf einem Denkfehler beruhende – Vorstellung, dass die konsequente Durchführung des Parteiprozesses die Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung verlange – eine Vorstellung, die sich 1975 durchsetzte und damit die Staatsanwaltschaft der Position einer „Herrin des Vorverfahrens“ und eines „Richters vor dem Richter“ (Erhard Kausch) weiter annäherte.
[17] S. dazu Vormbaum, JZ 2014, 240-241.
[18] Zu ergänzen wäre noch die Aufsatzsammlung von Peter Rieß, Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung. Münster, Berlin 2012; s. auch Fußn. 15.
[19] Der Beginn des Beitrages irritiert, indem er mit dem Satz beginnt: „Franz von Liszt reagiert mit seinem ‘Marburger Programm‘ auf das Versagen des traditionellen Strafrechtsdenkens vor dem Hintergrund der industrialisierten und profanen Gesellschaft“, und damit gleichsam in die Haut v. Liszts schlüpft, dann aber in indirekter Rede fortfährt: „Eine tatorientierte Vergeltung habe sich als untauglich erwiesen im Kampf gegen das sogenannte ‘Gewohnheitsverbrechertum‘“, und sich damit gleich doppelt („sogenannt“ und Anführungszeichen) zurücknimmt.
[20] Löhnig fährt an der im Text zitierten Stelle fort, ich mache es mir in meinem Beitrag über Kohlrausch (in der Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität [2010]) „allerdings jedenfalls zu leicht“, wenn ich Kohlrausch „aburteile“ indem ich festelle, „nach dem bekannten Diktum Adornos gebe es nun mal kein richtiges Leben im falschen“. Wo hier das „Aburteilen“ liegt ist mir nicht klar geworden; der Hinweis auf Adorno bedeutet in diesem Zusammenhang eher eine Entlastung (auch wenn Adorno sein Diktum ursprünglich gegen jene gewendet hat, die behaupteten, sie seien trotz Anpassung „sauber“ geblieben). Hätte Löhnig meinen Aufsatz über die (übrigens unrichtig belegte) Stelle hinaus bis zum Ende gelesen, so wäre er auf S. 543 auf den Satz gestoßen: „Er [Kohlrausch] war ein Mensch mit seinen Widersprüchen – und das heißt auch: mit seinen Schwächen. Immerhin dürfte er repräsentativ für das Verhalten der Strafrechtswissenschaft in der Zeit der NS-Herrschaft gewesen sein“. Löhnig selber formuliert auf S. 199: „Vielleicht erklärt sich das Handeln Kohlrauschs ganz einfach mit dem Gesichtspunkt menschlicher Schwäche [!] und der Eitelkeit alternder Ordinarien, die sich für unverzichtbar halten“ – eine alltagspsychologische Erklärung, mit der er es sich, wie ich finde, einfacher macht als ich mit meiner angeblichen Aburteilung.
[21] Näher F. Goltsche, Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch). Berlin 2010. – Der vielgerühmte Verzicht auf die Todesstrafe im StGB-Entwurf von 1922 war übrigens nicht zuletzt durch den österreichischen Einfluss bedingt, denn in Österreich war damals die Todesstrafe durch die Verfassung ausgeschlossen.
[22] Zu erwähnen ist freilich die Angleichung des deutschen und österreichischen Strafrechts durch die sog. Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 (s.o. Fußn.14), die freilich nach dem „Anschluss Österreichs erfolgte. Dass sie – auf einen Nenner gebracht – die jeweils schärfere Regelung der beiden Strafrechtsordnungen zur gemeinsamen Norm machte, bestätigt die Skepsis Kubiciels gegenüber der Entwicklung des europäischen Strafrechts.
[23] Ich würde allerdings eine Ausnahme dort machen, wo es um die Streichung von Strafvorschriften geht. Ich vermute, dass Kubiciel dies anders sieht – jedenfalls interpretiere ich seinen Beitrag in dem Feuerbach-Tagungsband dahin; s. dazu die Bemerkung in Fußn. 9 meiner Besprechung jenes Bandes (o. Fußn. 1).