Xenakis, Stefan, Untertanenprozesse an Reichsgerichten
SchildtXenakisuntertanenprozesseanreichsgerichten20180814 Nr. 16748a ZIER 8 (2018) 47. IT
Xenakis, Stefan, Untertanenprozesse an Reichsgerichten. Ein systematisch-bibliographischer Überblick (= Rechtshistorische Reihe 476). Lang, Frankfurt am Main 2018, 351 S. Besprochen von Bernd Schildt.
Die Einleitung beginnt mit einem leider in mehrfacher Hinsicht fehlerhaften Zitat aus zweiter Hand (Winfried Schulze, Die Entwicklung des „teutschen Bauernrechts“ in der Frühen Neuzeit, ZNR 1990, S. 134), und das obwohl der dort zitierte Titel (Johann Melchior Hoscher, Beiträge zur neuesten Geschichte der Empörung teutscher Unthertanen wider ihre Landesherren 1790) bereits seit 2012 als Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek verfügbar ist. Bei Xenakis wird daraus dann aber Johann Melchior Hoscher, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des teutschen Reiches. Teil 2, 183-184. Dieses ebenfalls digital verfügbare Werk stammt aber von Johann Stephan Pütter, den Schulze im gleichen Kontext zuvor zitiert hatte.
Erklärtes Ziel vorliegender Publikation ist die Erstellung eines Handbuchs der Literatur zu Untertanenprozessen an den Reichsgerichten zwischen Reichsreform und Französischer Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg in Gestalt einer „kommentierten Bibliographie“ verbunden mit „Interpretationsvorschlägen“ aus der „Akteursperspektive“ als „methodische(r)m Ansatz“. Die Notwendigkeit einer Untersuchung der in großer Zahl überlieferten Quellen an Hand der Repertorien zum Reichskammergericht räumt Verfasser zwar ein, weicht ihr aber gleichwohl aus (S. 12 N. 7). Die Verzeichnung der RHR-Akten scheint er aber nicht zu kennen, jedenfalls werden die entsprechenden Repertorien nicht berücksichtigt. Immerhin sind seit 2009 für den Reichshofrat sieben Bde. erschienen – Serie APA seit 2014 komplett und Serie Antiqua. Band 1 und 2 2009-2013. Untertanenkonflikte sind dort – wie in den rund 30 bislang zumeist nahezu vollständig vorliegenden Inventaren des Reichskammergerichts – durchaus nachgewiesen.
Ausgehend von der Referierung des Forschungsstandes (15-30) nimmt der Autor eine „Präzisierung und Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes“ (S. 30-34) in systematisch-sachlicher (Untertanenprozesse vor Gericht), zeitlicher (1495-1806) und räumlicher Hinsicht (Beschränkung auf den Zuständigkeitsbereich von Reichskammergericht und Reichshofrat) vor.
Anschließend werden Untertanenkonflikte unter dem Gesichtspunkt ihrer judiziellen Lösung durch Gerichte und Kommissionen nach dem Luhmannschen Modell der „Legitimation durch Verfahren“ als „Schlüsselmomente“ erst modellhaft nach deren Verursachung (Äußere Impulse, verursacht durch Herrschaft, oder aus der Bewegung selbst, aufbereitet durch Advokaten und Deputierte sowie durch Gerichte infolge veränderter Rechtslage) erst klassifiziert (S. 35-71) und dann exemplarisch als „Signifikante Schlüsselmomente in der Literatur“ verifiziert (S. 73-127). Schließlich erfolgt eine Systematisierung gemäß der Nachhaltigkeit der Konfliktlösung (S. 129-159) mit dem nicht überraschenden Ergebnis, daß in mehr als der Hälfte der untersuchten Konflikte deren nachhaltige Lösung durch einen Vergleich erfolgte. Andere Lösungsformen wie Urteile und Mandate, Aufgabe oder stillschweigendes Einvernehmen, Konfliktverlagerung oder Gewalt treten dahinter deutlich zurück.
Der eigentliche bibliographische Teil beginnt mit dem rund 500 Titel umfassenden Literaturverzeichnis, wobei unklar bleibt, wie der Verfasser bei deren Ermittlung vorgegangen ist. Selbstverständlich kann Vollständigkeit zwar angestrebt, aber tatsächlich kaum erreicht werden. Allerdings hätte der Rezensent ohne große Mühe eine ganze Reihe einschlägiger aber vorliegend nicht verzeichneter Beiträge insbesondere rechtshistorischer Provenienz ermitteln können. Bei dem Gegenstand der hier vorzustellenden Spezialbibliographie ein immerhin bemerkenswerter Befund. Genannt seien hier nur die grundlegende Arbeit von Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert. Zwei Teilbände 1985, der Aufsatz von Maria Schimke und Manfred Hörner, Prozesse zwischen Untertanen und ihren Herrschaften vor dem Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Europa im Umbruch 1750-1850, 1995, S. 279-303 und der von Gabriele Haug-Moritz und Sabine Ullmann herausgegebene und auch digital verfügbare Sammelband Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive. Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5. Jg. 2. Bd. 2015. Ein besonders signifikantes Beispiel für die unzureichende Berücksichtigung des rechtshistorischen Schrifttums bietet der von Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung 1981 ausführlich behandelte Konflikt der lippischen Stadt Lemgo mit ihrem Landesherrn (Graf Simon VI.). Dazu waren verschiedene Prozesse sowohl am Reichskammergericht als auch am Reichshofrat anhängig. Xenakis führt diesen Titel auf und ordnet ihn auch an verschiedenen Stellen seiner tabellarischen Sachgliederung ein. Schilling hatte aber zum einen nicht die juristischen Argumente der Parteien im Blick sondern sein Interesse galt der Frage wie sich der konfessionelle Konflikt auf die Ausbildung landesherrlicher Staatlichkeit auswirkte. Zum anderen konzentrierte er sich seinerzeit – mangels Verzeichnung der lippischen Reichskammergerichtsakten verständlich – auf die Reichshofratsprozesse und behandelte die Verfahren am Reichskammergericht eher summarisch am Rande. Diese Prozesse nehmen aber in der 2006 erschienenen Arbeit von Christian Vajen, Die rechtliche Anerkennung reformierter Reichsstände durch den Religionsfrieden vor Abschluß des Westfälischen Friedenvertrages, breiten Raum ein (S. 40-59). Die damit deutlich erweiterte Perspektive auf dezidiert rechtshistorische Fragestellungen dieser Untertanenprozesse vor den beiden höchsten Reichsgerichten wird von der Bibliographie nicht dokumentiert.
Im sechsten Kapitel wendet sich Verfasser sich dem „zweite[n] Schwerpunkt dieses Projekts“ zu, nämlich dem „Verzeichnen und zugänglich Machen der in der Literatur seit 1945 behandelten Untertanenprozesse.“ Dies erfolgt in vier tabellarischen Übersichten, die durch einen umfassenden Personen-, Orts- und Sachindex (S. 167-194) gut erschlossen sind. Zunächst wird ein alphabetisch geordneter Gesamtüberblick über alle Konflikte vor den Reichsgerichten gegeben (S. 235-253), der anschließend durch eine regionale Anordnung nach heutigen Bundeländern (S. 254-256) ergänzt wird. In der zweiten Tabelle erfolgt eine Klassifizierung nach insgesamt 14 „rechtlich relevante[n] Vorgänge[n]“ (S. 256-283), beispielsweise in: Verweigerungen, Gehorsamsaufkündigungen, Selbsthilfe, gewaltsamer Widerstand, Mandatsprozesse, Verfahren im Judizialgang. Exekutorialverfahren, Kommissionen etc. In der dritten Tabelle geht es um die Auswirkungen der in der Literatur beschriebenen Vorgänge auf die Konfliktlösung (S. 284-346), etwa um Konfliktsubstitution oder Konfliktausweitung, Delegation oder Selbsthilfe, Entscheiden/Offenlassen. Die Sinnhaftigkeit der abschließenden Liste mit Verweisen auf unterschiedliche Auseinandersetzungsformen (S. 347-350) innerhalb von ca. 12% der rund 500 Titel erschließt sich dem Rezensenten nicht.
Leider kann vorliegende in weiten Teilen auch sehr „theorielastige“ Bibliographie als verlässliches Hilfsmittel – jedenfalls was rechtshistorische Fragestellungen anlangt – nicht uneingeschränkt empfohlen werden.
Jatznick Bernd Schildt