Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart

, hg. v. dem Deutschen Historischen Museum Berlin. Stiftung Deutsches Historisches Museum/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 334 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, hg. v. dem Deutschen Historischen Museum Berlin. Stiftung Deutsches Historisches Museum/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 334 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic:

 

Deutsche Kolonialgeschichte ist heute im allgemeinen Bewusstsein der deutschen Bevölkerung bestenfalls ein Randthema. Das war nicht immer so: Zwischen 1884/1885 und 1919 hatte das wilhelminische Kaiserreich als „verspätete Nation“ versucht, sich den, wie man meinte, gebührenden „Platz an der Sonne“ durch die Inbesitznahme eines Teils der zu jener Zeit durch den Vorsprung der klassischen Kolonialmächte global ohnehin nur mehr sehr beschränkt verfügbaren Territorien zu sichern und zu erhalten. Der zersplitterte deutsche Kolonialbesitz erstreckte sich schließlich vom äquatorialen und südlichen Afrika (Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika = Namibia, Deutsch-Ostafrika = Tansania, Burundi, Ruanda) über Ostasien (die chinesische Kiautschou-Bucht mit der Stadt Tsingtau) und Indonesien (Deutsch-Neuguinea) bis in den Südpazifik (Samoa). Während Reichskanzler Otto von Bismarck derlei Bestrebungen aus grundsätzlichen Erwägungen der Mächtebalance reserviert betrachtet und sich in der Sache nur halbherzig engagiert hatte, verlagerte wiederum Adolf Hitler in Anerkennung der maritimen Vormachtstellung Großbritanniens das koloniale Interesse Deutschlands auf den kontinentalen Osten. Die nur drei Jahrzehnte andauernde deutsche Übersee-Kolonialgeschichte diente seiner Propaganda vor allem als willkommene Manifestation deutschen Pioniergeistes. Folglich ist uneingeschränkt zu begrüßen, dass sich das Deutsche Historische Museum (DHM) Berlin nach zwei thematisch spezialisierten Vorgängern zu Tsingtau (1998) und Namibia (2004/2005) für eine modern konzipierte Ausstellung entschieden hat, die vom 14. Oktober 2016 bis zum 14. Mai 2017 dem Besucher nunmehr einen facettenreichen Einblick in das Phänomen und die Geschichte des deutschen Kolonialismus bieten will. Der großformatige, reich illustrierte Begleitband setzt sich nach gängiger Praxis zur einen Hälfte aus wissenschaftlich-essayistischen Beiträgen, zur anderen aus dem Katalogteil – einer dokumentarischen Aufnahme der Ausstellung anhand ausgewählter Abbildungen der wichtigsten Exponate der jeweiligen Stationen nebst einem Gesamtverzeichnis der Objekte – zusammen.

 

Thematisch führt die Ausstellung ihr Publikum über insgesamt acht Stationen. Der Einstieg erfolgt über eine Einordnung des deutschen Kolonialismus in den globalen Kontext der die Welt im 19. Jahrhundert verstärkt erfassenden Vernetzungen. Forschungsreisende, Händler und Missionare traten in Beziehungen mit lokalen Gesellschaften, auf deren Vertragswerke die Kolonialmächte dann verstärkt ab 1880 – der Phase des Hochimperialismus – ihre politischen Herrschaftsansprüche gründeten, die sie mit rassistischen, aus Darwins Evolutionslehre abgeleiteten Zivilisationsargumenten rechtfertigten. Im 1871 national geeinigten Deutschland „entwickelte sich eine Kolonialbewegung, welche den Erwerb und Besitz von Kolonien zu einer nationalen Frage stilisierte“, und die „auf eine aktive Kolonialpolitik (drängte)“ (S. 165). In einem zweiten Schritt wird der Besucher der Ausstellung über den Entwurf kolonialer Weltbilder und die Praxis kolonialer Herrschaft informiert. Der Theorie der grundlegenden europäischen Überlegenheit habe in der Herrschaftspraxis in der Regel eine Integration indigener Infrastruktur, häufig unter Bevorzugung lokaler Eliten, gegenübergestanden. Ein konstitutives Herrschaftselement sei stets die Gewalt gewesen, spektakulär im Phänomen der großen Kolonialkriege, leiser, aber allgegenwärtig in Formen strukturell angelegter alltäglicher Gewalt, wie sie sexuelle Übergriffe, das Züchtigungsrecht oder ausbeuterische Arbeitsverhältnisse darstellen. Das Spektrum des Widerstands der Kolonisierten reichte von individueller Verweigerung über Petitionen bis hin zu gewaltsamer Gegenwehr. Im kolonialen Alltag waren, wie die dritte Station vermittelt, trotz der ungleichen Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Akteuren immer wieder Aushandlungen im Gange, welche die jeweiligen Handlungsspielräume zu definieren hatten. Sowohl die Kolonisatoren als auch die Einheimischen bildeten heterogene Gesellschaften, die von inneren Konflikten gekennzeichnet waren, dazu kamen die vielfältigen Transfers zwischen Kolonie und Metropole. Wie sich die Kolonisatoren durch Grenzziehungen ihrer eigenen Identität zu versichern suchten, zeigt die vierte Sektion der Ausstellung. Diese Grenzen waren sprachlicher (z. B. weiß – schwarz, zivilisiert – unzivilisiert), räumlicher (z. B. der Plan, in der Stadt Tsingtau/Qingdao getrennte „reinrassige“ Viertel für Deutsche und Chinesen zu erzwingen) oder rechtlicher Natur: „Durch Verordnungen gegen ‚Mischehen‘ versuchte der koloniale Staat, diese Grenze zu definieren und festzuschreiben und löste damit auch im Deutschen Reich Debatten über Geschlechterverhältnisse und nationale Zugehörigkeit aus“. Dass solche Grenzen, die auch im Rahmen des exotischen Spektakels der „Völkerschauen“ vermittelt werden sollten, „nie vollständig und dauerhaft“ durchgesetzt werden konnten, liege „an der Komplexität der Wirklichkeit, an den eigenen Widersprüchen und vor allem am Handeln der Menschen, die sie auf vielfältige Art und Weise unterliefen und überschritten“ (S. 205). Darüber hinaus wurde die koloniale Welt auch zum Sehnsuchtsraum für diverse gesellschaftskritische Utopisten.

 

Materielle Hinterlassenschaften des Kolonialismus finden sich noch heute in zahlreichen Sammlungen, die ihrerseits koloniale Blickwinkel widerspiegeln. Die Fragen, die Teil fünf der Ausstellung in diesem Zusammenhang aufwirft, sind vielgestaltig: Es geht um die Spiegelung von Herrschaftsverhältnissen (Geschenke, Kriegsbeute), um Sammlungspraktiken, Erwerbsumstände und die Zuordnung von Eigentum, um eurozentrische wissenschaftliche Interpretationen und den in der Alltagskultur des Kaiserreiches (Warengestaltung, Werbung) präsenten Niederschlag kolonialer Bilder und Stereotype. Über die Zeit zwischen 1919 und 1945 informiert anschließend die sechste Station. Als Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag 1919 die Kolonien unter dem Vorwurf der Unfähigkeit, sie korrekt verwalten zu können, entzogen wurden, bildete sich im Widerstand dagegen der „Mythos einer kolonialen Idylle“, der „während des gesamten 20. Jahrhunderts prägend für die öffentliche Wahrnehmung der Kolonialgeschichte war“ (S. 235). Trotz des verbreiteten institutionalisierten Kolonialrevisionismus hätten die führenden Außenpolitiker der Weimarer Republik das Illusorische einer Restitution des deutschen Kolonialbesitzes realisiert, und Hitler habe das Thema zwar taktisch gegenüber Großbritannien ausgespielt, sein tatsächliches Interesse aber klar auf den kontinentalen Osten fixiert. Im Zusammenhang mit der Dekolonisierung nach 1945 beschäftigt sich der siebte, vorletzte Abschnitt mit dem unterschiedlichen Umgang der beiden deutschen Staaten (BRD, DDR) mit dem kolonialen Erbe und ihren Beziehungen zu den aus ehemaligen (nicht nur deutschen) Kolonialgebieten hervorgegangenen, neu gebildeten Staatswesen (Entwicklungshilfe, „antiimperialistische Solidarität“, Studentenaustausch). Konsequenter Weise entlassen die Ausstellungsmacher ihre Besucher in die Gegenwart, indem sie abschließend (Station acht) Denkanstöße zu einer „postkolonialen Gegenwart“ liefern, die sich „als ein kritisches Durcharbeiten des komplexen Gefüges“ versteht und die koloniale Vergangenheit im Licht rezenter Globalisierungsphänomene unter erweiterten Gesichtspunkten interpretieren soll.

 

Eine Auswahl der hier nur knapp umrissenen Inhalte der Ausstellung ist jeweils Gegenstand der insgesamt 16 illustrierten Essays, die einzelne Entwicklungen näher beleuchten. Hierbei ist zu bemängeln, dass der Band zu den männlichen und weiblichen Verfassern dieser Beiträge (Ulrike Lindner, Christian Geulen, Marie Muschalek, Rebekka Habermas, Dörte Lerp, Flower Manase Msuya, Werner Hillebrecht, Patrice Nganang, Wazi Apoh, Damien Rwegera, Yixu Lü, Malama Meleisea und Penelope Schoeffel, Gilbert Dotsé Yigbe, Jürgen Zimmerer, Andreas Eckert, Larissa Förster) keinerlei weitere Angaben liefert, umso mehr, als viele der Namen auf eine Herkunft aus ehemaligen Kolonialgebieten schließen lassen. Der Beitrag des namhaften deutschen Kolonialhistorikers Jürgen Zimmerer „Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Über den schwierigen Umgang mit Deutschlands kolonialem Erbe“ (S. 138 – 145) befasst sich mit einem (auch) juristisch geprägten Thema: „Das Deutsche Reich verübte zwischen 1904 und 1908 in seiner damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika Völkermord. Das ist die nahezu übereinstimmende Meinung der Geschichts- und Genozidforschung. Auslöser war der Widerstand zuerst der Herero und dann der Nama gegen ihre schnell fortschreitende Enteignung und Entrechtung seit 1884, gegen Betrug und körperliche, einschließlich sexueller Übergriffe deutscher Soldaten, Händler und Siedler im Zuge der kolonialen Besetzung des heutigen Namibia“ (S. 138). Nach Jahrzehnten der Verdrängung sei das Thema zum 100. Jahrestag der Schlacht am Waterberg im Jahr 2004 wieder auf das politische Tapet gekommen, wobei der deutsche Staat eine offizielle Anerkennung des Völkermords wegen der damit verbundenen Einklagbarkeit möglicher Schadenersatzforderungen bis heute vermieden habe. Dieses Verhalten könne, so Zimmerer, mit Blick auf den Holocaust „den Eindruck erwecken, der (selbst-)kritische Umgang der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit sei nur selektiv und nicht ausschließlich freiwillig erfolgt. Im Falle der Herero und Nama gab es eben keinen politischen Druck aus dem Ausland, der für die verschiedenen Phasen der Entschädigung von NS-Opfern durchaus vorhanden war“. Eine besondere Brisanz habe das Thema mit der Resolution des deutschen Bundestags vom 2. Juni 2016 erhalten, welche die Türkei zur Anerkennung des 1916 begangenen Völkermords an den Armeniern aufforderte, woraufhin türkische Stimmen Deutschland die moralische Qualifikation für ein derartiges Begehren unter Hinweis auf den offenen deutschen Genozid an den Herero und Nama absprachen. Trotz dieser Peinlichkeit sei, dem Verfasser zufolge, immer noch „nicht abzusehen[,] ob, wann und zu welchen Bedingungen es zu einer Anerkennung seitens des Bundestags und zu einer Entschuldigung durch die Spitzen des deutschen Staates kommen wird“ (S. 144). Mittlerweile weiß die Internet-Enzyklopädie Wikipedia zu berichten, dass Vertreter der Herero und Nama, die sich in den Verhandlungen von der namibischen Regierung nicht ausreichend vertreten fühlen, im Januar 2017 in New York eine Sammelklage mit Entschädigungsforderungen gegen die Regierung der Bundesrepublik Deutschland eingereicht haben. Die aktuelle Präsenz kolonialer deutscher Vergangenheit könnte kaum augenfälliger sein als in diesem von juristischen Vorbehalten geprägten politischen Geplänkel.

 

Vielleicht kann die aktuelle Ausstellung, deren trostloses ikonographisches Leitmotiv das Scheitern der deutschen Kolonialbestrebungen in besonders eindrücklicher Art verdichtet (in Schwarzweiß ein unterspülter Bahndamm zwischen Keetmannshoop und Lüderitz, auf dessen zerstörten Gleisen resigniert ein Schutztruppensoldat kauert; vgl. den Einband sowie S. 258f.) nicht jedermanns Erwartungen erfüllen. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Andreas Kilb, ortet beispielsweise „überall Struktur und Parallele, dafür wenig Klarheit in Zeit und Raum“ und vermisst „zeitliche Einordnung des Geschehens und Verdichtung in historischen Porträts“. Dennoch liefert die Schau einen intensiven Einblick in die koloniale Vergangenheit Deutschlands und ihr Fortwirken in einer Weise, wie sie dem interessierten Publikum bislang noch nicht geboten worden ist. Vor allem das Augenmerk, das sie den Rückwirkungen des Kolonialismus auf die deutsche Gesellschaft schenkt, ist hervorzuheben, da eine solche Sichtweise den häufig assoziierten Einbahncharakter kolonisatorischer Aktivität widerlegt. Dies mag Grund genug sein, sich dessen vor Ort persönlich zu vergewissern. Wer das in dem noch verbleibenden Zeitraum nicht mehr schaffen sollte, ist mit dem gegenständlichen Katalog in jedem Fall gut versorgt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic