Höfer, Philipp, Einzelstaatliche Einflussnahme auf die Finanzpolitik
Höfer, Philipp, Einzelstaatliche Einflussnahme auf die Finanzpolitik im Deutschen Kaiserreich (= Institut für europäische Regionalforschungen 28 = Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive 5). Nomos, Baden-Baden 2017. 360 S. Besprochen von Werner Schubert.
Der Band Philipp Höfer ist wie bereits die Untersuchungen Julia Liedloff über die Unfallversicherungsgesetze und Paul Hänels über die Nahrungsmittelregelung Teil des DFG-Projekts: „Integrieren durch Regieren – Funktionsweisen und Wandel des Föderalismus im Deutschen Kaiserreich 1871-1914“ und handelt von der Art und Weise der „föderalen Mitbestimmung im Feld der Reichsfinanzpolitik“ (S. 5). Gegenstand der Untersuchungen sind die Zoll- und Finanzreform 1878/1879 (Zolltarif- und Tabaksteuergesetzgebung vom 15./16. 7. 1879), die 1893 gescheiterte Finanzreform, die „Kleine“ lex Stengel von 1904 (Gesetz vom 15. 5. 1904, Änderung des Art. 70 der Reichsverfassung) und die Große lex Stengel von 1906 (Mantelgesetz vom 3. 6. 1906 mit vier Einzelgesetzen; insbesondere über die Erbschaftssteuer). Ziel dieser Gesetzesvorhaben war es, dem Reich neue Einnahmequellen zu verschaffen und es damit weniger abhängig von den Matrikularbeiträgen der Bundesstaaten zu machen, die daran interessiert waren, diese zu begrenzen bzw. in einem überschaubaren Rahmen zu halten.
Die Beteiligung der Bundesstaaten an der Finanzreform 1878/1879 erfolgte zunächst durch eine Konferenz der Finanzminister und Spezialkommissionen. Die Verhandlungen im Bundesrat spielten keine größere Rolle mehr, da die größeren Bundesstaaten die im prälegislativen Raum getroffenen Entscheidungen weitgehend übernahmen. In den Beratungen der Tarifkommission des Reichstags setzte das Zentrum durch, dass alle Einnahmen aus Zöllen und Tabaksteuer, die 130 Millionen M jährlich überstiegen, den Einzelstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung zu überweisen waren (sog. Franckensteinsche Klausel). – Der Versuch einer „organischen“ Finanzreform scheiterte 1893/1894 an der ablehnenden Haltung des Reichstags gegenüber neuen bzw. höheren Reichssteuern (Tabakfabriksteuer, Weinsteuer). Auch dieses Reformprojekt war in prälegislativen Verhandlungen unter Führung des preußischen Finanzministers Miquel vorbereitet worden. Die grundlegenden Einwände der Hansestädte Bremen und Hamburg gegen die Tabakfabriksteuer und der süddeutschen Weinbauländer gegen eine Weinsteuer wurden zurückgewiesen.
Erfolg hatten die sog. kleine und die große lex Stengel – Stengel war Staatssekretär im Reichsschatzamt – von 1903/1904 und 1906, bei denen das Reichsschatzamt der „zentrale Akteur“ war. Ein Gesetz von 1904 brachte eine Änderung des Art. 70 der Reichsverfassung, durch die im Ergebnis die Franckensteinsche Klausel aufgehoben wurde und das Matrikularwesen einschließlich der Überweisungen neu geordnet wurde. Da eine Erhöhung der Reichseinnahmen damit nicht verbunden war, betrieb v. Stengel 1906 eine weitere Finanzreform. Diese führte, wie von den Bundesstaaten gewünscht, eine Begrenzung der Matrikularbeiträge, die von einem bestimmten Betrag an bis zum Juli des drittfolgenden Jahres gestundet wurden. Das Gesetz von 1906 brachte ferner außer Steuererhöhungen auch die Einführung einer Reichserbschaftssteuer als einer direkten Steuer, die nicht bei allen Bundesstaaten Anklang fand. An den prälegislativen Verhandlungen über die lex Stengel von 1906 waren nur noch die größten Bundesstaaten beteiligt.
Im zweiten Hauptteil der Untersuchungen erfolgt eine Analyse der einzelstaatlichen Einflussnahme auf die Reichsfinanzpolitik, und zwar nach inhaltlichen, prozessualen und strukturellen Gesichtspunkten (S. 285-342). Polittaktisch verband insbesondere das Zentrum mit der Finanzreform weitere Politikvorhaben (Abgeordnetendiäten; Aufhebung des Jesuitengesetzes). Eine „zentrale Kontinuitätslinie“ war es, „dass der föderale Abstimmungsprozess primär stets auf eine Einigung zwischen Preußen und den Mittelstaaten ausgerichtet war“ (S. 320). Die „strukturelle Lokalisierung einzelstaatlicher Einflussnahme“ erfolgte in Finanzministerkonferenzen, exklusiven Abstimmungsrunden, Spezialkommissionen sowie im Bundesrat, Reichstag und Reichsschatzamt (S. 321ff.). Im „Fazit“ stellt Höfer fest, dass den einzelnen Regierungen nicht nur im Bundesrat, sondern auch im „prälegislativen Raum“, aber auch im Reichstag eine „Vielzahl von strukturell bedingten Möglichkeiten und Kanälen zur Beeinflussung „der finanzpolitischen Gesetzgebung des Reichs“ offen standen, sie „diese in der Regel aber in der politischen Praxis bzw. im Zuge des Gesetzgebungsprozesses nur zurückhaltend in ihrer vollen Wirkmächtigkeit ausnutzten“ (S. 343). Bayern etablierte sich neben Preußen „rasch“ als die „zweite zentrale Macht im Rahmen der föderalen Verhandlungen, ohne deren Zustimmung an die Durchsetzung eines Bundesratsbeschlusses zu den Reformvorlagen kaum mehr zu denken war“ (S. 345). Erst an dem Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten 1903/1904 die süddeutschen Staaten erstmals ein „spürbareres Gegengewicht zu den preußischen Interessen“ (S. 346). Wenig Gewicht hatten die kleineren Bundesstaaten, abgesehen von den Hansestädten, insbesondere von Hamburg, das regelmäßig Zugeständnisse durchsetzen konnte.
Insgesamt bestätigen auch die Untersuchungen Höfers, dass die Gesetzesvorhaben der Kaiserzeit nur unter Einbeziehung der Beteiligung der Bundesstaaten inhaltlich und prozessual umfassend erschlossen werden können. Die wichtigsten Quellen hierzu sind, außer den Beständen im Bundesarchiv Berlin, die Berichte und Protokolle, die sich vornehmlich in den Staatsarchiven in München, Dresden, Stuttgart, Hamburg und den Thüringischen Staaten befinden, ein Quellenbereich, der in der Rechtsgeschichte der Kaiserzeit noch wenig Beachtung gefunden hat. Um zu einem abschließenden Urteil über die Einflussnahme der Bundesstaaten auf die Gesetzgebung der Kaiserzeit zu kommen, müssten noch weitere Gesetzesvorhaben detailliert erschlossen werden (für das BGB vgl. die Arbeit von Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung der Bürgerlichen Gesetzbuches, 1995; „Die Beratung des BGB“, hrsg. von H. H. Jakobs und W. Schubert). Insgesamt liegt mit dem Werk Höfers eine immer gut lesbare und interessant geschriebene Darstellung über die Entstehung wichtiger finanzpolitischer Gesetze der Kaiserzeit unter dem Aspekt der einzelstaatlichen Einflussnahme vor. Es ist zu wünschen, dass ähnlich breit angelegte Untersuchungen auch für den föderativen Anteil an der Gesetzgebung der Weimarer Zeit in Angriff genommen werden (vgl. hierzu u. a. die Beratungen des StGB-Entwurfs in den Reichsratsausschüssen 1926/27, in: W. Schubert und J. Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, I. Abt. Weimarer Republik 1918-1932, Bd. 2, Berlin 1998).
Kiel
Werner Schubert