Seynsche, Gudrun, Der Rheinische Revisions- und Kassationshof
Seynsche, Gudrun, Der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin (1819-1852). Ein rheinisches Gericht auf fremdem Boden (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 43). Duncker & Humblot, Berlin 2003. 475 S.
& Humblot, Berlin 2003, 475 S.
Während die Geschichte des Appellationsgerichtshofs zu Köln durch die Beiträge in den Festschriften von 1969 und 1994 hinreichend erschlossen ist, fehlte es bislang an einer Darstellung der Geschichte des Rheinischen Revisions- und Kassationshofs in Berlin (RKH). Diese Lücke schließt nunmehr die umfangreiche Monographie von Seynsche. Die Tatsache, dass seit 1814 in Preußen die Rechtsordnung des Allgemeinen Landrechts und das nachrevolutionäre französische Recht aufeinander stießen, führte die Verfasserin zu zwei Fragestellungen: Zu der Frage nach den rechts- und rechtspolitischen Konzeptionen der Berliner Zentrale im Umgang mit dem rheinischen Obergericht und der Frage nach der Bedeutung des RKH für die preußische Rechtsentwicklung und für das Schicksal des französischen Rechts in der Rheinprovinz (S. 18). Die Untersuchung befasst sich mit der Entstehung und der personellen Besetzung des RKH sowie mit der Bedeutung des rheinischen Obergerichts für die preußische Rechtsentwicklung und den Bestand des rheinischen Rechts. Nach Klärung der Begriffe „Revision“ und „Kassation“ (S. 27ff.) geht die Verfasserin zunächst auf die Kassationsgerichtsbarkeit der Rheinlande bis 1817 ein. Von 1799 bis 1802 oblag die Kassationsgerichtsbarkeit für die vier rheinischen Departemente dem Tribunal de révision in Trier, von 1802 bis 1814 dem Pariser Kassationsgerichtshof, dem von 1812-1814 auch die Aufsicht über die Justiz des Großherzogtums Berg unterstand. Die Kassation war keine revolutionäre Neuschöpfung, sondern hatte sich bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts als eines allein auf Rechtsfragen beschränkten Rekurses außerhalb des eigentlichen Instanzenzuges entwickelt. Über die Kassationsgesuche entschied eine Abteilung des Staatsrats (Conseil du roi), deren Mitglieder vom Hof persönlich und politisch abhängig waren. Bereits 1790 wurde die Kassation einer mit den Garantien einer unabhängigen Rechtsprechung ausgestatteten Institution übertragen. Der Kassationsgerichtshof sollte die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und die strikte Interpretation der Gesetze gewährleisten. Da er außerhalb des Instanzenzuges stand, entschied er niemals in der Sache selbst, die zwingend an die Instanzgerichte zurück zu verweisen war. Die Kassation war ursprünglich beschränkt auf die Fälle ausdrücklicher Gesetzwidrigkeit, wurde aber später ausgedehnt auf die falsche Auslegung oder Anwendung eines Gesetzes bzw. die Nichtanwendung eines einschlägigen Gesetzes (S. 237). Zwischen 1814 und 1819 nahmen die neu begründeten Revisions- bzw. Kassationsgerichtshöfe in Koblenz und Düsseldorf die Funktion eines Kassationsgerichts wahr. Allerdings entfielen die Vorentscheidung über die Zulassung der Kassation und die obligatorische Rückverweisung, so dass nach dem „Rheinischen“ Kassationsverfahren die Obergerichte auch in der Sache selbst entscheiden konnten.
Nach den Beratungen der Immediat-Justiz-Kommission (IJK), die im Kampf um die Erhaltung des französischen Rechts eine Schlüsselstellung einnahm, setzte sich in Berlin unter Beyme das modifizierte Kassationsmodell von 1814 durch. Während die IJK 1818 dafür eintrat, das Rheinische „Revisionsgericht“ im Rheinland zu belassen, bevorzugte man in Berlin die Anbindung der rheinischen Obergerichtsbarkeit an das Obertribunal. Erst unter Beyme entschied sich das Staatsministerium zu Gunsten eines eigenständigen Obergerichts in Berlin, das am 15. 7. 1819 als Revisions- und Kassationshof für die Rheinprovinz eröffnet wurde. Der RKH sollte nach den rechtspolitischen Zielsetzungen Beymes den Austausch zwischen rheinisch-französischem und preußischem Recht fördern. Zu diesem Zweck besetzte er das Gericht mit Juristen rheinischer und altpreußischer Herkunft, nach ihm das „beste Mittel, die Vorurtheile für und gegen das Altpreußische und Rheinländische Justizverfassung zu berichtigen und die Entscheidung darüber sowohl der öffentlichen Meinung als der Regierung zu begründen“ (S. 84f.).
Im Abschnitt über die Einzelheiten der von Preußen mit dem RKH verfolgten Justizpolitik (S. 89ff.) geht die Verfasserin auf die Auswahl des Richterpersonals, den RKH unter den Justizministern Kircheisen und Danckelmann (1820-1830; S. 144ff.), die „Neugründung“ des RKH unter Kamptz und in einem Ausblick auch auf den RKH zwischen 1838 und 1852 ein. Für die von Beyme vorgeschlagene Erstbesetzung waren die fachliche Qualifikation, das Vertrauen der rheinischen Bevölkerung und die Eignung für die Mitarbeit bei der Gesetzrevision maßgebend. Das ursprüngliche Richterpersonal bestand neben dem Präsidenten Sethe aus sechs hauptamtlichen und acht nebenamtlichen Richtern (darunter Friedrich Carl von Savigny), einem Generalprokurator und einem Generaladvokaten für das öffentliche Ministerium (S. 96ff.). In der Folgezeit blieben die meisten frei gewordenen Stellen unbesetzt, da bis Ende der 20er Jahre die vorgezogene Abschaffung des rheinischen Rechts drohte. Erst unter Kamptz wurde durch Neueinstellung von insgesamt elf Richtern die volle Funktionsfähigkeit des RKH wieder hergestellt. Allerdings wählte er Juristen aus, von denen er keinen nennenswerten Widerstand gegen seine Rechtsvereinheitlichungspläne primär auf der Basis des altpreußischen Rechts zu befürchten hatte. Erst vier Jahre nach der Revolution von 1848 wurde entsprechend einem Gesetz vom 17. 3. 1852 der RKH mit dem Obertribunal – die tatsächliche Zusammenlegung erfolgte am 3. 1. 1853 – vereinigt.
In dem Abschnitt über das Verfahrensrecht des RKH (S. 215ff.) stellt die Verfasserin zunächst das französische und anschließend das „rheinische“ Kassationsverfahren dar, das auch für den RKH maßgebend war. Eine eigene Verfahrensordnung für das Gericht kam trotz des Vorliegens eines Entwurfes der IJK und von Daniels nicht zustande. Allerdings gestaltete der RKH das Rheinisch-Koblenzer Verfahren dahin um, dass von der Verweisungsmöglichkeit im größeren Umfang zunächst in Strafsachen, dann auch in Zivilsachen Gebrauch gemacht wurde (S. 280ff.). Seit 1834 war der neue Richter kraft Gesetzes an die Rechtsauffassung des RKH gebunden, dies in Abweichung vom französischen Recht. – Bei der 1825 erneut in Gang gekommenen Gesetzrevision spielten die Juristen des RKH eine bedeutsame Rolle, und zwar sowohl im Staatsrat als auch in den Gesetzrevisionsgremien. Die Beschäftigung altpreußischer Juristen am RKH dürfte die Akzeptanz großer Teile des französischen Rechts gefördert haben. Auch hat die Existenz des Gerichts in Berlin altpreußischen Juristen einen Rechtsvergleich ermöglicht, „der sich auf die Anschauung der praktischen Arbeit mit dem französischen Recht stützen konnte“ (S. 315). Unter den Revisoren und Korreferenten der einzelnen Pensen der Gesetzrevision machten die Juristen des RKH ein Drittel aus. Unter Savigny stellte der RKH die Hälfte der Mitglieder der Gesetzkommission. Auf das rheinisch-französische Recht ging durch Vermittlung von Mitgliedern des RKH vor allem die Reform des preußischen Rechtsmittelrechts zurück, das auch in der 3. Instanz in Zivilsachen eine Überprüfung der Tatfrage zuließ. Dies hatte zu einer Überlastung des Obertribunals und zu einer Zersplitterung der Revisionsgerichtsbarkeit geführt. Rainhardt, der Redaktor für das Zivilprozessrecht, schlug 1827 das bereits von Sethe und Savigny 1824 empfohlene kassationsähnliche Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde vor, das die Revision ersetzen sollte. Wenn sich auch die zivilprozessuale Deputation mit ihren Vorschlägen in der Gesetzrevisionskommission nicht voll durchsetzen konnte, wurde gleichwohl außerhalb der Gesetzrevision 1833 das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde eingeführt, mit dem nur noch Gesetzesverletzungen und die Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten geltend gemacht werden konnten und die die nur noch beschränkt zulässige Revision sukzessive verdrängte. Über die Brücke der rheinisch-französischen Kassation und der Nichtigkeitsbeschwerde gelangte 1877 ein der Kassation verwandtes Rechtsmittel in die Zivilprozessordnung, welches allerdings wegen seiner sehr freien Gestaltung bald zu einer Überlastung des Reichsgerichts führte. – Im letzten Abschnitt über die Rechtsprechung des RKH (S. 372ff.) geht die Verfasserin auf die gedruckten Urteile ein – die Originale sind nicht überliefert – sowie auf Urteilsinhalte im Überblick. Auch wenn das materielle Recht nur einen kleineren Teil der veröffentlichten Entscheidungen ausmacht, ist zu bedauern, dass die Verfasserin die Inhalte nur knapp auf die Inhalte behandelt (S. 402f.). In zahlreichen Urteilen trat der RKH einer Ausweitung neuen preußischen Rechts in den Rheinlanden erfolgreich entgegen, so dass sich auch Kamptz nicht mit seinem Konzept einer allmählichen Aushöhlung des rheinischen Rechts durchsetzen konnte. Damit hatte der RKH die Funktion eines „Wächters für die Beibehaltung der Rheinischen Gesetzgebung“ ausgefüllt, so dass man dieses Gericht auch als eine Art Verfassungsgerichtshof charakterisieren kann (S. 433f.).
Insgesamt hat der RKH damit die ihm von Beyme zugedachten Funktionen voll erfüllt und die Rezeption insbesondere der französischen Gerichtsverfassung und des französischen Prozesses durch die preußische Gesetzrevision maßgeblich gefördert, wenn dies auch von den an der Gesetzgebung Beteiligten vielfach verschleiert wurde. Im übrigen ist das Ausmaß der französischrechtlichen Einflüsse insbesondere auf die Rechtsvereinheitlichungskodifikationen der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts noch immer nicht hinreichend thematisiert. Die Darstellung der Thematik ist überzeugend gegliedert und ungeachtet einiger Längen gut lesbar. Die mitunter sehr knappen Zusammenfassungen hätten im ganzen aussagekräftiger sein können. Hervorzuheben ist, dass die Verfasserin auch die neuere rechtshistorische Literatur zur Geschichte des französischen Kassationsrechts herangezogen hat. Dagegen kommt die Biographie der Richter des RKH zumindest für die späteren Besetzungen etwas zu kurz. Nützlich wäre auch ein Verzeichnis der von 1819 bis 1852 am RKH beschäftigten Richter gewesen. Insgesamt liegt mit dem Werk von Seynsche ein weiteres Grundlagenwerk zur Geschichte des rheinischen Rechts und gleichzeitig zur preußisch-deutschen Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts vor, das weitere Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte des französischen Rechts im 19. Jahrhundert nahe legt.
Kiel
Werner Schubert