Stadt – Gemeinde – Genossenschaft
Stadt – Gemeinde – Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, hg. v. Cordes, Albrecht/Rückert, Joachim/Schulze, Reiner. Schmidt, Berlin 2003. 500 S.
Gemäß dem Titel der Festschrift erfasst diese drei Teile mit Themen, die den hauptsächlichen Forschungsbereich des Jubilars abdecken. Der erste Teil ist dem Städtewesen gewidmet und beginnt mit einem Beitrag von Boudewijn Sirks über die Nomination für die städtischen Ämter im römischen Reich. Es geht um die Fragen, wie die städtische Ernennungsprozedur vor sich ging, welches der juristisch relevante Punkt bezüglich der Berufung und der Verpflichtung war und warum sich die Ernennungsprozedur während des ersten Jahrhunderts nach Christus geändert hat. Unter dem Titel „Gewaltmonopol und Wahrheit“ wendet sich Barbara Frenz städtischen Entwicklungstendenzen im strafrechtlich relevanten Verfahren des 13. und frühen 14. Jahrhunderts zu. Sie untersucht den Wahrheitsbegriff im strafrechtlichen Verfahren im Stadtrecht und zeigt, wie sich stadtobrigkeitliches Gewaltmonopol und materielle Wahrheit verhielten. Bernd Kannowski befasst sich mit dem „Willen als Verpflichtungsgrund nach land- und stadtrechtlichen Quellen im späten Mittelalter“. Es geht um die „Genese des ,bürgerlichen Rechts’ im Rahmen mittelalterlichen Stadtrechts“. Der kritischen Betrachtung der These von Wilhelm Ebel folgt eine Übersicht über den Forschungsstand und die Antwort auf die Frage, wieweit wurde der wirkliche Wille berücksichtigt und wie war es mit der Formfreiheit und erzwungenen Gelöbnissen in der Stadt. Bernhard Diestelkamp behandelt „Bürgerunruhen vor dem spätmittelalterlichen deutschen Königsgericht“. Er überblickt den Forschungsstand, gibt eine Übersicht über die betroffenen Städte von 1285-1478 unter den einzelnen Königen. Die königliche Gerichtsbarkeit wurde durch den König selber ausgeführt oder durch den Hofrichter oder königliche Kommissare als Richter, die sich intensiv mit Bürgerunruhen befassten, wobei sie in der Regel erfolgreich die Verletzung königlicher Rechte in der Stadt ahndeten und für die Lösung aus der Acht erhebliche Summen dem König wie dem Achtschatz einbrachten. In seinem Beitrag „Bischöfliche Stadtherrschaft und bürgerliches Ratsregiment in Würzburg“ stellt Dietmar Willoweit fest, dass sich die Ratsverfassung im Rahmen der durch die Verfassungstopographie der Stadt Würzburg gegebenen Möglichkeiten im allgemeinen in „normalen“ Bahnen entwickelte, dass aber, um die Ratsmitglieder zu bestellen, immer wieder Konflikte entstanden und dass der Bischof auf seinem alleinigen Gesetzgebungsrecht bestand. Die ersten Konflikte über die Besetzung der Ratsstellen treten in der Zeit auf, als die Spuren des gelehrten Rechts in Würzburg nachweisbar sind und man daher annehmen darf, dass die Kenntnis des gelehrten Rechts, was auch für andere Städte zutrifft, das Verfassungsdenken beeinflusst hat. „Rechtshistorische Brückenschläge“ nennt Katalin Gönczi ihren Beitrag, in dem sie sich zur Geschichte der städtischen Normfixierungen im spätmittelalterlichen Königreich Ungarn und ihrem europäischen Kontext am Beispiel des Schemnitzer Stadtrechts äußert, den äußeren Rahmen dieses Stadtrechts und seine Überlieferung festhält und die sozioökonomische Entwicklung der Bergstadt im Spätmittelalter und deren Rechtsaufzeichnung darlegt. Sie bezeichnet das Schemnitzer Stadtrecht als „einen Stein in jener Brücke der ungarisch-slowakischen rechtshistorischen Verbindung, die nach der Überwindung der bisherigen Forschungsdefizite neu aufgebaut werden kann“. Manlio Bellomo befasst sich auf Italienisch mit Juristen, Lehen und Stadt im aragonesischen Sizilien vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Er verneint bis ins 12. Jahrhundert einen Einfluss der Juristen auf die städtischen Rechtsverhältnisse, sieht ihn aber seit dem späteren Mittelalter als gegeben an. Ebenfalls italienisch geschrieben ist der Aufsatz Antonio Padoa Schioppas über die Verfassungsreform der Europäischen Union. Er legt die Grundlagen und Prinzipien einer Verfassung dar. „Die Stadt und die moderne Bürgergesellschaft“ wird von Lothar Gall behandelt. Er stellt fest, dass zumindest in Deutschland die Idee der Bürgergesellschaft und ihr Demokratieverständnis in der Entstehung und Entwicklung stark an die Stadt gebunden war und in ihr ihren Gestaltwandel erlebte.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit Gemeinde und Genossenschaft. Karl Kroeschell schreibt über „Burscap. Eine Dinggenossenschaft zwischen Land und Stadt“. Burscap ist sowohl ein ländlicher Gerichtsverband von ca. einem Dutzend Höfen unterschiedlicher Herren und Rechte als auch eine städtische Gemeinde. Beide aber weisen strukturell wichtige Gemeinsamkeiten auf und lassen sich mit gewissen Unterschieden beschreiben als Dinggenossenschaften. Mit „Genossenschaften vor den Toren der Stadt“ meint Hans-Jürgen Becker Gebiete unmittelbar vor den Stadtmauern mit einer agrarischen Struktur, aber rechtlich zur Stadt gehörend und in ihrem Friedens- und Bannrecht. Als Beispiele dienen die Reichsstädte Köln und Regensburg mit gemeinsamen Zügen, wie sie sich auch sonst in deutschen Gegenden zeigen. Wo sie nicht von der Stadt vereinnahmt wurden, bestanden sie neben der Stadtkommune als Einungen und Genossenschaften fort. Albrecht Cordes setzt das Rechtssprichwort „Burger und Bauer scheydet nichts dann die Mauer“ über seinen Beitrag, der die Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten herausarbeitet von Dörfern und Städten und besonderen Gemeindetypen, deren Ortsherr die Einwohner, die sich dort niederließen, mit stadtähnlichen Freiheitsrechten ausstattete, ohne aber diese Gründung zur Stadt zu erheben. Wieweit scheiden Befestigung, äußeres Erscheinungsbild, Bevölkerungszahl, genossenschaftliche Strukturen, Freiheiten und Rechte am Land Stadt und Dorf sowie Händler und Märkte und die Verschiedenheiten kommunaler Amtsträger? Die Antworten, die Cordes auf diese Fragen gibt, sind sehr beachtenswert. „Mösers Genossenschaftsbegriff“ wendet sich Karl H. L. Welker zu. Er zeigt, wie Justus Mösers Staatsdenken diesbezüglich interpretiert wurde, wie die Markgenossenschaft für Mösers Gesamtauffassung und Denken prägend war und seine Genossenschaftsauffassung kein für sich stehendes Denkmuster war. Möser interessierte nicht so sehr die Genossenschaft als Rechtsform, sondern als historisch gegebene Vereinigung von Landeigentümern. Ebenfalls mit dem Rechtsbegriff der Genossenschaft beziehungsweise seiner Entwicklung setzt sich Reiner Schulze auseinander. Er erläutert die Genossenschaftsbegriffe im 19. Jahrhundert, ihr Verhältnis zur Genossenschaftsbewegung, die Genossenschaft als Rechtsform, die Stellung des preußischen Genossenschaftsrechts von 1867 und des deutschen Genossenschaftsgesetzes von 1889, die neue Entwicklung für den Rechtsbegriff seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts und den neuen europäischen Genossenschaftsbegriff und seine Auswirkungen. Unter dem Titel „Stadt – Land – Recht – Agglomeration“ geht Joachim Rückert an vier Fallbereichen und normativen Beispielen dem Faktor „Recht“ im Bereich der Agglomeration nach, wobei sich erhebliche indirekte Wirkungen in den Bereichen Raumordnung und Finanzverfassung zeigen. Er strukturiert den Faktor „Recht“ in sieben Richtungen von unterschiedlichen Varianten und kommt zum Schluss, dass ein Wechsel des Systems von einem wesentlich eingreifenden zu einem wesentlich stützenden Faktor „Recht“ führte.
Ein dritter Teil des Buches ist „Stadt – Gemeinde – Genossenschaft“ gewidmet und wird eröffnet von Johannes Fried mit dem Aufsatz „Recht und Verfassung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und kollektiver Erinnerung. Eheschluss und Königserhebung Heinrichts I.“ Das Thema fällt zwar aus dem Gesamtthema heraus, bietet aber interessante Hinweise, wie Erinnerungsbilder als Bild und Gegenbild auftreten und einem autoritativen Gedächtnis zu verdanken sind, was aber zu Vorsicht gegenüber den Details der fraglichen Quellentexte gemahnt. Auch der Aufsatz „Evolution und Metamorphose der kollektiven Identitäten“ Paolo Prodis und die darin angestellten Überlegungen decken sich nicht ganz mit dem Hauptthema. Peter Blickle schreibt über „,Coniuratio’. Die politische Karriere einer lokalen Gesellschaftsformation“. Anhand einiger Beispiele belegt er die strukturellen Gemeinsamkeiten städtischer und ländlicher Coniurationen und hebt fünf allgemeine Merkmale hervor. Dass die coniurationes nicht nur eine Erscheinung des Mittelalters waren, sondern auch in der Frühneuzeit fortlebten, wird an weiteren Beispielen gezeigt. Dem folgt eine Prüfung des kreativen Potentials der coniuratio für Theorien, auf die sich die Moderne beruft. Die beiden folgenden Beiträge befassen sich mit Max Weber. Jürgen Weitzel untersucht „Max Webers Genossenschaft“ und Otto Gerhard Oexle „Max Weber und die okzidentale Stadt“. Weitzel kommt zum Schluss, dass eine schlüssige Konzeption von „Genossenschaft“ im Werk Webers nicht vorliegt, weil er auf die Herrschaft als Staatsersatz fixiert war. Oexle stellt fest, dass Webers Interesse an der okzidentalen Stadt im Kontext mit seinem tiefgehenden Interesse an sozialen Strukturen stand, einem Erbe Otto von Gierkes, und seinen Interessen an den Formen der Lebensführung.
Am Schluss des Bandes steht ein umfangreicherer Beitrag von Susanne Lepsius: „Die mittelalterliche italienische Stadt als ,Utopie’?. Eine Untersuchung am Beispiel von Hermann U. Kantorowicz, Georg Dahm und Woldemar Engelmann“. Diese drei Autoren werden anhand ihres biographischen und akademischen Werdegangs und ihrer wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit vorgestellt. Dann werden ihre Werturteile über die beschriebenen historischen Zustände erläutert und gesagt, wie sich daraus Erkenntnisse über ihre Persönlichkeit, zeitgenössischen Erfahrungen und ihr Interesse an der mittelalterlichen italienischen Stadt herleiten. Kantorowicz und Engelmann zeichnen ein freundliches, idealistisches Bild der italienischen Stadt im Mittelalter, Dahm ein finsteres. Frau Lepsius zeigt, wie die jeweiligen Wertungen des Mittelalterbildes der drei Autoren bereits von den zeitgenössischen Lesern und Rezensenten vermerkt wurden.
Das umfangreiche von Susanne Lepsius zusammengestellte Schriftenverzeichnis Gerhard Dilchers und ein von Bernd Kannowski erstelltes Verzeichnis der von Dilcher betreuten Dissertationen beschließen den Band, dessen Beiträge teilweise aus einem Symposion für den Geehrten hervorgegangen sind. Verschiedene Beiträge weisen auf den bedeutenden wissenschaftlichen Wert der Forschungen Gerhard Dilchers hin und setzen sich positiv mit diesen auseinander.
Brig Louis Carlen