Schulmeister-André, Irina, Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischen Einfluss

- Der Beitrag der UdSSR zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (= Beiträge zum internationalen und europäischen Strafrecht 27). Duncker & Humblot, Berlin 2016. 580 S. Besprochen von Werner Schubert.

Schulmeister-André, Irina, Internationale Strafgerichtsbarkeit unter sowjetischen Einfluss -  Der Beitrag der UdSSR zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (= Beiträge zum internationalen und europäischen Strafrecht 27). Duncker & Humblot, Berlin 2016. 580 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Nähere Untersuchungen über den Einfluss der UdSSR auf die „Prozessidee“ der Einsetzung eines internationalen Strafgerichts zur Ahndung der nationalsozialistischen Kriegsverbrechen sowie die „Vorbereitung und Durchführung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses“ liegen bisher nicht vor (S. 24). Dies dürfte vornehmlich mit dem „durch administrative und sprachliche Barrieren erschwerten Zugang zu den maßgeblichen historischen Quellen“ zusammenhängen (S. 24). Auch fehlte bislang eine kritische Bewertung des sowjetischen Hauptanklägers Rodenko. Ziel der Untersuchungen Irina Schulmeister-Andrés ist „eine von den im westlichen wie russischen Wissenschaftsraum jeweils dominanten Narrativen unbeeinflusste Rekonstruktion des sowjetischen Beitrags zur Vorbereitung und Durchführung des Prozesses insbesondere anhand von russischen Archivquellen und sonstigen edierten Materialien amtlicher Provenienz“ (S. 26). Nach einem einleitenden Teil S. 23-32 untersucht Schulmeister-André die „juristische Bewältigung von Kriegsverbrechen“ als „Herausforderung“ der sowjetischen Rechtswissenschaft der 1930er und 1940er Jahre (S. 33-79). Nach der Abkehr von der „nihilistischen Auffassung von Recht und Staat“ wandte sich die sowjetische Rechtswissenschaft einer „neuen, positivistisch-eigenständigen Rolle des sowjetischen Rechts“ zu (S. 37). Im Zusammenhang damit setzte sich auch eine wohlwollendere pragmatischere Behandlung des Völkerrechts durch (S. 77), allerdings innerhalb „eines politisch festgelegten Rahmens“ (S. 243). Der Hochschullehrer Trajnin und Nikolaj N. Poljanski befürworteten eine Bestrafung der deutschen Hauptkriegsverbrecher durch ein internationales Militärtribunal, ohne eine „politische Lösung“ der Kriegsverbrecherfrage auszuschließen. Im Abschnitt C geht Schulmeister-André ein auf die „Ahndung von Kriegsverbrechen als Gegenstand sowjetischer Regierungspolitik“ (S. 80-202). Wichtig ist zunächst die Erklärung vom 14. 10. 1942, in der die UdSSR die Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher durch ein internationales Tribunal verlangte. Dies hielt Stalin nicht nur für möglich, sondern auch für „erforderlich“ (S. 197). In der Moskauer Erklärung vom 30. 10. 1943 bekannten sich die Außenminister der Alliierten zur Notwendigkeit eines „kollektiven Vorgehens bei der Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher“ (S. 149ff.). S. 155ff. analysiert Schulmeister-André den allgemein zugänglichen Kriegsverbrecherprozess vom 15.-18. 12. 1943 in Charkow als „propagandistische Inszenierung im Gewande der Justizförmigkeit“ (S. 155ff.). Nicht mehr besprochen werden die zahlreichen weiteren nichtöffentlichen Verfahren gegen deutsche Kriegsgefangene (S. 165). In der Phase der formalen Harmonisierung der alliierten Kriegsverbrecherpolitik kam es zu einer grundsätzlichen Verständigung über die Installation eines internationalen Militärtribunals. Zeitweise bevorzugten Churchill und Roosevelt eine politische Lösung in Form „summarischer Hinrichtungen“ der Kriegsverbrecher (S. 200), während für Stalin ein gerichtliches Verfahren zur conditio sine qua non der sowjetischen Kriegsverbrecherpolitik gehörte. Allerdings zielte die UdSSR nicht auf ein „ergebnisoffenes Verfahren“ mit dem Recht auf angemessene Verteidigung, sondern auf ein „im Ergebnis vorbestimmtes und jederzeit kontrollierbares gerichtliches Verfahren“ (S. 200f.). Eine Einigung der Vertreter der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion erfolgte am 3. 5. 1945 in San Francisco über die Durchführung formeller Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher (Teil D, S. 204-219).

 

Der nächste umfangreiche Abschnitt des Werkes beschäftigt sich mit der Ausarbeitung des IMT-Statuts in den Londoner Verhandlungen vom 26. 6.-8. 8. 1945 (S. 220-304). Hinsichtlich der meisten Normen des Statuts hatte die UdSSR, vertreten durch Trajnin und Nitricenko „wesentlichen Einfluss“, auch wenn die unterschiedlichen Konzeptionen der sowjetischen und amerikanischen Seite über die Aufgaben und den Handlungsrahmen des Tribunals sich deutlich zeigten (S. 302). Insgesamt war die amerikanischen Konzeption richtungweisend für das IMT-Institut (S. 304). Die sowjetischen Delegierten waren grundsätzlich abhängig von den Weisungen des sowjetischen Außenministeriums und bei wichtigen Fragen auch von Stalin, für den nur eine Verurteilung in Frage kam. Hingewiesen sei darauf, dass die Arbeit der sowjetischen Vertreter in London und später auch in Nürnberg „vielfältigen Friktionen und Komplikationen“ unterlag (u. a. Fehlen einer hinreichenden Anzahl kompetenter Dolmetscher und Fachleute). Dies wirft nach Schulmeister-André immer wieder ein „Schlaglicht auf die Schwerfälligkeit und mangelnde Flexibilität des sowjetischen Staatsapparats“ (S. 215).

 

Nachdem das IMT-Statut durch das Londoner Vier-Mächte-Abkommen vom 8. 8. 1945 gebilligt worden war, ging es in der Folgezeit um die Vorbereitung der Anklage, mit deren sowjetischem Beitrag sich Schulmeister-André in Teil F (S. 305-374) befasst. Nach der Einigung über die anzuklagenden Personen legten zunächst die Amerikaner und anschließend auch die Briten einen Anklageentwurf vor, auf den die russischen Vertreter der Anklage nur reaktiv einwirken konnten. Sie waren durch die „defizitäre Organisation auf sowjetischer Seite“ stark behindert (S. 305). Die Arbeiten in Nürnberg wurden gesteuert durch eine Regierungskommission „zur Vorbereitung der Anklagematerialien und der Arbeit der sowjetischen Vertreter beim Internationalen Militärtribunal und im Komitee der Ankläger“ (S. 311ff.). Hauptziel der sowjetischen Mitwirkung an der Anklagegestaltung war das Bestreben, die „Aufnahme politisch kontroverser Bewertungen“ zu verhindern (S. 373). Hierbei ging es um „unerwünschte“ Themen (u. a. Nichtangriffspakt von 1939, Besuche Molotows und von Ribbentrops in Berlin bzw. Moskau, sowjetische baltische Republiken, Balkanfrage, S. 387), deren öffentliche Erörterung im Prozess die sowjetische Kommission für nicht akzeptabel hielt. Erfolgreich waren die sowjetischen Anklagevertreter in der Abwehr der „im britischen Entwurf der Anklageschrift noch anklingenden Teilexkulpation der am Abschluss des Münchner Abkommens mit Hitlerdeutschland mitwirkenden westalliierten Akteure und die im Zusammenhang mit dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts angedeutete inhaltliche Verbindungslinie zum späteren deutschen Überfall auf Polen“. Dagegen gelang es der sowjetischen Anklagevertretung nicht, die dann von Stalin unterbundenen Bestrebungen durchzusetzen, „die im britischen Entwurf enthaltenen Ausführungen zur Errichtung der Einparteienherrschaft NSDAP durch Formulierungen zu ergänzen, die jegliche Übertragbarkeit auf die VkP (b) hätten ausschließen sollen“ (S. 373 f.). Die Eröffnung des Hauptverfahrens (hierzu S. 375-497) vor dem Tribunal fand am 20. 11. 1945 statt, nachdem die sowjetischen Vertreter vergeblich für eine Verschiebung des Prozessbeginns eingetreten waren. Dem russischen Anklageteam war die Verlesung der Anklage hinsichtlich der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den östlichen Gebieten übertragen worden. Die von der UdSSR vorgelegten Beweise beruhten zu großen Teilen auf den mitunter zensierten Berichten der außerordentlichen Staatskommission zur Feststellung und Untersuchung der Verbrechen und Schäden (S. 410ff., 417ff.). Die sowjetische Anklage vor dem IMT wurde ab 8. 2. 1946 mit der Rede des Hauptanklägers Rudenko eröffnet, der weitere Vorträge von Hilfsanklägern folgten (S. 397ff.). Im Fall „Katyn“ konnten sich die sowjetischen Mitglieder des Tribunals Nitricenko (stellv.ertretender Vorsitzender des Obersten Gerichts der UdSSR) und dessen Stellvertreter mit ihrer Auslegung des Art. 21 des IMT-Statuts nicht durchsetzen, dass die Dokumente der Beweissammlungskommission der Alliierten durch Gegenbeweise (insbesondere durch Zeugen der Verteidigung) nicht in Frage gestellt werden sollten. Entgegen dem russischen Votum gestattete das IMT-Tribunal hinsichtlich des Katyn-Komplexes (S. 434-456) die Vernehmung von zwei sowjetischen und zwei von der Verteidigung benannten Zeugen (S. 245ff.). Im Ergebnis agierte die sowjetische Anklage „völlig isoliert“; im Urteil wurde der Katyn-Komplex nicht behandelt (S. 454, 497). Erheblichen politischen Schaden richtete das Bekanntwerden des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. 8. 1939 an (S. 488ff.). – S. 498-542 untersucht Schulmeister-André die sowjetische Einflussnahme auf die Beratung und Abfassung des IMT-Urteils vom 1. 10. 1946. Nicht verhindern konnten die sowjetischen Richter den Freispruch von Schacht, v. Papen und Fritzsche sowie die Verurteilung von Heß nur zu einer Freiheitsstrafe.

 

Die Untersuchungen werden abgeschlossen mit zusammenfassenden Schlussbemerkungen (S. 543-551), in denen Schulmeister-André feststellt, dass die „UdSSR als wichtiger Akteur bei der Entwicklung der Idee eines gerichtsförmigen Verfahrens gegen den nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher, der Vorbereitung und schließlich der Durchführung des Prozesses grundsätzlich in allen Bereichen ihren Einfluss ausgeübt“ (S. 551) hat. Allerdings hatten die unzureichende Ausstattung des sowjetischen Anklage- und Prozessteams und das „gezielte Bemühen der Amerikaner um Minimierung des sowjetischen Einflusses und Ausbau der eigenen Dominanzstellung“ zu dem „mehr und mehr schwindenden Einfluss der UdSSR auf die wesentlichen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess“ (S. 551) geführt. Das Werk wird abgeschlossen mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 552 ff.), in dem die benutzten archivalischen Quellen nicht einzeln aufgeführt sind. Das Personen- und Sachverzeichnis (S. 578-580) hätte erheblich ausführlicher und aussagekräftiger sein sollen. Erwünscht wäre es gewesen, wenn Schulmeister-André die nur verstreut und nicht immer leicht auffindbaren Kurzbiografien der wichtigsten mit der Vorgeschichte und dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess befassten Juristen und Politiker am Ende des Werkes zusammengefasst hätte. Insgesamt handelt es sich bei den detaillierten Untersuchungen Irina Schulmeister-Andrés um ein wichtiges Grundlagenwerk zum Nürnberger Prozess, aus dem ersichtlich wird, dass die nicht selten „weniger günstige Beurteilung“ des sowjetischen Einflusses auf die Grundlagen der internationalen Strafgerichtsbarkeit und die Vorbereitung und Durchführung des IMT-Prozesses im Ganzen kaum gerechtfertigt erscheint. Es ist zu wünschen, dass ähnlich breite Darstellungen unter Heranziehung der in Betracht kommenden Dokumente auch für die Beiträge der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens und Frankreichs zum IMT-Prozess in Angriff genommen werden. Von deutscher Seite liegen bereits zwei wichtige Monografien über die Verteidigung der in Nürnberg angeklagten Hauptkriegsverbrecher vor (vgl. Benedikt Sallek, Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen. Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien dargestellt am Wirken des Verteidigers Dr. Friedrich Bergold, Berlin 2016, und Hubert Seliger: Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse, Baden-Baden 2016).

 

Kiel

Werner Schubert