Karallus, Christine, Die Sichtbarkeit des Verbrechens
Karallus, Christine, Die Sichtbarkeit des Verbrechens. Die Tatortfotografie als Beweismittel um 1900 (= culture – discourse – history 6). Logos, Berlin 2017. 456 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Seit seiner Entstehung kann der Mensch seine Umwelt in seinem Gehirn mittels der Augen abbilden und vielleicht seit seinen Anfängen kann der Mensch Handlungen begehen, welche die Gegenwart als Verbrechen einstuft. Da sie in der Regel sichtbare Spuren hinterlassen, ist das Verbrechen für den Menschen zumindest möglicherweise mittelbar sichtbar. Da der Mensch seit dem elften Jahrhundert nach Mitteln der Sichtbarmachung zusätzlich zu seinen Augen suchte, war es für ihn ein großer Erfolg, dass in dem Frühherbst 1826 Joseph Nicéphore Niépce in dem Heliografieverfahren vermutlich die erste Fotografie der Welt als Blick aus dem Arbeitszimmer herstellen und damit das Zeitalter der Fotografie eröffnen konnte.
Mit dem Teilaspekt der Tatortfotografie als Beweismittel um 1900 beschäftigt sich innerhalb dieses weiten Rahmens die 2015 an der Universität der Künste in Berlin angenommene Dissertation der Verfasserin. Sie gliedert sich nach einem Vorwort Mladen Dollars über das Auge des Gesetzes und einer Einleitung über Konstellationen, Einordnungen, Interesse und Forschungsstand, Gegenstand Tatort und Tatortfotografie, die verfügbaren Quellen Tatortfotografien und Akten sowie das Vorgehen in zwölf Sachabschnitte. Sie betreffen Repräsentation, Materialkultur, die Entstehung des Faches Kriminalistik, den Iconic-Turn in dem Beweisen, die Suche nach Unmittelbarkeit bei der Spurensicherung, die Tatortsicherung in der vorfotografischen Zeit, die Fotografie als Bildregime des Rechts, die fotografische Arrestierung oder Arretierung eines Verbrechens, die Ikonophilien des Kapitaldelikts in einzelnen Fällen, Naturtreue als Diskurs, fotografische Authentizität als Rechtsprodukt und die Fotografie als Kompetenzpraktik.
Insgesamt erfragt die Verfasserin in ihrer von zahlreichen Fremdwörtern durchsetzten und mit vielen Abbildungen veranschaulichten Untersuchung, ausgehend von den ersten Tatortfotografien in Berlin um 1900 die Erzeugung eines strafprozessualen Beweiswerts durch Tatortfotografien in dem Rahmen der Tatortsicherung durch Augenschein. Dabei kann sie ansprechend zeigen, wie die Tatortfotografie dem persönlichen Augenschein durch das erkennende Gericht in mehreren Schritten allmählich gleichgesetzt wurde. Nach einer Entscheidung des Reichsgerichts von dem 5. Januar 1903, in der nach dem Umschlagtext erstmalig in der Rechtsgeschichte einer apparativen Bildtechnik das Recht erteilt wird, in dem deutschen Rechtssystem als Träger und Instanz rechtlicher und kriminalistischer Kommunikation zu operieren - verbürgt das festgehaltene Bild – als fotografische Vergangenheitsdimension - die Identität und Ursprünglichkeit der angefertigten Tatortfotografie.
Innsbruck Gerhard Köbler