Decker, Oliver, Die Entstehung der bayerischen Notariate

– Politikum und Institutionalisierung. Notariat und Notariatsgesetzgebung im Königreich Bayern 1848 bis 1862 (= Rechtsgeschichtliche Studien 79). Kovač,  Hamburg 2018. 434 S. Besprochen von Werner Schubert.

Decker, Oliver, Die Entstehung der bayerischen Notariate – Politikum und Institutionalisierung. Notariat und Notariatsgesetzgebung im Königreich Bayern 1848 bis 1862 (= Rechtsgeschichtliche Studien 79). Kovač,  Hamburg 2018. 434 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

In seiner Münchener Dissertation befasst sich Decker im Schwerpunkt mit dem 1851 gescheiterten Notariatsgesetz sowie mit dessen Verabschiedung im Jahre 1861. Vorbild für das bayerische Notariat war das französische Ventôse-Gesetz von 1803, das in der bayerischen Pfalz nach 1814 weitergalt (S. 24ff.). Das sog. Grundlagengesetz vom 4. 6. 1848 und das Gesetz betreffend die Gerichtsverfassung vom 25. 7. 1850 (S. 27ff.), das erst mit dem Erlass eines Notariatsgesetzes in Kraft treten sollte, sollte die bayerische Justiz auf liberale Grundlagen stellen (vgl. hierzu und zur Folgezeit auch Christoph Fellner, Die Reform der bayerischen Zivilrechtspflege von den ersten Anfängen des Landtags im Jahre 1818 bis zur Gründung des Deutschen Reichs, Diss. iur. Kiel, 1986, S. 25ff.). Der Entwurf zu einem Notariatsgesetz lag der Kammer der Abgeordneten (KdA) am 1. 3. 1851 vor und ging nach deren Beratungen an die Kammer der Reichsräte (KdRR), welche die Vorlage ablehnte. Da sich die Kammern über mehrere Bestimmungen des Entwurfs nicht einigen konnten (die erste Kammer lehnte die Vorlage schließlich gegen 5 Stimmen ab), zog die Regierung unter v. d. Pfordten die Vorlage am 25. 11. 1851 zurück (S. 50ff.).

 

Im Anschluss an den Überblick behandelt Decker S. 53-93 die Vorlage im Detail. Die konservative Mehrheit der KdRR unter Führung des Grafen Carl von Seinsheim (S. 54ff.) sah in der Übertragung bisher gerichtlicher Aufgaben auf einen „selbständigen Notar“ den „Verlust eines Kronrechts“. Insbesondere ging es um die Frage, ob der Notar aus administrativen Gründen sollte versetzt werden können, um die Vollstreckungsmöglichkeit notarieller Urkunden ohne vorherige Zustimmung der Parteien und um die Nichtigkeitsklausel in Art. 13 des Entwurfs für Immobiliargeschäfte (vgl. S. 40f.). Ferner wurde das Notariat – zu Unrecht – im Hinblick auf die politischen Aktivitäten der liberalen Pfälzer Notare als „Kind der Revolution“ angesehen (S. 73ff.). Weiter kamen zur Sprache eine „drohende Bevormundung“ der Parteien durch einen selbständigen Notar (S. 85) sowie der Vorwurf der Käuflichkeit des Notariats, obwohl hierzu Schutzvorschriften vorgesehen waren, und des Gewinnstrebens (Förderung der Güterzerstückelung; S. 90ff.)). S. 117ff. geht Decker auch ein auf die in dem Werk: „Les Mystères de Paris“ von seinem Autor Eugène Sue sehr negativ beurteilte literarische Figur des Notars Jaques Ferrant (u. a. deutsch in 7. Auflage 1844), die eine zwar geringe, „doch nicht gänzlich unbedeutende Auswirkung auf das Bild des Notars in Bayern zu jener Zeit“ (S. 117) gehabt haben dürfte. Ausgewertet werden auch die umfangreichen Artikel in der gemäßigt liberalen und immer königstreuen „Neuen Münchener Zeitung“ von 1851, welche für das Notariatsgesetz eintrat und die Haltung der KdRR missbilligte. In einem Anhang druckt Decker aus den Kabinettsakten des Königs Maximilian II. (in dessen Nachlass in BayHStA, Geh. Hausarchiv) vornehmlich von dem Kabinettsrat v. Abel stammende Gegengutachten zum Notariatsgesetzentwurf. Es fehlt eine detaillierte Einordnung der abgedruckten Quellen sowie ein näheres Eingehen auf das Verhältnis des Königs zu Karl August von Abel sowie auf dessen Biografie.

 

1856 erging das Gesetz „die executorischen Urkunden betr.“, wodurch eigene „Nebenbeamte für das Notariat vor den Gerichten“ zu bestellen waren. Der Schuldner musste über die Vollstreckung belehrt und ausdrücklich seine Zustimmung hierzu erklären (S. 137ff.). Dieses Gesetz, über dessen parlamentarische Beratungen man gerne mehr gelesen hätte, hatte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. 1861 legte das Staatsministerium den Kammern erneut einen gegenüber der Vorlage von 1851 im Wesentlichen unveränderten Entwurf für ein Notariatsgesetz vor. Eingearbeitet worden war das Exekutionsgesetz von 1856 – nunmehr mit der Zuständigkeit der Notare für die Aufnahme vollstreckbarer Urkunden; der Abschnitt von der Disziplinargewalt über die Notare war erheblich erweitert worden (hierzu und zum folgenden Teil C, S. 145-281). Die Kammern nahmen ohne allgemeine Debatte die Vorschläge ihrer Ausschüsse an, die im Wesentlichen nur redaktionelle Fragen betrafen, und zwar die KdA einstimmig und die KdRR gegen die Stimme des hochkonservativen Carl von Seinsheim. Das Notariatsgesetz wurde zusammen mit dem Gerichtsverfassungsgesetz vom 10. 11. 1861 im Bayrischen. Gesetzblatt veröffentlicht. Im Abschnitt über den Inhalt des Notariatsgesetzes (S. 165ff.) untersucht Decker zunächst anhand der Bestimmung des Art. 1 des Notargesetzes die Stellung des Notars als zwar öffentlicher Beamter, jedoch nur mittelbarer Staatsdiener ohne staatliches Gehalt (S. 166ff.). Herausgestellt werden das Nur-Notariat (Art. 2), die Neutralität des Notars (Art. 4) und vor allem das Beurkundungsmonopol der Notare insbesondere im Mobiliarrecht, das Bayern sich für das Bürgerliche Gesetzbuch  durch das EGBGB von 1896 gegen den Widerstand Preußens sichern konnte (Umsetzung in den bayerischen Ausführungsgesetzen zum BGB sowie zur Grundbuchordnung und zum ZVG von 1899). Die Siegelmäßigkeit wurde aufgehoben und den Notaren die Subhastation entsprechend dem französisch-pfälzischen Recht übertragen. Der eigentliche Grund für die Selbständigkeit des Notariats ist nach Decker in der schwierigen finanziellen Situation Bayerns zu sehen (S. 248ff.). Eine Haftung des Staats für Amtshandlungen der Notare war nicht vorgesehen (Art. 149; S. 252f.). Im Gegensatz zum französischen Notar musste der bayerische Notar die Prüfung für den Justiz-Staatsdienst bestanden haben und mindestens zwei Jahre bei einem Notar beschäftigt gewesen sein. Der Notar hatte „als ungeliebter Diener der Finanzkasse“ die dem Staat hinsichtlich der von ihm beurkundeten Geschäfte die diesem gebührenden Taxen und Stempelgebühren an die Finanzbehörden abzuführen (Art. 105 des Notariatsgesetzes; S. 309ff.). Eine wichtige Rolle spielte das Notariat bei dem Hypotheken- und Darlehensvertrag in Zusammenarbeit mit der bayerischen Hypotheken- und Wechselbank (S. 268ff.), was zu einem erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung Bayerns im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führte. Der bayerische Notar stand unter der „absoluten staatlichen Kontrolle“ durch die Staatsanwaltschaft und einer strengen Disziplinargewalt (S. 283). Die Notarkammern verfügten über kein Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung der Notariate und kein Recht, die Notare „hinsichtlich ihrer gemeinsamen Interessen zu vertreten“ (S. 293; deshalb „Flucht in das Vereinsrecht“, S. 297ff.). Das Werk wird abgeschlossen mit einem Abschnitt über den Zugang der Juden zum bayerischen Notariat (S. 197ff.) und mit einem Abschnitt über die Verordnung vom 29. 1. 1862 über die Feststellung der Notariatssitze (S. 322ff.; S. 421f., 423ff. die „Ernennungs-Auflistung“ der Notare von 1862). Mit berücksichtigt ist die von Bayern immer beobachtete Entwicklung des Notariatsrechts in Österreich (S. 97 ff., 161 ff. unter Hinweis auf Christian Neschwara, Geschichte des Notariats in Österreich, Teil I, 1996; jetzt auch ausführlicher in Teil II 1 von 2017).

 

Insgesamt hätte der allgemeine geschichtliche Hintergrund für die Entstehungszeit des Notariatsgesetzes (1851-1861) anhand der Literatur zur bayerischen Rechtsgeschichte detaillierter geschildert werden sollen. Dass Decker nicht näher auf die Interna der bayerischen Staatsregierung eingegangen ist, dürfte wohl damit zusammenhängen, dass große Teile des bayrischen Ministeriums der Justiz im 2. Weltkrieg verbrannt sind. Hingewiesen sei noch darauf, dass an das Werk Deckers unmittelbar die Dissertation Anja Geronos, Das bayerische Notariat – Entstehung und Stellung in der Gesetzgebungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Berlin 2016, anschließt, welches vornehmlich die Wirkungsgeschichte des Notariatsgesetzes von 1861 und dessen weitere Entwicklung behandelt. Alles in allem liegt mit dem Werk Deckers ein grundlegendes, immer interessant geschriebenes Werk zur bayrischen Rechtsgeschichte und zur Geschichte des Notariats in Deutschland vor (zur weiteren Entwicklung bis zum Beurkundungsgesetz von 1899, welches das bayerische notarielle Beurkundungsmonopol für Gesamtdeutschland übernahm, vgl. W. Schubert in der Rezension des Werkes Geronos in: ZIER-HP-06-2006).

 

Kiel

Werner Schubert