Szidzek, Christian, Das frühneuzeitliche Verbot

der Appellation in Strafsachen. Zum Einfluss von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 4). Böhlau, Köln 2002. XXIX, 185 S. Besprochen von Rita Sailer. ZRG GA 121 (2004)

Szidzek, Christian, Das frühneuzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen. Zum Einfluss von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 4). Böhlau, Köln 2002. XXIX, 185 S.

 

Die von Jürgen Weitzel betreute Würzburger Dissertation geht der Frage nach, weshalb die Appellation an das Reichskammergericht gerade in Strafsachen 1530 reichsgesetzlich verboten wurde und bemüht sich um eine Aufhellung der rechtswissenschaftlichen und politischen Hintergründe für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung des Verbots. Das Thema verdient Aufmerksamkeit, da das Appellationsverbot in Strafsachen in unlösbarem Zusammenhang mit der Entstehung der Constitutio Criminalis Carolina steht: Obgleich es widersprüchlich und damit klärungsbedürftig erscheint, dass man sich auf Reichsebene einerseits um eine Reform der Strafrechtspflege bemühte, andererseits aber dem Reichskammergericht die Kontrolle der territorialen Strafjustiz versagte, fehlt es bislang an einer eingehenden Untersuchung der für die Geschichte der Rechtsmittel und der Strafgerichtsbarkeit bedeutsamen Problematik.

 

Der erste und trotz der dürftigen Quellenlage zugleich aufschlussreichste Abschnitt der Arbeit ist der Entstehungsgeschichte des § 95 des Augsburger Reichsabschiedes gewidmet. Bei der Rekonstruktion der Vorgänge, die zum Appellationsverbot in Strafsachen führten, musste sich der Verfasser mit wenigen, meist gedruckten Quellen zufrieden geben, da sich weder in der Reichskanzlei noch im Mainzer Erzkanzlerarchiv einschlägige Akten auffinden ließen. Zudem sind zum Augsburger Reichstag keine Kurienprotokolle des Kurfürsten- und Fürstenrates überliefert, und die einzelständischen Protokolle beschäftigen sich ebenso wie die Korrespondenzen in erster Linie mit der Konfessionsproblematik und nicht mit dem strafrechtlichen Appellationsverbot. Der Umstand, dass in den Unterlagen, die im Verzeichnis der Reichskanzlei unter der Überschrift „Vom Halsgericht, von Richtern, Urtheilern u. Gerichtspersonen“ angegeben wurden, von 14 von 15 Seiten ausgeschnitten, d. h. nachträglich entfernt wurden, belegt die Schwierigkeit der Ermittlung archivalischer Quellen und vermag zu erklären, weshalb der Verfasser teilweise sogar auf Quellenzitate in der älteren Literatur angewiesen blieb.

 

Es mutet fast wie eine Ironie der Geschichte an, dass ausgerechnet das Reichskammergericht selbst mit einer Schrift an den Reichstag zu Lindau 1496 nicht nur den Anstoss für die reichsgesetzliche Strafrechtsreform, sondern zugleich für das Appellationsverbot in Strafsachen gegeben hat: Das Gericht bat um Belehrung, wie man mit Beschwerden aus dem Bereich des Strafrechts verfahren solle, verband dies mit einer Darlegung der Missstände in der Strafjustiz und bat die Stände um Abhilfe. Zunächst deutete alles darauf hin, dass das Reichskammergericht eine entscheidende Rolle bei der Strafrechtsreform spielen sollte: Der Reichstag zu Augsburg erteilte 1500 dem Reichskammergericht und dem neu geschaffenen Reichsregiment den Auftrag, Vorschläge für ein Reformgesetz auszuarbeiten. Zudem sah der Reichstag ebenso wie das Gericht das entscheidende Reformziel darin, die Verurteilung Unschuldiger zu verhindern. Gegenströmungen wurden zuerst auf dem Reichstag zu Trier 1512 sichtbar: Bei der Ergänzung der Landfriedensordnung fügte man den ausdrücklichen Vorbehalt hinzu, dass man sich hüten wolle, den Territorialherren ihre Strafgerichtsbarkeit streitig zu machen. Auf dem Reichstag von Augsburg von 1518 zeigte sich dann auch eine Veränderung der rechtspolitischen Reformziele: Kaiser Maximilian begründete das Wiederaufgreifen des Reformprojekts mit der Sorge über die Unruhen der Untertanen im Reich, deren Ausbreitung man verhindern müsse. Den zentralen Missstand sah Maximilian darin, dass die Missetaten bislang entweder gar nicht oder zu gering bestraft worden seien. Demgegenüber stellten die kaiserlichen Räte in ihrem Gutachten – ebenso wie zuvor das Reichskammergericht – die widerrechtlichen und willkürlichen Verurteilungen als Kern des Übels heraus, die insbesondere in der ungebührlichen Anwendung der Folter ihren Grund hätten. Zugleich rügten die kaiserlichen Räte, dass man die Appellation an das Reichskammergericht behindere. Der Wormser Reichstag von 1521 griff das Appellationsproblem auf: Im Entwurf der Carolina billigte man dem Verurteilten oder seinen Verwandten das Recht zu, an das Reichskammergericht zu appellieren; allerdings sollte die Appellation erst nach der Vollstreckung des Urteils möglich und bei Kapitalverbrechen ganz ausgeschlossen sein. 1529 richtete das Reichskammergericht noch einmal eine Anfrage an den Reichstag: Offenbar ging das Gericht noch davon aus, dass die Appellation in Strafsachen grundsätzlich zulässig sei und bat um Feststellung, welche Fälle davon ausgenommen sein sollten. Die Antwort blieb allerdings aus. Aus dem Entwurf zur Carolina von 1529 wird deutlich, dass die Würfel zu dieser Zeit wohl gefallen waren: Art. 226 enthielt bereits ein generelles Appellationsverbot. Zwar fanden sich ein Jahr später in Augsburg offenbar noch Befürworter der Appellationsmöglichkeit, sie konnten sich jedoch gegen die schon in Trier sichtbar gewordene Gegenströmung nicht mehr durchsetzen. Der Kardinal von Lüttich stellte den Antrag auf ein Appellationsverbot in Strafsachen und begründete dies mit der Notwendigkeit schleuniger Bestrafung. Das ursprüngliche Anliegen der Strafrechtsreform, die Bestrafung Unschuldiger zu verhindern, hatten die Reichsstände offenbar längst aus den Augen verloren. Das Appellationsverbot wurde in den Reichsabschied aufgenommen und der Beschluss der Halsgerichtsordnung nochmals verschoben. Resigniert hielt der Mainzer Domizellar Tetleben in seinem Reichstagsprotokoll fest, dass die Reform nur deshalb unter der Bank stecken bleibe, weil jeder Kurfürst und Fürst im Reich Kaiser und König in seinem Fürstentum sein wolle.

 

Der nächste Abschnitt der Arbeit beschäftigt sich mit der Entscheidungspraxis des Reichskammergerichts in strafrechtlichen Appellationen. Obwohl der Verfasser seiner Untersuchung nur sieben von insgesamt 18 Repertorien durchgesehen hat, ohne diese Auswahl zu begründen, zeigt der daraus gewonnene Befund doch deutlich, dass das Gericht zu Beginn seiner Tätigkeit durchaus Appellationen in Strafsachen angenommen hat. Allerdings ist die Anzahl verglichen mit den zivilrechtlichen Appellationen gering, zudem betreffen 2/3 der Fälle Injuriensachen, die nicht ohne weiteres als reine Strafsachen zu qualifizieren sind. Appellationen gegen Urteile in schweren Strafsachen scheint das Reichskammergericht nur in Akkusationsprozessen angenommen zu haben. Nach 1530 finden sich nur noch Appellationen gegen Strafurteile, die keine Leib- oder Lebensstrafen aussprachen und vom Appellationsverbot des Augsburger Reichsabschiedes nicht erfasst waren. Dieser Befund widerlegt - ebenso wie die Entstehungsgeschichte und die strafrechtlichen Appellationsprivilegien - die in der Forschung geäußerte These, dass eine strafrechtliche Zuständigkeit des Reichskammergerichts zu Beginn der Neuzeit überhaupt nicht mehr zur Debatte gestanden habe.

 

In den folgenden Abschnitten versucht der Autor, die Auswirkungen des reichsgesetzlichen Appellationsverbotes auf die Zuständigkeit des Reichshofrates und die Gerichtsverfassung den Territorien zu ergründen. Zwar sind abschließende Antworten auf diese Fragen im Rahmen einer Dissertation beim derzeitigen Stand der Forschung und der Quellenerschließung ohnehin nicht zu erwarten, enttäuschend ist jedoch, dass der Verfasser auch die vorhandenen Erkenntnisquellen nicht ausreichend nutzt. Bei der Darstellung des Instanzenzuges begnügt er sich mit dem Herzogtum Bayern, der Reichsstadt Nürnberg und dem Hochstift Würzburg, ohne die Auswahl gerade dieser Territorien sachlich zu begründen. Unverständlich bleibt, weshalb der Verfasser zwar einerseits die zeitraubende Ermittlung archivalischer Quellen für ein einziges Territorium nicht gescheut hat, andererseits aber auf die Auswertung der zahlreichen Spezialuntersuchungen verzichtet, die für einige Territorien vorliegen, obwohl dies mehr zur Beantwortung der von ihm aufgeworfenen Frage beigetragen hätte. Zur Erhellung der Rechtsprechungspraxis des Reichshofrates hat der Verfasser ein aufschlussreiches Beispiel einer Appellation aus dem 18. Jahrhundert aus den Reichshofratsakten ausgegraben. In dem geschilderten Fall ging es um die prozessuale Frage, ob genügend Indizien für Zauberei vorliegen, um die Beschuldigte der Tortur auszusetzen und damit eigentlich um einen Fall der Nichtigkeitsbeschwerde. Der Fall zeigt, dass offenbar noch im 18. Jahrhundert nicht alle Anwälte zwischen Appellation und Nichtigkeitsklage zu unterscheiden wussten und somit Gefahr liefen, abgewiesen zu werden, weil sie das falsche Rechtsmittel gewählt hatten. Ob der Reichshofrat dennoch auf einen Prozess erkannt hat, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Leider geht der Verfasser an keiner Stelle auf die Unterschiede zwischen Appellation und Nichtigkeitsbeschwerde ein, obwohl sich die Frage, ob die Appellation zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes neben der Nichtigkeitsklage überhaupt notwendig war, nicht zuletzt in dem von ihm dargestellten Beispiel geradezu aufdrängte.

 

Das letzte Kapitel der Arbeit bemüht sich um Lösungsansätze zur Erklärung des Appellationsverbotes, die jedoch etwas an der Oberfläche bleiben, da der Aussagewert der Quellen nicht ausgeschöpft und die Befunde auch nicht in den rechts- und sozialhistorischen Kontext eingeordnet werden. Die Feststellung, dass „weniger rechtswissenschaftlich-dogmatische Erwägungen, als vielmehr eine Kombination aus sicherheitstechnischen und machtpolitischen Gründen“ (S. 151) den Ausschlag für die Aufstellung und Aufrechterhaltung des Appellationsverbotes in Strafsachen gaben, liegt angesichts der Entstehungsgeschichte auf der Hand. Weniger offensichtlich ist jedoch, weshalb die rechtspolitischen Reformziele, die am Ende des 15. Jahrhundert in der Gründung des Reichskammergerichts und im Beschluss zur Strafrechtsreform ihren Ausdruck fanden, schon bald keine Mehrheit im Reichstag mehr fanden. Welche Rolle die Konfessionsproblematik dabei spielte, wird ebenso wenig erörtert wie die Frage, welche Bedeutung die Bauernunruhen für die kriminalpolitischen Erwägungen des Kaisers und der Reichsstände einnahmen.

 

Auch die rechtshistorischen Entwicklungsverläufe werden nicht erschöpfend behandelt: Zwar kann die Arbeit belegen, dass weder das römische noch das kanonische Recht die Ausbildung des Appellationsverbotes vorgaben. Das Rechtsmittelsystem des einheimischen, mittelalterlichen Gewohnheitsrechts und seine Eigenart werden jedoch nicht ausreichend beleuchtet: In der einheimischen Rechtspraxis spielte das Einholen von Rechtsrat bei einer rechtskundigeren Stelle die zentrale Rolle, nicht die Kontrolle der Gerichte durch übergeordnete Instanzen. Auch die Carolina ordnete in Art. 219 an, dass die Gerichte in zweifelhaften Fällen bei Oberhöfen oder Universitäten um Rat fragen sollen; sie sah somit ein „Rechtsmittel“ vor, das den überlieferten Formen entsprach und der Obrigkeit zugleich die Möglichkeit ließ, ihre Autorität nach außen zu wahren.

 

Insgesamt bietet das Buch dennoch aufschlussreiche Erkenntnisse zur Entstehung des Appellationsverbotes und zugleich eine Anregung für die Forschung, seine Auswirkungen auf die Effektivität des Rechtsschutzes im Bereich des Strafrechts näher zu beleuchten.

 

Freiburg im Breisgau                                                                                                  Rita Sailer