Hagemeister, Michael, Die „Protokolle der Weisen von Zion“

vor Gericht. Der Berner Prozess 1933-1937 und die „antisemitische Internationale“ (= Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte ETH Zürich 10). Chronos, Zürich 2017. 645 S., 39 Abb. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

Hagemeister, Michael, Die „Protokolle der Weisen von Zion“ vor Gericht. Der Berner Prozess 1933-1937 und die „antisemitische Internationale“ (= Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte ETH Zürich 10). Chronos, Zürich 2017. 645 S., 39 Abb. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Jahrzehntelang sind die „Protokolle der Weisen von Zion“, das „einflussreichste Pamphlet des modernen Antisemitismus“ (S.9), Gegenstand historischer Untersuchungen gewesen. Michael Hagemeister, durch zahlreiche, archivalisch bestens belegte bedeutende Arbeiten und Vorstudien in diesem Forschungsfeld ausgewiesen, widmet sich – nach der 2011 erschienenen verdienstvollen Studie Sibylle Hofers – auf breiterer Basis den Schweizer Gerichtsverfahren der 1930er Jahre.

 

Schon damals wurde die Genese dieses „zentralen Referenzdokuments“ (Wolfgang Benz) im Auftrag der zaristischen Geheimpolizei angeblich eindeutig enthüllt. Hagemeister unternimmt es in einer sehr aufwendigen, jahrelangen Recherche, die weltweit verstreuten Archivalien und Erkenntnisse zusammenzuführen und die „reduktionistische Sicht“ auf die Herkunft und Frühgeschichte der Protokolle zu überwinden. Er stellt zu diesem Zweck die gesamte, selbst für Spezialisten kaum noch überschaubare Forschungsgeschichte, die vielfältige Quellenlage sowie die Protokolle selbst eingehend dar. Ein überaus wichtiger Kern ist dabei, was als konspirative Aktionen der „antisemitischen Internationale“ in der Zwischenkriegszeit zu sehen ist.

 

Der Prozess wird in seiner Vorgeschichte, seinem Gesamtzusammenhang und seinem Verlauf detailliert einschließlich unbekannter Hintergründe, Prozess-Strategien, Recherchen, Gutachten und des Vorgehens der Prozessparteien erstmalig auf breitester Basis analysiert. Die nationalsozialistische Bewegung kommentierte das erste Urteil als unwissenschaftlich und rein schweizerische Angelegenheit. Die von Carl Schmitt herausgegebene Deutsche Juristenzeitung meinte, irgendein Amts- oder Kantonalrichter werde zum „Weltgericht“ erhoben, doch der Gang der Geschichte lasse sich dadurch nicht aufhalten. „Prozesse, die einer weltgeschichtlichen Entscheidung vorgreifen, verliert immer nur die Justiz.“

 

Dazu zählen auch Dokumente aus dem Moskauer Sonderarchiv, die der Verfasser nutzen konnte, die aber mittlerweile wieder sekretiert (!) sind. Die Arbeit ragt daher auch durch ihren unvergleichlich hohen Quellenwert über das meiste, was bisher zu diesen Problemfeldern an Forschung vorlag, weit hinaus.

 

Norman Cohns 1967 veröffentlichte Standard-Studie „Warrant for Genocide“ und Urs Lüthis Fall-Darstellung von 1985 erweiterte das Forschungsfeld und die Erkenntnisse, bis dann Sibylle Hofer beide Urteile auch unter speziell Schweizer politischen Aspekten erforschte. Nicht unerwähnt bleiben sollen allerdings auch die neueren historischen „Fälscherwerkstätten“ der rechtsradikalen rassistischen Apologeten der Protokolle bis in die jüngste Vergangenheit.

 

Wer immer sich nach Hagemeisters eindrucksvoller historischer Kärrnerarbeit in punkto Quellenschürfung, Dokumentation und Kommentierung mit dem Thema befassen wird, kann an dieser Grundlage nicht vorbeigehen. In welchem Umfang und mit welcher unschätzbaren Qualität hier Dokumente und verschollenes Material von beteiligten Personen und Institutionen zusammengetragen und gewürdigt worden ist, wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Dokumente heute verschollen oder noch immer unzugänglich, weil in Privathand, sind, aber immerhin Spuren hinterlassen haben.

 

Der „weltweite Siegeszug begann in der krisengeschüttelten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution in Russland, wo sie im Gepäck russischer Emigranten in den Westen gelangten, wo sie als Erklärung für den Zusammenbruch der alten Ordnung und als Warnung vor der ‚jüdisch-bolschewistischen Gefahr’ begierig aufgenommen wurden“ (S. 45/46). Einer ihrer eifrigsten Verbreiter war Alfred Rosenberg. Zahlreiche Übersetzungen lagen schon Ende 1920 in vielen westlichen Ländern vor. Als eine Vorlage wurde bereits früh u. a. Sir John Retcliffes Roman „Biarritz“ (1868) ausgemacht. Andere Quellen wurden ermittelt (s. dazu die Studie von Volker Neuhaus, 1980, sowie die Fortführung durch Arbeiten Christoph F. Lorenz‘). Die Entstehungsgeschichte und der Verlauf der antisemitischen politischen Rezeption wird minutiös nachgezeichnet – mit allen ihren Facetten, Fälschungen, Finten und anwaltlichen Finessen. Die Prozessverläufe und ihre Hintergründe, die Finanzierungen und „Beweisführungen“ der Beklagten und die Strategien der Kläger und ihrer Anwälte werden erstmals wirklich plastisch.

 

Neben dem Berner Prozess wurde dabei auch in Basel ein Verfahren geführt, das allerdings kein derart weltweites Aufsehen erregte.

 

In Bern ging es um die Frage „Echtheit“ oder Fälschung, wenn auch mit zum Teil fragwürdigen Konstruktionen und nicht so sehr um historische Erkenntnis. Die Ochrana-These, so Hagemeister, wurde aber damit kanonisiert und tradiert. Eine letzte Lösung der Rätsel um die Protokolle kann die Arbeit zugegebenermaßen nicht vorstellen. Doch sie nähert sich ihr von allen möglichen Seiten und Perspektiven an und vermeidet solche apodiktischen Annahmen, wie sie in dem weithin erfolgreichen Buch einer israelischen Richterin vorliegen, die in Wahrheit ungewollt eine Art historischen Roman statt einer geschichtlich zuverlässigen Aufklärung präsentiert hat.

 

In einem sehr ausführlichen archivalischen 4. Kapitel „Chroniken“ werden die Quellen der zahlreichen Archive aufgeführt und in wesentlichen Ausschnitten zitiert, die trotz Hagemeisters fundamentaler Arbeit in Teilen immer noch weiterer Auswertung harren. Das betrifft vor allem auch die Basisdokumente des Schweizer Verfahrens in Bern samt deren Hintergründen auf beiden Seiten der Prozessparteien, der Dokumente, der Zeugenaussagen und der internen Haltungen der Beteiligten, insbesondere der Prozessvertreter bis hin zu den politischen Akteuren etwa in Berlin und Bern. Der Berner Amtsrichter urteilte, die Protokolle seien ein „lächerlicher Unsinn“, ein Plagiat und eine Fälschung.

 

Die Berufung beim Berner Obergericht ergab einen Freispruch mit einer juristisch fragwürdigen, wohl außenpolitisch motivierten Begründung. Das Ergebnis wurde in Berlin von dem Auswärtigen Amt und Goebbels als großer Erfolg gefeiert. Die Kläger verzichteten mangels Erfolgsaussichten auf einen Rekurs an das Bundesgericht. Aber die jahrelangen internen und öffentlichen Resonanzen, die bis zum Jahre 1966 dargestellt werden, sind sehr erhellend.

 

Die weniger beachteten, durch Vergleich erledigten drei Basler Strafverfahren sind vor allem durch Einblicke in die Hintergründe bei Klägern und Anwälten aufschlussreich.

 

Ein umfangreicher Dokumentenabdruck rundet diese beispielhafte Pilotstudie ab. Er wird durch Kurzbiographien der bisher fast unüberschaubaren Beteiligten aus mehreren Ländern trefflich bereichert.

 

Unter den veröffentlichten Quellen werden die Ausgaben der Protokolle chronologisch (1903-2013), die Publikationen der Kritiker bis 1945, der Apologeten bis 1943 und die umfängliche, nach 1945 erschienene Literatur aufgelistet. Unter den Propagandisten und Apologeten finden sich neben Ulrich Fleischhauer und Adolf Hitler auch Julius Evola, Jonak von Freyenwald, Lanz von Liebenfels und René Sonderegger.

 

Das äußerst umfängliche Archivmaterial namentlich aus der Schweiz, Israel, den Vereinigten Staaten von Amerika, Russland, Frankreich und Deutschland einschließlich unbekannter, auch anonymer Manuskripte wird wohl trotz dieses bislang unübertroffenen historischen Mammutwerks unter verschiedensten Fragestellungen weitere Historiker anregen und beschäftigen. Die Ergebnisse, die personellen, wissenschaftlichen, prozessualen und persönlichen Netzwerke sind angesichts eines national wie international nicht abflauenden Antisemitismus von wesentlicher, nicht nur historischer oder kulturgeschichtlicher Bedeutung. Hagemeister hat eine Methode gewählt, mit der er über das „Vetorecht der Quellen“ allen Schwarz-Weiß-Bildern, Vermutungen, Legenden, Mythen, den terribles simplificateurs ein filigranes Kontrastprogramm an subtilen korrigierenden Zwischentönen entgegensetzt.

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen