Pyta, Wolfram, Hitler

. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. Siedler, München 2015. 846 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

Pyta, Wolfram, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. Siedler, München 2015. 846 S.

 

Nicht einmal 10 Jahre nach seinem großen Buch über Hindenburg (Vgl. dazu die Rezension von K. Ruppert in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 129 (2012), S. 758 -767) legt der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta erneut eine umfangreiche Monographie über einen Heroen der deutschen Geschichte vor. Diesmal also Hitler, über den doch scheinbar schon alles gesagt ist. Und wie bei Hindenburg geht es auch bei Hitler, wie die Untertitel hervorheben, um die Analyse von dessen Herrschaft. Freilich in einem ganz eigenen Verständnis. Der Ansatz ist kulturgeschichtlich-psychologisch und individualistisch. Es wird jeweils nicht nach der Basis der Macht, den Institutionen, Verfahren und dem Umfeld gefragt. Herrschaft ist für Pyta immer die einer Person. Sie wird durch Repräsentanz, Diskurs, sprachliche und bildliche Symbolik und nicht zuletzt durch Deutungshoheit des aktuellen Geschehens wie die jeweilige Rolle in der Geschichte ausgeübt. Dann landet man natürlich schnell bei der „charismatischen Herrschaft“ gemäß der Herrschafts-Typologie Max Webers. Es ist die Variante der Herrschaft „großer Männer“. Während der Typ der charismatischen Herrschaft im Buch über Hindenburg noch zentral war, ist er auch hier Substrat, wird aber durch den Ansatz überlagert, Hitlers Karriere als Politiker und Feldherr von dessen Sozialisation wie Selbstverständnis als „Künstler“ her zu verstehen. In beiden Fällen ist es Pytas Anliegen aufzudecken, dass Hitler wie Hindenburg nicht die Bedeutung und Größe hatten, die ihnen die Zeitgenossen zuschrieben. Beide waren nicht nur, doch in einem von ihm jetzt aufgedeckten Umfang, Produkte von Manipulation und Selbstinszenierung. Während dieses Urteil über Hindenburg uneingeschränkt gefällt wird, klingt es beim Wägen der Qualitäten des Politikers und Feldherrn Hitler schon etwas zurückhaltender.

 

Pyta erarbeitete seine Studie vor allem auf der großen Masse der zu Hitler veröffentlichten Quellen, von denen manche aufgrund seines Ansatzes in einem neuen Licht erscheinen. Er stützt sich aber auch auf Archivalien und hat sogar den Ehrgeiz, neue Quellen zur Biografie des Diktators zu finden. Erstaunlicherweise ist ihm das auch zu Hitlers Werdegang als Künstler und zu seinen Ausführungen in den diversen Runden des Führerhauptquartiers gelungen. Er beeindruckt durch zahlreiche Rückgriffe auf Ergebnisse anderer Disziplinen und erweist sich als mit den Künsten der Zeit vertrauter Wissenschaftler. Er kann sich bei seiner Kernthese auf einen in dieser Frage kompetenten Zeitgenossen, nämlich Thomas Mann, stützen, der Hitler in einem Essay mal als „Bruder“, mit dem er als Künstler einiges gemeinsam habe, bezeichnet hat.

 

Gemäß dem Untertitel ist das Buch in zwei Teile gegliedert. Der zweite befasst sich mit dem Feldherrn, der erste mit dem Politiker. Wenn Hitler bekanntermaßen seine gescheiterte Karriere als Künstler schon in Wien begonnen hat, so seien für seine Entwicklung zum „Künstler-Politiker“ doch die Münchener Jahre nach dem Ersten Weltkrieg entscheidend gewesen. Erst hier habe er gelernt, sich in Szene zu setzen. Dort habe sich sein Kunstverständnis ebenso wie seine Bildung erweitert. Maßgebend seien dafür völkische Vorbilder, Lehrmeister und Mentoren gewesen, die ihm vor allem Bruchstücke der dort gepflegten Philosophie von Nietzsche und Schopenhauer wie die gängigen derzeitigen Ideologien dieser Kreise nahegebracht hätten. Wichtig für die spätere „Performanz“ (in allen Ableitungen und Variationen das uneingeschränkte Lieblingswort) als Politiker seien die Erfahrungen des Theaters gewesen. Hier habe er gelernt, wie mit optischen und akustischen Mitteln Illusionen erzeugt werden können, wie Täuschungen inszeniert werden können und welche Bedeutung die gesamte Umgebung für die suggestive Vermittlung von Botschaften habe. Der Bühnenraum also, den Pyta als „ästhetisches Raumkonzept“ bezeichnet. Vor allem in den Opern Richard Wagners habe Hitler die Macht einer überwältigenden Ästhetik erfahren, welche die Ratio ausschaltet und rauschhafte Gemeinschaftserlebnisse generiere. Hitler, so eine erstaunliche These, sei von den ästhetischen Erlebnissen so durchdrungen gewesen, dass zu Beginn seiner politischen Karriere die Inhalte keine Rolle gespielt hätten, es ihm ganz überwiegend um die ästhetische Inszenierung gegangen sei!

 

Die Programmschrift „Mein Kampf“ wird in dieser Sicht zu einem Buch, durch das sich der geniale Künstler als Schöpfer einer Weltanschauung profilierte. Dem ständigen Zwang zur Bewährung, den eine solch ästhetisch inszeniertes charismatisches Führertum mit sich bringt, habe sich Hitler dann entzogen, indem er sich ergänzend zum politischen „Genie“ stilisierte. Denn einem Genie sehe die Gefolgschaft auch die Sprengung aller moralischen Grenzen durch Terror und Massenmord nach. Da staunt man denn doch, was durch eine bloße Stilisierung, von der nicht gesagt wird, wie und warum sie gelang, alles erreicht werden kann.

 

Um innerhalb der Darstellung der Münchener Jahre diese Kernthesen herauszuarbeiten, wird mehr als nötig, viel zu viel Altbekanntes, das für die Fragestellung irrelevant ist, präsentiert. Das zudem noch durchsetzt ist mit methodischen Reflexionen, Ausführungen zur Problematik mancher Quellen und Biografien zu Personen, denen Hitler begegnete. Innerhalb solcher Abschweifungen nimmt das Insistieren darauf, dass sich Hitlers Judenhass erst 1919 gebildet habe, den breitesten Raum ein. Er habe im Krieg seine jüdischen Kameraden geschätzt und selbst gegen die revolutionäre Regierung des Juden Eisner in Bayern keine Vorbehalte gehabt. Erst nach dem Versailler Vertrag, der auch Auslöser für Hitlers Politisierung gewesen sei (nicht Kriegsniederlage?) seien antisemitische Ausfälle nachweisbar. Obwohl sich Pyta hier zumindest am Rande der Forschung bewegt, geht er auf abweichende Thesen nicht ein. Das ist übrigens ein durchgehender Grundzug des Buches.

 

Diese „Ästhetisierung des Politischen“ versteht Pyta so, dass der Politiker-Künstler Hitler „präsenszkulturelle Praktiken wie sinnkulturelle Diskurse gleichermaßen als herrschaftliche Ressourcen nutzen konnte“. Und genau das sei der Hauptgrund für seinen Aufstieg und die Stabilität seiner Diktatur trotz einer Kette von Niederlagen bis zum Schluss gewesen. Also kein Zwangsapparat, keine Gewaltherrschaft, kein Gestapo- und SS-Terror?

 

Der zweite Teil des Buches geht der Frage nach: Wie führte Hitler Krieg? Nach Pyta hat er dabei einen eigenen Stil kreiert, nämlich eine künstlerisch generierte Führung, die durch den Anspruch, ein militärisches Genie zu sein, überlagert wurde. Dieser wurde untermauert durch einige unorthodoxe, gegen das Generalstabswissen der Generäle durchgesetzte strategische Entscheidungen, die sich in Zeiten der Überlegenheit als erfolgreich erwiesen. Dabei gerät aber der Geniekult etwas zu sehr zum Passepartout, um alle Entscheidungen im Führerhauptquartier zu erklären. Zu diesem kommt dann mit dem Krieg gegen die Sowjetunion das Raumkonzept als Element der Stilisierung des überlegenen Feldherrn, das ebenfalls als eine künstlerische Schöpfung des Augenmenschen Hitler gedeutet wird. Hitler habe sich nie ein Bild vom Krieg auf dem Schlachtfeld gemacht, sondern habe ihn dadurch „entkörperlicht“ und visualisiert, dass er ihn nur auf den Karten im Führerhauptquartier verfolgt habe. Die Karten als „Partitur der Kriegsführung“ seien ein wichtiges Element des Geniekults gewesen. Hitler sei im Krieg gegen die Sowjetunion von einem „kartographischen Raumhunger getrieben“ worden.

 

Von diesem Ansatz her deutet Pyta nun die strategischen Entscheidungen, wie sie in der Auseinandersetzung zwischen Hitler und seinen Generälen im Führerhauptquartier gefallen sind, und zwar in ausschließlicher Fokussierung auf diese Besprechungen. Pyta hat diesen Aspekt mit einem Nachdruck und in einem Umfang in den Vordergrund gerückt wie bisher niemand. Durch diese Einseitigkeit und Reduktion verliert aber auch die Analyse an Überzeugungskraft. Nur durch die Inszenierung der Besprechungen, die Kontrolle der Kommunikation zwischen den Spitzen des Militärs und die Verräumlichung des Krieges durch die Karten soll Hitler seinen Führungsanspruch bis zum Schluss durchgesetzt haben? Lag es nicht eher daran, dass beide Seiten, seit sich die Niederlage abzeichnete, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren, weil sie gemeinsam die Verantwortung für einen Krieg hatten, der schon längst zu einem Menschheitsverbrechen pervertiert war und das nicht nur wegen des fabrikmäßigen Massenmords an den europäischen Juden?

 

Unbefriedigend ist auch, dass bei den Besprechungen fast nur Hitlers Sicht herausgestellt wird, die Einwände der Gegenseite kaum. Es fehlt auch die militärgeschichtliche Wertung der Auseinandersetzungen. Dann hätte man mal auch was Kritisches zu Hitlers Ansicht sagen können, dass alle Krisen durch einen „stetigen, zähen und fanatischen Willen“ überwunden werden können und zu dessen Überzeugung, dass die Probleme des Defensivkriegs am besten aus seiner Erfahrung an der Front im Ersten Weltkrieg zu verstehen seien. Hier hat man statt dessen den Eindruck, militärische Entscheidungen wären überwiegend Ansichtssache und hingen nicht von der Lage an der Front, dem Zustand der Armeen, dem Rüstungstand oder der Stärke des Feindes und vielem anderen ab. Über weite Strecken ist das Präsentierte das allseits bekannte Gegeneinander von Militärexperten gegen den „Künstler-Feldherrn“. Dabei wird man aber das Gefühl nicht los, dass ein Nebenaspekt zur Hauptursache gemacht wird. Denn für diese Konflikte und Hitlers Überlegenheit sind schon öfters handfestere und daher überzeugendere Gründe angeführt worden.

 

Die Parallelen dazu, wie Pyta Hindenburg gedeutet hat, drängen sich nochmals bei dessen Erklärung von Hitlers Verhältnis zu seinen Generälen auf. Wie der Feldherr des Ersten Weltkriegs so habe auch der des Zweiten eifersüchtig darauf geachtet, dass ihm niemand den militärischen Ruhm streitig mache und sich unter anderem stilisiert wie inszeniert, um in der Geschichte einen Platz an der Seite Friedrichs des Großen zu finden.

 

Pyta kann für sich in Anspruch nehmen, von einem bisher in dieser Hinsicht wenig beachteten kulturgeschichtlichen Ansatz her versucht zu haben, einige Züge des Phänomens Hitler zu erklären. Über weite Strecken werden die Ausführungen dazu aber durch Redundantes und Überflüssiges überdeckt: durch breite kulturgeschichtliche Exkurse und biografische Abschweifungen, vor allem aber durch Altbekanntes zum Politiker und Feldherrn Hitler. Das ist wohl mit Blick darauf geschehen, dass das Buch sich auch auf dem Markt der historisch interessierten Leser durchsetzen sollte. Die Geschichtswissenschaft hätte aber mehr von ihm gehabt, wenn es sich auf die durchaus originelle und diskussionswürdige Fragestellung konzentriert hätte und die Erkenntnisse in die Hitler-Forschung eingeordnet worden wären, mit der keine Auseinandersetzung geführt wird.

 

 

Eichstätt-Ingolstadt                                                  Karsten Ruppert