Luber, Martin, Strafverteidigung im Nürnberger Juristenprozess
Luber, Martin, Strafverteidigung im Nürnberger Juristenprozess am Beispiel des Angeklagten Oswald Rothaug (= Beiträge zum internationalen und europäischen Strafrecht 30). Duncker & Humblot, Berlin 2018. 383 S.
Nach dem Werk Benedikt Salleks, Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen. Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien dargestellt am Wirken des Verteidigers Dr. Friedrich Bergold (2016) liegt mit den Untersuchungen Martin Lubers ein weiteres Werk über die Strafverteidigung im Nürnberger Juristenprozess (Januar-Dezember 1947, Zeittabelle S. 60) am Beispiel des Angeklagten Oswald Rothaug vor. Das Sondergericht Nürnberg hatte unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Rothaug (ab Mai 1943 an dem Volksgerichtshof als Reichsanwalt) am 13. 3. 1942 den 68jährigen Kaufmann und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Nürnberg Lehmann „Leo“ Katzenberger wegen (nicht bewiesener) „Rassenschande“, die nur mit Haftstrafe belegt werden konnte, i. V. m. den §§ 2, 4 der Volksschädlingsverordnung („Ausnutzung des Kriegszustandes“) zum Tode verurteilt. Ziel der Arbeit Lubers war es zu ermitteln, ob sich die (deutschen) angeklagten Juristen effektiv vor dem (amerikanischen) Gericht verteidigen konnten. Dabei wird insbesondere der rechtliche Rahmen des Verfahrens in den Vordergrund gestellt: „Hierfür wird der Ablauf des Juristenprozesses in seiner Gesamtheit erfasst und exemplarisch die Strategien der Verteidigung des Angeklagten Rothaug ausgearbeitet werden“ (S. 27). Insoweit besteht ein erheblicher „Forschungsbedarf“, da sich trotz der Veröffentlichung des Nürnberger Juristenurteils durch Peschel-Gutzeit im Jahre 1996 keine der bisherigen Veröffentlichungen detaillierter mit den einzelnen Etappen des Juristenprozesses befasst (S. 29). Luber stellt zunächst die rechtliche Situation im NS-Deutschland (S. 34ff.) und die „Aufarbeitung der NS-Diktatur“ durch das internationale Militärtribunal (IMT) und die Nachfolgeprozesse (NMT) dar. In Kapitel 2 (S. 58-145) werden zunächst die Rechtsgrundlagen des Verfahrens (u. a. Verbrechen gegen die Menschlichkeit; angloamerikanische Strafverfahren) beschrieben. Es folgen Biografien von Rothaug und den beiden Beisitzern des Sondergerichts (K. J. Ferber und H. H. Hoffmann) sowie des Verteidigers von Rothaug Josef Kößel (S. 115 ff.). Die Vorwürfe gegen die Angeklagten (S. 153 ff.) betrafen Conspiracy, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation.
Im Abschnitt über eine „willkürliche Bestrafung“ ging die Prosecution auch ein auf den Fall Katzenberger, in dem das Sondergericht Nürnberg das Gesetz bewusst gebeugt habe (S. 173; vgl. den Fall Lopata, S. 175f.). Nach dem Abschnitt „Eröffnungserklärung und Gesamtverteidigung“ (S. 187ff.) kommt Luber auf das Opening-Statement für Rothaug durch Kößel und dessen Vorgehen im Prozess bei der Verteidigung (S. 232ff. Vernehmung des gesundheitlich angeschlagenen Rothaug im August 1947, S. 232ff.). Für Kößel war es nicht einfach, Rothaug gegen die „massiven Vorwürfe“ (S. 247) zu verteidigen; insgesamt war jedoch Kößels Verteidigung nicht zu beanstanden. Die Anklage wegen „Conspiracy“ wurde im Juli 1947 vom Gericht fallen gelassen (S. 248ff.). Nach dem Schlussplädoyer der Anklage schildert Luber das Plädoyer für Rothaug und dessen letzte Worte (S. 271ff.). Das „fehlende Geständnis, die mangelnde Reue und die apologetisch anmutenden letzten Worte“ dürften nach Luber mit ursächlich für die verhältnismäßig hohe Strafe gewesen sein. Am 3./4. 12. 1947 verkündete das Tribunal das Urteil (S. 287ff.). Zur Verurteilung Rothaugs zu lebenslanger Haft führten lediglich drei Richtersprüche (u. a. im Verfahren gegen Katzenberger; S. 310, 312f.). Mildernde Umstände bei der Strafzumessung kamen angesichts der „besonderen Bösartigkeit und ideologischen Verblendung“ Rothaugs (S. 113) nicht in Betracht. Im Kapitel 4: „Bewertung und Folgen des Juristenurteils für die Ahndung von Justizverbrechen“ (S. 319ff.) befasst sich Luber u. a. mit dem niemals abgeschlossenen Strafprozess gegen die Richterkollegen im Sondergericht Ferber und Hoffmann (S. 326ff.). In der „Nachschau“ (S. 340ff.) geht Luber ein auf den weiteren Werdegang Rothaugs (1948 entlassen; 1967 verstorben) und Kößels sowie auf die Opfer des Justizunrechts (Familien Katzenberger und Seiler; S. 340ff.). Im Anhang (S. 348ff.) werden die englische Fassung der prozessrechtlichen Ordinance Nr. 7 und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 wiedergegeben. Schaubilder verdeutlichen die Geschäftsverteilung des Reichsjustizministeriums, den Gerichtsaufbau in der nationalsozialistisch beherrschten Zeit und die staatliche Hierarchie in dem nationalsozialistisch beherrschten Staat (S. 359 ff.). Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personen- und Sachregister (S. 380ff.).
Insgesamt ist es Luber gelungen, die Verteidigung Rothaugs durch Kößel detailliert herauszuarbeiten. Das Plädoyer von Kößel für Rothaug (S. 271f.) hätte etwas kritischer referiert werden sollen. Vielleicht hätte der Ablauf des Juristenprozesses im Ganzen etwas konzentrierter dargestellt werden und etwas stärker von dem Verfahren gegen Rothaug getrennt werden sollen. Es ist zu wünschen, dass noch weitere Verfahren des Juristenprozesses monografisch erschlossen werden, insbesondere die Verfahren gegen Franz Schlegelberger, Curt Rothenberger, Josef Altstötter, Ernst Lautz und Wolfgang Mettgenberg.
Kiel
Werner Schubert