Martin Luther und die deutsche Sprache

– damals und heute, hg. v. Wolf, Norbert Richard (= Schriften des europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften 7). Winter, Heidelberg 2017. 217 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Martin Luther und die deutsche Sprache – damals und heute, hg. v. Wolf, Norbert Richard (= Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften Bd. 7). Winter, Heidelberg 2017. 217 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Bei all dem Trubel, den das Reformations-Jubiläumsjahr 2017 um die Person und das Wirken Martin Luthers in Gang gesetzt hat, ist es wenig verwunderlich, dass neben dem Reformator auch der Sprachgestalter nicht ohne gebührende Aufmerksamkeit geblieben ist. Vielen gilt der Mönch aus Wittenberg mit seiner revolutionären Übersetzung der Bibel ins Deutsche, einsetzend mit dem „Neuen Testament“ im September 1522, immer noch als Schöpfer der neuhochdeutschen Schriftsprache und als jener Geist, der damit die Emanzipation des Deutschen als Hoch- und Kultursprache entscheidend angestoßen habe. Im „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530) soll er seine methodischen Prinzipien dargelegt haben.

 

Soweit das gängige Bild. Dass es, wie so manches, die Realität nur grob und unvollständig wiedergibt, zeigen die insgesamt neun breit gefächerten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, der auf eine Anregung des Direktors des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IDS), Ludwig M. Eichinger, aus dem Jahr 2016 zurückgeht, die überarbeiteten Vorträge des nachfolgenden Kolloquiums vom Mai 2017 präsentiert und von Norbert Richard Wolf editorisch betreut wurde. Unterschiedliche Aspekte von Luthers Sprachgebrauch werden in differenzierter Weise ausgeleuchtet.

 

In einem ersten Schritt hinterfragt Karlheinz Jakob „Sprachwissen und Spracheinschätzungen bei Martin Luther“ und wendet sich dabei gegen einen „zu radikale(n) Denkmalsturz“ und die Rückstufung Luthers zum bloßen „Katalysator“, sei dieser doch tatsächlich „in quantitativer und qualitativer Hinsicht der absolute ‚Sprach-Dominator‘ und ‚Sprach-Präger‘ für die deutsche Sprache im 16. Jahrhundert“ gewesen. Allerdings habe „(d)ie objektsprachliche Kompetenz Luthers dazu verführt, seine wenigen und unsystematischen sprachprogrammatischen Aussagen zu überhöhen“. So komme im vorher genannten, vielzitierten „Sendbrief“ von 1530 in „selbstherrlichen, egozentrischen Zitaten bereits der späte Luther zum Vorschein, der sein Lebenswerk in Gefahr sah“ (S. 34ff.). Mit der Rolle der Texte Luthers als einem „Sprachnormvorbild“ vom 16. bis zum 18. Jahrhundert setzt sich der Beitrag Markus Hundts auseinander. Auf diesem noch wenig erforschten Terrain ortet der Verfasser „eine bemerkenswerte Konstanz in den Bereichen Lexik und Syntax“ und laufende Anpassungen in der Orthographie und Morphologie. : „Die Lutherbibel […] konnte so wirken, wie es der Rechtschreibduden in der Gegenwart tut. Auch er verändert sich jeweils, bleibt aber als Instanz, auf die man sich berufen kann, stabil“ (S. 62). Hans-Werner Eroms setzt sich mit der Gestaltung von Luthers Bibelsprache und speziell mit den Ausklammerungen, die dem Text Feierlichkeit verleihen sollen, auseinander und kommt zum Ergebnis, dass der zu Luthers Zeit „vehement zu spürende progressive Impetus sich auch heute in seinem grammatisch-stilistischen Erbe bemerkbar (macht)“ (S. 91). Peter Eisenbergs linguistische Untersuchung sieht Luthers Schreibweise „mitten im Übergang weg von einer Dominanz des phonographischen Prinzips. Ihre Bedeutung für die Herausbildung eines überregionalen Schreibstandards liegt weniger im Ausgleich als überregionalem Kompromiss, sondern bei der höheren Abstraktheit seiner Schreibweisen im Sinne abnehmender Lauttreue. Abnehmende Lauttreue bedeutet zunehmende Verträglichkeit mit unterschiedlichen Lautungen“, weshalb auch „(m)it etwas Konzentration jeder die Lutherbibel letzter Hand (versteht)“ (S. 107f.). Der Bedeutung des Dialogischen in Martin Luthers Schriften – Luther hat überraschender Weise keinen einzigen der seinerzeit beliebten, neuartigen Prosadialoge verfasst – spürt Johannes Schwitalla nach, Hans-Ulrich Schmid beschäftigt sich mit der Funktion des häufig anzutreffenden Sprachwechsels zwischen dem Deutschen und dem Lateinischen in Briefen Luthers.

 

Mit dem Antijudaismus thematisiert Anja Lobenstein-Reichmann einen ebenso lange bekannten wie stets brisanten Aspekt in Luthers sprachlichem Schaffen. Gegen Bestrebungen der einen, „den Reformator komplexitätsreduziert zum Großvater des deutschen Antisemitismus zu erklären“, ebenso wie anderer, „ihn geradezu apologetisch aus der historischen Verantwortung zu entlassen“, fordert sie die Historisierung seiner Gestalt, seiner Lebenswelt und der damit verbundenen Sprachwelt ein. Aus diesem Blickwinkel sei Luthers Auseinandersetzung mit den Juden und dem Judentum „fundamentaler Argumentationskontext seiner reformatorischen Ideologie“ (S. 149). Eingebettet in eine jahrhundertelange antijudaistische Texttradition, sei die „Radikalisierung Luthers im Rahmen eines allgemeinen christlich-konfessionellen Diskursphänomens zu verorten, bei dem die Juden zum Opfer eines propagandistischen Doppelspiels werden. […] Sieht man ihn von den versteckten Absichten seiner Verfasser und von seinen tatsächlichen Funktionen her, so ist er ein Diskurs innerchristlicher Selbstvergewisserung, Gruppenbildung und Identitätskonstitution in glaubens- und identitätsunsicheren Zeiten und nur noch oberflächlich betrachtet ein ausschließlicher Abgrenzungsdiskurs gegen Juden“. Diese würden dann als „Diskursgegenstand gleichsam zur Verfügungsmasse in einer anderen Auseinandersetzung“ gemacht und somit zum Objekt einer allgemeinen kommunikativen Strategie, die deshalb so „auch heute noch“ funktioniere (S. 162f.).

 

Die beiden abschließenden Beiträge des Bandes widmen sich den Nachdrucken und Überarbeitungen, die Luthers Bibelübersetzung erfahren hat. Walter Haas behandelt die sogenannte Zürcher Bibel und stellt fest: „Die Herausforderung für das Buchgewerbe bestand darin, Luthers Leistung schnell und flächendeckend unter die Leute zu bringen. Unter den damaligen technischen und logistischen Bedingungen war das nur durch intensiven und dezentralisierten Nachdruck des Originals möglich“, ein dem heutigen Copyright vergleichbarer rechtlicher Rahmen fehlte zu jener Zeit. Bereits im Dezember 1522 sei der erste Nachdruck von Luthers Septembertestament in Basel bei Adam Petri erschienen, „an der entgegengesetzten Ecke des hochdeutschen Sprachgebiets, professionell gedruckt und eingepasst in die dortige Druckersprache […,] die meisten Einpassungen (mussten wohl) vom humanistisch gebildeten Setzer vorgenommen werden“ (S. 171f.). Während nach Luthers Tod mit einer Kanonisierung seiner Bibel die sprachausgleichende Elastizität verlorengegangen sei, sei die Zürcher Bibel diesem Schicksal entgangen, „die Kirche selbst modernisierte ihren Text alle hundert Jahre und bestimmte damit zumindest in den Schulen des alten Zürich die ‚Sprachnorm‘“ (S. 181). Dass Luthers Bibelübersetzung bis zur Gegenwart immer wieder Revisionen erfuhr und welche Gesichtspunkte dabei zu berücksichtigen sind, zeigt Norbert Richard Wolfs Aufsatz. Noch zu Lebzeiten Martin Luthers sind bis 1545 „insgesamt 36 vollständige Ausgaben und Teilausgaben der deutschen Bibel“ zu zählen, wobei „Luther bei jedem Schritt auch das schon Vorhandene überarbeitet, verbessert hat“ (S. 187), frei nach dem Motto „Schlechter Sprachgebrauch verhindert eine gute Botschaft“ (S. 195). Für den Verfasser liegt der Primat klar auf der theologischen Leistung des Reformators. Während die katholische Einheitsübersetzung der Bibel stets eben nur eine Übersetzung geblieben sei, „die den Ausgangstexten entspricht und sie ‚ordentlich‘ wiedergibt“, sei es Luthers Bestrebung gewesen, „eine deutsche Bibel zu schaffen“, weshalb sich auch „jede Revision der Lutherbibel am Originaltext von 1545 messen lassen (muss), zu ihm führen und immer wieder auch zurückführen (muss), selbst wenn der Wortlaut kaum noch den Regeln der Gegenwartssprache folgt“ (S. 210).

 

Im Gesamten vermitteln die Beiträge des Bandes, die jeweils mit eigenen Bibliographien (Quellen und Literatur) versehen sind, einen guten Einblick in die aktuellen Forschungsfragen, die mit Martin Luthers zweifellos herausragenden sprachlichen Leistungen einhergehen. Ein übergreifendes Register gewährleistet bei Bedarf den raschen Zugriff auf den jeweils benötigten Inhalt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic