Blauert, Andreas

*, Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (= Frühneuzeit-Forschungen 7). Bibliotheca academica, Tübingen 2000. Besprochen von Arne Dirk Duncker. ZRG GA 118 (2001)

DunckerBlauert20000914 Nr. 10152 ZRG 118 (2001)

 

 

Blauert, Andreas, Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (= Frühneuzeit-Forschungen 7). Bibliotheca academica, Tübingen 2000. 199 S.

Der Begriff der Urfehde ist nicht ohne denjenigen der Fehde denkbar und hat sich aus diesem entwickelt. Dennoch sollte die Urfehde noch Jahrhunderte nach dem Ende der Fehden Bestand haben: nicht mehr als Begriff des Fehderechts, sondern als solcher des Strafrechts.

Trotz einer relativ beachtlichen Zahl erhaltener Quellen von erheblicher Aussagekraft für Strafrechtsgeschichte und Sozialgeschichte wurde die Urfehde in der bisherigen Forschung nur selten thematisiert, in der Regel im Rahmen territorialgeschichtlicher Studien. Zum bisherigen Stand kann u. a. verwiesen werden auf Walter Asmus, Das Urfehdewesen Freiburgs i. Br. 1275-1520, Diss. jur. Freiburg 1923, Andrea Boockmann, Urfehde und ewige Gefangenschaft im mittelalterlichen Göttingen, Göttingen 1980, Otto Brunner, Land und Herrschaft, Ausgabe Darmstadt 1973, S. 24-27, Christine Bührlen-Grabinger, Urfehden im Ermstal. Von Stadt und Land Urach, von außeramtlichen Orten und vom Forst aus den Jahren 1440 bis 1584, Metzingen 1991, Wilhelm Ebel, Die Rostocker Urfehden, Rostock 1938, Alois Niederstätter, Vorarlberger Urfehdebriefe bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Dornbirn 1985 sowie auf St. Chr. Saar, Urfehde, HRG V, Sp. 562-570. Blauert gebührt das Verdienst, die erste in neuerer Zeit unternommene umfassende Gesamtschau der Urfehde in mehreren Territorien erstellt zu haben. Zudem handelt es sich um die erste Untersuchung zur Urfehde, die auch das 18. Jahrhundert ausführlich mit einbezieht. Er deckt dabei die Geschichte dieses Begriffs zeitlich nahezu von der Entstehung bis zum Ende ab, leistet wesentliche Beiträge zur Periodisierung und Quellenkunde der Urfehden, zur Bestimmung ihrer jeweiligen juristischen Verfahrensfunktion und ihrer formalen Elemente, insbesondere aber zu ihrer staatsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Bedeutung. Örtlich ist die Untersuchung auf eine Reihe von Territorien des deutschen Südwestens beschränkt. Teils sind dies die gleichen, zu denen schon frühere Arbeiten (s. o.) vorliegen, so daß sich insofern die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Thesen der Vorgänger ergibt. Teils handelt es sich aber auch um Erstbearbeitungen zuvor nicht oder kaum adäquat erfaßter Quellenbestände. Die regionale Abgrenzung ist sicher auch darauf zurückzuführen, daß die abgetrennte Bearbeitung eines weiteren Bestandes (Mitteldeutschland) geplant war und inzwischen von Blauert bereits begonnen wurde. Er arbeitet (vgl. S. 172) unter der Leitung Günter Jerouscheks am DFG-Forschungsprojekt „Das Urfehdewesen im mitteldeutschen Raum”. Hierfür wertet er u. a. die Archivbestände in Magdeburg, Weimar, Nordhausen, Mühlhausen, Goslar, Erfurt und Dresden aus.

Die Urfehde, ein meist eidlich bekräftigtes Friedensgelöbnis, ursprünglich ein Versprechen der Fehde-Beendigung, wird einleitend von Blauert (S. 13) mit Ebel definiert als der „Zufriedenheitseid des aus dem Gefängnis oder Zuchthaus oder Untersuchungshaft entlassenen Gefangenen, in welchem dieser die Haft als zu Recht vollzogen anerkannte und gelobte, sich nicht dafür zu rächen”.

Zentraler Teil der Einleitung sind sodann (S. 14-21) Musterbeispiele von Urfehden dreier Jahrhunderte: der Schwur Dietz von Thunngens im Rahmen der Beilegung einer Fehde (Schwäbisch Hall 1395), die Selbstverpflichtungen Simon Brunners bei der Entlassung aus dem Gefängnis (u. a. sich nicht für die erlittene Haft zu rächen und keine fremden Gerichte anzurufen - Salem 1582) und schließlich die Beschreibungen sozial randständiger Personen, die des Landes verwiesen wurden und in ihrer Urfehde Strafe und Landesverweis formal akzeptieren mußten (Vorderösterreich 1769). Diese Fälle werden stellvertretend für drei scharf voneinander unterschiedene Typen der Urfehde aufgeführt, die im Laufe der Jahrhunderte aufeinander folgten. Blauert ist damit eine hervorragende, methodisch nachahmenswerte Einleitung gelungen, die gezielt anhand konkreter Beispiele wesentliche Inhalte seines Gegenstands umreißt. Im Anschluß (S. 21-32) werden Forschungsziele entwickelt und ein Überblick über bisherige Lösungsansätze gegeben.

Den Hauptteil gliedert Blauert in zwei Abschnitte. Der erste behandelt „Urfehdewesen und alte Gerichtsbarkeit im deutschen Südwesten”, der zweite („Urfehde und abweichendes Verhalten”) wertet die Archivbefunde kriminalitätsgeschichtlich aus.

Zunächst werden - sehr schön durch Tabellen und Diagramme aufbereitet - die herangezogenen Archivalien beschrieben und nach Ort und Entstehungsdatum zunächst in erster Linie quantitativ analysiert (S. 33-45). Einbezogen werden Freiburg im Breisgau, Hohenzollern-Hechingen, Nördlingen, Salem, Schwäbisch Hall, Speyer (Reichsstadt und Hochstift), Württemberg sowie die vorderösterreichische Regierung in Freiburg. Bereits hier wird die enorme Materialfülle deutlich, die mit einer ortsübergreifenden Studie zwangsläufig verbunden ist. Dies führt letztlich dazu, daß Blauert aus Tausenden von Belegen nur eine begrenzte Zahl im Detail untersuchen kann. So werden u. a. für die entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen 50-Jahres-Schnitte gelegt (S. 45, 54). Im weiteren Verlauf wird zunächst die Aufzeichnungsform der Urfehde untersucht (selbständige Urkunde bzw. in ein Amtsbuch eingetragenes Protokoll, S. 45-53). Die typischen formalen Elemente dieser Varianten werden beschrieben. Abschließend wird die - angesichts der Quellenbefunde gut nachvollziehbare - These aufgestellt, die Form folge hier weniger dem Ermessen des jeweiligen Gerichtsschreibers, sondern mehr der Funktion. Die Überlieferung als selbständige Urkunde steht so eher für frühe Zeiten der Urfehde, in denen auch dem Schwörenden noch eine relativ selbständige Position zukam. In den nun folgenden entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen (S. 54-74) kommt Blauert zu einer Einteilung der Entwicklung in drei Abschnitte. Diese war ja bereits im Vorwort umrissen worden und wird nun näher belegt. Auf die mit der Fehde (Sühnevereinbarung) verbundene Streiturfehde des 14. und frühen 15. Jahrhunderts folgt die an die Haftentlassung anknüpfende Hafturfehde des 15.-17. Jahrhunderts und im 17. und 18. Jahrhundert die Urfehde als Aufenthaltsverbotsschwur der Vagabunden und sozial Deklassierten, so daß Urfehde und Landesverweisung nahezu synonym werden. Der verboten Wiedereinreisende wird so zugleich zum Meineidigen, dem die Schwurfinger entfernt werden können. Die Entwicklung ist im Laufe der Jahrhunderte durch ein stufenweises soziales Herabsinken der Schwörenden gekennzeichnet. Die bisher gängige Zweiteilung in Streit- und Hafturfehde wird im Ergebnis erweitert, indem innerhalb der Hafturfehde zwei Entwicklungsstadien gebildet werden. Die laufenden weiteren Forschungen, u. a. zu Mitteldeutschland, werden zeigen, inwieweit die Urfehde tatsächlich im 18. Jahrhundert weitgehend Aufenthaltsverbot war. Dafür spricht allerdings auch die Gleichsetzung mit dem Landesverweis im auf S. 79-81 besprochenen Carolina-Kommentar Frölichs von 1733. Diese Besprechung ist Teil einer Untersuchung der Archivbefunde im Kontext des zeitgenössischen juristischen Schrifttums (S. 75-89). Dabei wird auf lokales Gewohnheitsrecht und Gerichtsgebrauch als hauptsächliche Quelle der in Art. 108, 176 CCC vorausgesetzten Urfehde verwiesen. Zudem wird der zunehmende Inhaltsverlust bei der Form der Eidesleistung analysiert. Während es sich bis ins frühe 17. Jahrhundert um einen feierlichen Rechtsakt unter Beteiligung von Bürgen, Sieglern und Zeugen handeln konnte, läßt sich der Ablauf in der Spätzeit als schnell durchgeführter Verwaltungsakt unter mehr oder weniger gezwungener Mitwirkung des Gewaltunterworfenen beschreiben. Auch hier folgt die Form der Funktion.

Der zweite Teil der Arbeit - Kriminalitätsgeschichte - besteht aus vier regional und zeitlich eingegrenzten Schwerpunktuntersuchungen zu Freiburg (14.-18. Jahrhundert, S. 90-103), Schwäbisch Hall und Nördlingen (Spätmittelalter, S. 103-118), Hochstift und Reichsstadt Speyer (16./17. Jahrhundert, S. 118-136) sowie Schwäbisch Hall und Vorderösterreich (17./18. Jahrhundert, S. 136-152). Blauert arbeitet hier erneut mit der quantitativen Auswertung der vorgefundenen Bestände. Er erstellt eine Reihe von Tabellen und Diagrammen, die sich neben der zeitlichen Verteilung der Fälle in erster Linie mit der Deliktverteilung befassen. Ihm gebührt besondere Anerkennung für dieses sicherlich sehr zeitaufwendige Unterfangen, bei dem außerordentlich umfangreiche Archivbestände Verwertung fanden (vgl. nur die Tabelle S. 95, Ergebnis der Durchsicht von über 900 Freiburger Urfehden). Vier Deliktsgruppen werden gebildet: Vergehen gegen die Person (Gewalt), Vergehen gegen die Obrigkeit, Vergehen gegen das Eigentum, Vergehen gegen die Moral. Sehr verkürzend lassen sich die Ergebnisse wie folgt umschreiben: Obrigkeits- und Gewaltvergehen sind im 14. und frühen 15. Jahrhundert von herausragender Bedeutung, danach (in Freiburg ab den 1550er Jahren) nimmt ihr Anteil ab. Der Anteil von Moral- und Eigentumsdelikten steigt dagegen. In der Zeit um 1500 ist ihre Bedeutung territorial unterschiedlich, in späteren Zeiten zumeist sehr groß. Dabei spiegeln sich unterschiedliche obrigkeitliche Verfolgungsschwerpunkte (oder unterschiedliche Definitionen verbrecherischen Verhaltens) in den Aufstellungen. So führen in Schwäbisch Hall um 1760 zu etwa 70% Unzuchtsdelikte zur Urfehde, in Vorderösterreich zu etwa 85% Eigentumsdelikte.

Doch Blauert arbeitet hier nicht nur quantitativ. Er stellt darüber hinaus zu jedem der untersuchten Bestände eine Reihe zentraler Quellen durch kurze kommentierte Inhaltsangaben vor. Dabei entwickelt er aus den Quellen heraus Zusammenhänge des Urfehderechts, der Verfolgungs- und Reformprogramme lokaler Obrigkeiten, der Entwicklung abweichender Verhaltensformen. Ein ganz vorzüglicher Abschnitt ist hier beispielsweise S. 127-134 (mit Interpretation auf S. 134-136) zu Speyer. Dort werden die Vergehen und Bußen vor allem Geistlicher geschildert, die sich dem Pfälzer Wein, der Rauferei oder der „Unzucht” ergeben hatten. Dies ermöglicht einen einzigartigen, farbigen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Zeit um 1600 und das Umfeld kirchlicher Reformbemühungen (vgl. hierzu auch S. 23-24: Urfehden als „Ego-Dokumente”, welche die Geschichte der Erfahrung und Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen schreiben). Ähnliches läßt sich u. a. zu den Vaganten in Vorderösterreich (S. 145, 147-149), zu „Vnfur” (Unfug, üble und rohe Art) und Ungehorsam in Nördlingen (S. 111-115) oder zur Landesbefriedung in Schwäbisch Hall (S. 106-109) sagen. Es wäre allenfalls zu wünschen, daß solche wichtigen und hervorragend lesbaren Zusammenstellungen noch länger wären, daß sie das Archivmaterial noch weiter ausschöpften. Gerade dies spricht aber nicht gegen, sondern für die betreffenden Abschnitte. Die Quintessenzen der regionalen Untersuchungen: In Freiburg läßt sich eine Entwicklung von Gewaltdelikten hin zu Moral- und Eigentumsdelikten nachvollziehen. Schwäbisch Hall und Nördlingen stehen für den Versuch der Befriedung von Stadt und Umland an der Wende zur Neuzeit, Schwäbisch Hall dabei beispielhaft für die „Aussöhnungen” mit Fehdegegnern, Nördlingen für den Umgang mit Stadtbewohnern durch hohe Strafandrohung und gnadenweise gewährte Strafmilderung nebst disziplinierender Auflagen. Speyer kennt Strafverfolgung und Urfehde als Mittel der - hier katholischen - Konfessionspolitik, gerichtet gegen Wiedertäufer, gegen sittliche Lässigkeit von Geistlichen und schließlich auch zur Sittenverbesserung von Laien. In Fällen des 18. Jahrhunderts sind es meist Angehörige der Unterschichten, denen eine Urfehde abverlangt wird. In Schwäbisch Hall, wo man bevorzugt das Sittenleben der Einwohner maßregelt, sind es häufig Knechte und Mägde, die im übrigen, so ist zu vermuten, durch ihre Verfolgungsfurcht wohl zur Tötung neugeborener unehelicher Kinder gedrängt werden. In Vorderösterreich verfolgt man in erster Linie Diebstahlsdelikte der Vaganten. Hier bedeutet Urfehde zugleich Landesverweis und die dauernde Ausgrenzung einer Schicht sozial Deklassierter aus der Gesellschaft, was, wie Blauert zutreffend feststellt, eher zur Fortsetzung als zur Unterbindung des Diebesunwesens führte.

Im Schlußteil (S. 153-174) werden die Ergebnisse in deutscher und englischer Sprache zusammengefaßt, zudem wird im Rahmen eines kurzen Vergleichs auf die laufenden Forschungen Blauerts zu mitteldeutschen Urfehden hingewiesen. Besondere Beachtung verdient die Stellungnahme zum Urfehdewesen im Modernisierungsprozeß. Hier sind sicher verschiedene - in der Untersuchung auch berücksichtigte - Vorbehalte notwendig: Die mit Urfehde belegten Taten sind nicht identisch mit der Gesamtheit verfolgter Taten und diese nicht mit der Gesamtheit tatsächlich verübter Straftaten. Weiterhin ist es etwas zweifelhaft, ob allein aus Urfehdeprotokollen ein Beleg entweder für die gesamtgesellschaftliche Verringerung der Gewalt gewonnen werden kann (im Sinne einer „Zivilisierung”) oder für die Feststellung, Gewalt sei sozusagen eine menschliche Konstante und sie sei lediglich umgelenkt worden. Blauert, der eher der zweiten Auffassung zuneigt, erkennt selbst, daß diese sich aus den Urfehden (in welchen die Gewaltdelikte ja abnehmen) nicht begründen läßt, und beschränkt sich darauf, darzulegen, warum trotz des feststellbaren Rückgangs der Gewalt in Urfehden auch die erstgenannte Ansicht sich nicht aus den Urfehden begründen ließe. Seine Argumentation (S. 116-118, 166-168, lediglich äußere Pazifierung, Umlenkung, aber keine Reduktion der Gewalt) ist erwägenswert.

Es wäre aufschlußreich gewesen, über das vorgefundene Material hinaus explizit solche Stimmen oder Vorgänge zu finden, die in der Zeit um 1800 dort, wo die Urfehde noch existierte, speziell in den jeweiligen Territorien zu ihrem Ende beitrugen (vgl. hierzu Feuerbachs Kritik an der Urfehde als einer verwerflichen Einrichtung). Allerdings kann vermutet werden, daß solche Aufzeichnungen in den untersuchten Territorien nicht mehr existierten oder nicht aussagekräftig waren.

Abschließend kann Blauerts Untersuchung als ein wesentlicher Gewinn für die Urfehdeforschung betrachtet werden. Es handelt sich um ein sowohl hinsichtlich der Vielzahl untersuchter Quellen als auch der Untersuchungsdichte beeindruckendes Werk, das wichtige Abschnitte der Urfehden erstmals untersucht und die Urfehden insgesamt mit neuen sozialgeschichtlichen Fragestellungen konfrontiert, die wohl maßgebliche Vorgaben für bevorstehende Forschungen setzen werden. Hier ist insbesondere das bevorstehende Werk Blauerts über die Urfehden in Mitteldeutschland mit Spannung zu erwarten.

Hannover                                                                                 Arne Duncker