Kay, Alex J., The Making of an SS Killer

. Das Leben des Obersturmbannführers Alfred Filbert 1905-1990, aus dem Englischen von Uhlig, Clemens. Schöningh, Paderborn 2017. 253 S., 25 Abb., 2 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

Kay, Alex J., The Making of an SS Killer. Das Leben des Obersturmbannführers Alfred Filbert 1905-1990. Aus dem Englischen von Uhlig, Clemens. Schöningh, Paderborn 2017. 253 S., 25 Abb., 2 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Risse, die gerade in Zeiten politischer Extreme durch die Gesellschaft gehen, bilden sich vielfach auch in den Familien in Gestalt kontroverser Positionen und Schicksale ab. Während der 1935 promovierte Jurist Alfred Filbert (1905 – 1990) sich bereits während seines Studiums noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten der SS anschloss, in deren Reihen im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Karriere machte und schließlich in Litauen und Weißrussland „als erster Chef des Einsatzkommandos (EK) 9 der Einsatzgruppe B ein besonders radikaler Vollstrecker des Massenmordes an den sowjetischen Juden (war), […] bekannt als erster Kommandant überhaupt, der auch Frauen und Kinder ermordete“ (S. 9), wurde sein ein Jahr älterer Bruder Otto (1904 – 1944/45), dem das nationalsozialistische Regime die Wiederausreise in die USA verweigerte, Ende 1939 wegen kritischer Äußerungen zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, im Anschluss an die Haft auf eine persönliche Verfügung Himmlers hin in das Konzentrationslager Buchenwald überführt und schließlich im November 1944 zur berüchtigten SS-Brigade „Dirlewanger“ rekrutiert, wo sich seine Spur für immer verliert. In dieser familiären Konstellation ortet der britische Historiker Alex J. Kay mehr als nur ein tragisches Schicksal. Nicht nur, dass Alfred Filbert nach dem Krieg das Schicksal seines Bruders für sich zu instrumentalisieren versuchte, vertritt der Verfasser darüber hinaus die interessante These, dass „seines Bruders Gefangennahme und Haft eine Schlüsselrolle für seine Motivation, sich aktiv am Genozid zu beteiligen, (spielte)“ (S. 9).

 

Tatsächlich war Alfred Filbert, Angehöriger der Alterskohorte der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“ (nach Ernst Günther Gründel; bekannt auch als „Generation der Sachlichkeit“ nach Ulrich Herbert oder als „Generation des Unbedingten“ nach Michael Wildt), in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren fünfmal befördert worden, zuletzt im Januar 1939 zum SS-Obersturmbannführer (Oberstleutnant), aber danach unterblieb bis Kriegsende jede weitere Rangerhöhung, ein Umstand, den er der Affäre um seinen Bruder zuschrieb. Als im Frühjahr 1941 von RSHA-Chef Heydrich die Aufstellung der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (EG) mit dem Auftrag, „die Räume zwischen den drei Armeegruppen [gemeint sind wohl die drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd; W. A.] von versprengten Feindsoldaten und Partisanen zu ‚säubern‘“ (S. 48), angekündigt worden sei, meldete sich neben Arthur Nebe (Chef Amt V – „Kriminalpolizei“), Heinrich Müller (Leiter Amt IV – „Geheime Staatspolizei“) und Bruno Streckenbach (Chef Amt I – „Personal“) auch Alfred Filbert (stellvertretender Chef Amt VI – „SD-Ausland“ unter Heinz Jost) „freiwillig für den Dienst in der bevorstehenden Operation“. Von Heydrich seien wohl am 17. Juni 1941 „die Chefs der EG und EK ausdrücklich darüber informiert w(o)rden, dass ihr Auftrag im Operationsgebiet die Ermordung der sowjetischen Juden beinhalten würde“ (S. 48f.).

 

Die tabellarische Auflistung der Opfer, die dann durch das Einsatzkommando 9 unter der Führung Alfred Filberts zwischen 22. Juni und 20. Oktober 1941 in Litauen und Weißrussland getötet wurden, summiert eine Mindestopferzahl zwischen 18.071 und 22.085 (vgl. S. 84ff.). Aus der genauen Darstellung der Abläufe geht hervor, dass Filbert bei den Erschießungen nicht nur mehrfach persönlich vor Ort anwesend war, sondern in zumindest einem Fall als Teil des Exekutionskommandos auch selbst schoss. Nach seiner Rückkehr nach Berlin wurde er mit Unterschlagungsvorwürfen konfrontiert und für zwei Jahre vom Dienst in dem Reichssicherheitshauptamt suspendiert. Die wahren Gründe für diese Maßnahme waren höchstwahrscheinlich die hinter den Kulissen schwelenden Querelen zwischen dem Chef des RSHA Reinhard Heydrich einerseits und den Filbert-Vertrauten Werner Best und Heinz Jost auf der anderen Seite, in denen Heydrich obsiegte, sowie das familiäre Stigma: „Im Falle Filberts war es nicht nur seine Verbindung zu Best und Jost, die ihm den Posten im Amt VI kostete, sondern eben auch die Inhaftierung seines Bruders im November 1939 sowie Ottos darauffolgende Haft. Diese Faktoren trugen dazu bei, Filberts Ruf so sehr zu schaden, dass seine Anstellung vorerst nicht mehr tragbar war“ (S. 95). Nicht zuletzt von Heydrichs zwischenzeitlicher Ermordung profitierend, wurde er jedoch im Herbst 1943 vollständig rehabilitiert und im RSHA im Amt V unter Arthur Nebe pikanter Weise bald als Chef der Gruppe „Wirtschaftskriminalität“ (V Wi), dann unter Nebes Nachfolger Friedrich Panziger bis Kriegsende als Leiter der Gruppe „Einsatz“ (V B) verwendet.

 

Nach der deutschen Niederlage lebte Alfred Filbert zunächst unter dem Decknamen Alfred Selbert hauptsächlich in Niedersachsen, nahm 1951 unter Ablegung seiner falschen Identität in Hannover eine Stellung als Aushilfskraft bei der Braunschweig-Hannoverschen Hypothekenbank an und brachte es bis 1958 zum Direktor von deren Westberliner Filiale. Ob er auch, wie mehrere seiner untergebenen Offiziere des ehemaligen Einsatzkommandos 9, für die US-amerikanische Central Intelligence Agency (CIA) im Kampf gegen den Kommunismus tätig wurde, könne bis dato nicht geklärt werden, da die CIA das Vorhandensein von Unterlagen dazu weder bestätigen noch bestreiten wolle. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess und die Etablierung der Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen führten zu einer verstärkten Sensibilisierung der Öffentlichkeit und im Februar 1959 zur Festnahme und Inhaftierung Filberts, am 21. November 1961 wurde Anklage gegen ihn und seine Mitstreiter Gerhard Schneider, Bodo Struck, Wilhelm Greiffenberger, Heinrich Tunnat und Konrad Fiebig erhoben, am 22. Juli 1962 ergingen nach 18 Verhandlungstagen die Schuldsprüche. Filberts Verteidigungsstrategie beruhte darauf, zu behaupten, er sei an den allgemeinen Befehl, alle Juden zu töten, gebunden gewesen. Da aber, wie Klaus-Michael Mallmann darlegen konnte, alle Kommandos in den ersten fünf Wochen der Offensive dies gerade nicht getan und Frauen und Kinder verschont hatten, wäre ihr Verhalten einer durchgehenden Befehlsverweigerung gleichgekommen, was wohl auszuschließen sei. Filbert wurde schließlich wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt, nach Ablehnung der Revision durch den Bundesgerichtshof erwuchs das Urteil am 9. April 1963 in Rechtskraft. Die Justus-Liebig-Universität Gießen entzog ihm 1964 sein juristisches Doktorat wegen Unwürdigkeit. Im Juni 1975 wurde Alfred Filbert aufgrund eines fortschreitenden Augenleidens vorzeitig aus der Haft entlassen.

 

In den folgenden Jahren bis zu seinem Ableben 1990 stand er aber noch einmal im Mittelpunkt eines skurrilen Geschehens. Thomas Harlan, Sohn des „Jud Süß“-Regisseurs Veit Harlan, konnte den nach Anerkennung gierenden Filbert als Hauptdarsteller für seinen Spielfilm „Wundkanal – Hinrichtung für vier Stimmen“ (1984) anheuern, in dem er den Kriegsverbrecher Dr. S. zu verkörpern hatte, der von vier jungen Leuten – „Erben von Andreas Baader und Ulrike Meinhof – entführt und in einem Raum voller Spiegel und Monitore eingesperrt (wird), wo er permanent mit seinem eigenen Bild konfrontiert ist. Die vier Stimmen […] befragen ihn im Szenario eines Scheinprozesses […] und versuchen ihm ein Schuldgeständnis zu entlocken. Schließlich endet der Film damit, dass der Gefangene freikommt und die vier Entführer tot auf dem Boden liegen, offensichtlich in Anlehnung an das Schicksal der vier RAF-Mitglieder in Stammheim“ (S. 133). Parallel dazu hat der US-amerikanische Filmemacher Robert Kramer unter dem Titel „Notre Nazi“ (1984) die Dreharbeiten filmisch dokumentiert. Filbert, dem listig vermittelt worden sei, der Film ginge über ihn, habe sich vermutlich aus drei Gründen zur Verfügung gestellt: „Geld, seine Identifikation mit der Person Harlans (als Sohn von Veit Harlan) sowie seine Überzeugung davon, dass durch seine Zeit im Gefängnis jede Schuld abgebüßt sei“ (S. 137). Mit der Gegenüberstellung von Auschwitz und Stammheim habe das experimentelle Werk dann heftige Reaktionen von Seiten des Publikums wie auch der Kritik nach sich gezogen.

 

Der britische Psychiater und Psychoanalytiker Henry V. Dicks, der Alfred Filbert während der Haft 1969 interviewte, kommt zum Urteil, dieser sei „nie etwas anderes gewesen als ein beschränkter, kleinbürgerlicher, nach Status und Beförderung strebender Spießer mit einer ‚Befehlsempfänger‘-Mentalität des braven Jungen“ (S. 125). In seiner Schlussbetrachtung präzisiert Alex J. Kay dieses Täterbild weiter. Er erkennt in Alfred Filbert die Verschmelzung des Typus des materialistischen Mörders (Karrierist) mit jenem des ideologischen Mörders (Fanatiker): „Tatsächlich wurden Filberts Ehrgeiz und Geltungsdrang durch seine Weltanschauung und seinen Glauben an die Zugehörigkeit zu einer ‚Herrenrasse‘ bekräftigt und – bezeichnenderweise – gerechtfertigt. Seine Ideologie überzeugte ihn, dass das berufliche Fortkommen, der Status und die Anerkennung, die er suchte, nur sein gutes Recht waren; seinem Empfinden nach hatte er ein Recht auf Erfolg. Ideologie und Egoismus verstärkten sich gegenseitig“ (S. 142). Deshalb sei er „weniger um das Wohlergehen seines Bruders besorgt [gewesen], als vielmehr um seine eigenen, bedrohten Karrierechancen. Vielmehr war es das Gefühl, dass seine eigene Hingabe an das Regime hinterfragt werden könnte, das Filbert nicht nur dazu anspornte, freiwillig ein Kommando im Osten anzuführen, sondern auch zu einer besonders eifrigen Umsetzung der ihm gestellten Aufgaben“ (S. 144). Sein narzisstisches Ego habe ihn – wie viele andere nationalsozialistische Überzeugungstäter – seine Schuld nie anerkennen lassen, in erster Linie nahm er sich in Verkehrung der Tatsachen als bedauernswertes Opfer wahr: Zunächst als Opfer einer jüdischen Weltverschwörung, an die er glaubte und die ihn aus seiner Sicht zum Nationalsozialismus zwang; als Opfer vor allem aber auch des Schicksals seines Bruders in mehrfacher Hinsicht: als ein Opfer des Leides, das die Familie durch den Verlust traf; als Opfer der nun für ihn eintretenden Karrierestagnation; und schließlich als Opfer seiner wiederum daraus resultierenden Bemühungen, sich als besonders williger Vollstrecker gerieren zu müssen, um die familiäre Scharte auszuwetzen und dem Regime seine unverbrüchliche Treue darzutun. Wäre sein Bruder nicht gewesen, so mochte sich Alfred Filbert einreden und sein Gewissen betäuben, hätte er sich selbst nie mit Blut befleckt.

 

Die lesenswerte, 2016 in englischer Sprache erstveröffentlichte und knapp 140 Seiten Text umfassende biographische Studie verfügt über einen informativen, 70 Seiten starken Endnotenapparat, der durch fortlaufende Seitenverweise in der Kopfzeile ein rasches Auffinden der betreffenden Anmerkungen gewährleistet. Dass das Register neben Namen und Orten auch Institutionen verzeichnet, ist eine zusätzliche Hilfe. Das Quellenverzeichnis belegt ausgedehnte Archivrecherchen, die sich nicht auf Deutschland beschränken und die Arbeit auf eine solide Materialbasis stellen. Den litauischen Tatort von Alfred Filberts Einsatzkommando 9 im Wald von Paneriai nahe Vilnius, wo sich heute eine Gedenkstätte befindet, hat der Verfasser ausweislich zweier Fotos (vgl. Abb. 17 und 19) aufgesucht und persönlich in Augenschein genommen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic