Die Verwaltungsrechtswissenschaft in der frühen Bundesrepublik (1949-1977)

, hg. v. Kremer, Carsten (= Jus Publicum 269). Mohr Siebeck, Tübingen 2017. VII, 422 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

Die Verwaltungsrechtswissenschaft in der frühen Bundesrepublik (1949-1977), hg. v. Kremer, Carsten (= Jus Publicum 269). Mohr Siebeck, Tübingen 2017. VII, 422 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

In dem Laufe der Geschichte des Menschen ist die Selbstverwaltung gegenüber der Fremdverwaltung immer stärker zurückgedrängt worden. Irgendwann hat der Mensch den Staat entwickelt, der immer mehr Besitz ergreift. Mit der zunehmenden Verwaltung des Menschen durch den Staat hat sich die Notwendigkeit des Verwaltungsrechts und daraus das Erfordernis der Verwaltungsrechtswissenschaft ergeben.

 

Nach der Einleitung des seit 1992 in Rechtswissenschaft und neuerer sowie neuester Geschichte  in Freiburg im Breisgau und München sowie nach der zweiten juristischen Staatsprüfung in European and Comparative Law in Oxford ausgebildeten, 2006 als wissenschaftlicher Mitarbeiter Thomas Vestings in Frankfurt am Main mit einer Dissertation über die Willensmacht des Staates in der Form der gemeindeutschen Staatsrechtslehre Carl Friedrich von Gerbers promovierten, in Frankfurt am Main 2016 auf Grund seiner Schrift über die Vorsorge im allgemeinen Sicherheitsverwaltungsrecht für öffentliches Recht, Europarecht sowie neuere Rechtsgeschichte und neuere Verfassungsgeschichte habilitierten Herausgebers begann mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland für die Verwaltungsrechtswissenschaft eine neue Phase. Zwar knüpften die Vertreter des Faches nach 1945 überwiegend an die die in der konstitutionellen Monarchie des zweiten Deutschen Reiches und in der anschließenden Republik entwickelten verwaltungsrechtswissenschaftlichen Konzepte an. Aber ihnen stellte sich auch die Frage, inwieweit nach der überwundenen nationalsozialistischen Herrschaft die Rückkehr zu parlamentarischer Demokratie und die neue Verfassung des Grundgesetzes von 1949 Veränderungen der Dogmatik erforderten.

 

Für die geschichtliche Betrachtung dieser Fragestellung wurde 2012 ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Netzwerk geschaffen, das unter Koordination durch den Herausgeber 2013 und 2014 vier Netzwerktagungen abhielt, deren Beiträge der vorliegende, in zwei Teile über Verwaltungsrechtswissenschaftler der frühen Bundesrepublik und Perspektiven beteiligter Verwaltungsrechtswissenschaftler (Hans Heinrich Rupp, sehr persönlich Hans F. Zacher, Peter Badura) gegliederte aufschlussreiche Sammelband der Allgemeinheit zu ihrer Verfügung stellt. Betrachtet werden unter diesem personengeschichtlich ausgerichteten Gesichtspunkt in der natürlichen Altersabfolge Walter Jellinek (Groß Neues ist ja nicht nachzutragen), Hans Peters (Lehrer der Verwaltung), Hans Julius Wolff (Pedanterie oder Perspektive – Das „Verwaltungsrecht“), Fritz Morstein Marx (die Geburt der Verwaltungswissenschaft aus dem Geiste der Demokratie), Arnold Köttgen (Berichte aus dem Inneren der Verwaltung), Ernst Forsthoff (die andere Seite des Rechtsstaats), Gerhard Wacke (und das allgemeine Polizeirecht), Hans Peter Ipsen (ein technokratischer Meister der Begriffsprägung), Carl Hermann Ule (Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat), Otto Bachof (fortbilden, um zu bewahren), Joseph H. Kaiser (Interessenrepräsentation und Planung im funktional-kooperativen Staat), Karl Zeidler (eine Art Marschroute für ein unvollendetes Projekt aufstellen), Dietrich Jesch (demokratische Aufklärung), Hans Heinrich Rupp (ein Außenseiter, mittendrin), Hans F. Zacher (und die Entdeckung des Sozialrechts), Winfried Brohm (Dogmatik als „Zukunftswissenschaft“) sowie Peter Badura (der Zweck als Schöpfer des Verwaltungsrechts). Damit gelingt in jedem Falle eine eindrucksvolle Rekonstruktion der das Fach in der Untersuchungszeit beschäftigenden Themen und wird zugleich in großer Vielfalt gezeigt, dass sich die Lage des Einzelnen gegenüber dem Staate hauptsächlich formal und nicht grundlegend material geändert hat, weil die Selbstverwaltung des Einzelnen trotz aller Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber dem vordringenden Staat auch in den erfassten gut 30 Jahren zwischen 1945 und 1977 eher abgenommen als zugenommen hat.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler