Pilgrim, Volker Elis, Hitler 1 und Hitler 2

– Erstes Buch Das sexuelle Niemandsland. Osburg Verlag, Waldachtal 2017. 923 S. Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Pilgrim, Volker Elis, Hitler 1 und Hitler 2. Erstes Buch Das sexuelle Niemandsland. Osburg, Hamburg 2017. 923 S., 23 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Das Ausleben der Sexualität eines Menschen zählt zu jenen Aktivitäten, die üblicher Weise dem privaten Raum zuzurechnen sind und nach den traditionellen Regeln des bürgerlichen Anstandes nicht in die Öffentlichkeit gehören. Daraus folgt, dass Detailinformationen über die Art und Weise des Vollzugs zumeist exklusives Wissen der involvierten Sexualpartner bleiben. Es erscheint daher ein wenig Erfolg versprechendes Unterfangen, im Nachhinein verlässliche Feststellungen zum Intimleben eines Menschen treffen zu wollen, der seinen privaten Bereich abseits gezielter Inszenierungen weitgehend unter Verschluss hielt und dessen Tod mehr als 70 Jahre zurückliegt. Das Ganze wäre wohl kaum ein Thema, hieße das Objekt der Betrachtung nicht Adolf Hitler und hätten er und seine Herrschaft nicht den Tod von Millionen Menschen und den Versuch der vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums zu verantworten. Und selbst dann ist die Frage zu stellen, ob über die Befriedigung frivoler voyeuristischer Bedürfnisse des Boulevards hinaus die Exploration der Sexualität dieses Menschen irgendeinen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf seine historische Einordnung zu generieren vermag.

 

Der in den Rechtswissenschaften, Kriminologie, Geschichte, Psychiatrie und Soziologie multidisziplinär ausgebildete Volker Elis Pilgrim, unkonventioneller Autor mehrerer Publikationen zu einer Geschlechter-spezifischen Destruktionstheorie, ist davon zutiefst überzeugt. Die Dichotomie „Hitler 1“ und „Hitler 2“ nimmt Bezug auf die in der Hitler-Biographik seit langem diskutierte Frage, warum der unsichere, unauffällige Mann („Hitler 1“) ab 1918 eine gravierende Wesensveränderung zum radikalen, fanatisierten Hardliner vollzog, der nicht davor zurückschreckte, schlimmste Gewaltexzesse zu entfesseln („Hitler 2“). Der Verfasser meint nun diese Ursache identifizieren zu können: „Die Nahtstelle zwischen Hitler 1 und Hitler 2 war seine Zeit vom 21. Oktober bis zum 19. November 1918 als damals ‚hysterisch‘ diagnostizierter ‚gasvergifteter‘ Soldat in einer sanitären Spezial-Station für ‚Kriegsneurotiker‘ […]. Hitler 1 wurde während seines Aufenthaltes im Reserve-Lazarett zu Pasewalk ein Opfer der ‚Maschinengewehre hinter der Front‘. So nannte Sigmund Freud die Militärpsychiater, die die psychosomatisch oder mikroorganisch/molekularbiologisch erkrankten – damals genannt ‚kriegsneurotischen‘ – Soldaten im Eilmarsch mit dubiosen Verfahren traktierten, um die jungen Männer so schnell wie möglich an die Front zurückschicken zu können. […] Dabei geschah ein medizinischer Supergau: Durch einen ärztlichen Kunstfehler während der tiefenpsychischen Behandlung war Hitlers bisher verdrängtes Serienkiller-Potential aus Versehen ‚entdrängt‘, d. h. gezündet worden und Verhaltens-steuernd in Hitlers Ich-Struktur eingedrungen“ (S. 15f.). Um auch „alles Konstatierte mit der Dokumentierung von Zeugnissen und Zeugenaussagen zu beweisen“, sind als Beleg insgesamt vier „Bücher“ genannte Bände vorgesehen: das erste, nun hier vorliegende Buch widmet sich Hitlers Sexualität („Das genetisch deformierte, eigentliche sexuelle Interesse der Serienkiller ist aufs Quäl-Töten gerichtet, erst dabei erleben sie sexuelle Befriedigung“), die weiteren Bücher wollen „Hitlers dichte Inzucht“ beweisen und der Frage nachgehen, „(w)arum Hitler 1 kein aktiver Serienkiller (war)“ (Buch 2), die medizinhistorischen Fakten in Bezug auf Pasewalk klären (Buch 3) und verständlich machen, „(w)arum […] der Unhold Hitler 2 als gezündeter Serienkiller […] selber nicht mehr Hand anlegen konnte“ (Buch 4), sei doch „fürs Selbermorden die psychische Transformation Hitlers in Pasewalk zwanzig Jahre nach seiner Pubertät zu spät“ erfolgt, sodass er „zur ständigen Befriedigung seines ausgebrochenen deformierten Sexualtriebs serienkillend Quälerisches und Tödliches befehlen (musste), zuerst in Deutschland, alsdann in ganz Europa“ (S. 18ff.). Man darf gespannt sein, wie der Verfasser diese Nachweise führen wird. Es wird problematisch genug sein, bei der schwierigen Quellenlage die historischen Fakten zu Pasewalk überzeugend zu klären und zu dokumentieren, ganz zu schweigen von zwingenden Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Hitler unterstellte psychische Disposition.

 

Wird also der voluminöse erste Dünndruck-Band den hoch gesteckten Erwartungen gerecht, inwieweit kann er einen kausalen Zusammenhang zwischen Hitlers Sexualität und dessen behaupteter pathologischer Gewaltaffinität glaubhaft machen? Bemerkenswert ist zunächst die Akribie, mit der Volker Elis Pilgrim die verfügbaren Zeitzeugenaussagen zu Hitlers Sexualität zusammenträgt und methodisch in Anlehnung an das juristische Verfahren unter dem Terminus „prozessual-geschichtlich“ der kritischen Würdigung unterzieht (er unterscheidet im Wesentlichen „Ja-Sager“, also Stimmen, die eine sexuelle Aktivität Hitlers bestätigen wollen, und „Nein-Sager“, die eine solche bestreiten). Da er die relevante Literatur genau kennt, fällt es ihm nicht schwer, den Hitler-Biographen von Werner Maser bis Volker Ullrich sowie auch den Biographen Eva Brauns zum Teil grobe Versäumnisse und Fehler im Detail nachzuweisen, die er gnadenlos reklamiert. Bei sorgfältiger Prüfung aller zur Verfügung stehenden Zeugnisse scheinen sich tatsächlich keine stichhaltigen Beweise dafür finden zu lassen, dass Hitler mit seinen Partnerinnen inklusive seiner späteren Ehefrau Eva Braun jemals den Geschlechtsverkehr vollzogen hat. Mit Ada Klein, Maria Reiter und Lotte Bechstein habe es in seinem Leben bis 1932 bestenfalls drei „Kussverhältnisse“ gegeben, im Fall von Hitlers Nichte Angela „Geli“ Raubal würden „(a)lle heute erreichbaren seriösen Zeugnisse nein zu jeglicher praktizierter Genitalität zwischen Onkel und Nichte“ sagen (S. 175). Mit der zur Täuschung der Öffentlichkeit als ständige Gefährtin eingesetzten Eva Braun (sie sei keineswegs, wie oft zu lesen, versteckt worden, sondern habe über gezielt gesteckte Indiskretionen die wichtige Funktion  eines Scheinbelegs für einen sexuell intakten Hitler wahrgenommen) habe Hitler zwischen 1932 und 1935 – will man der recht umständlichen „Beweisführung“ in dieser Sache tatsächlich Glauben schenken, in der unter anderem die spezifische Form eines Sitzmöbels eine zentrale Rolle spielt – mutmaßlich „drei Jahre lang oral-vaginal – wiederum mit Hitlers geschlossenem Hosenschlitz“ verkehrt (S. 629). Danach galt: „Braun hatte seit 1936 nichts mehr zu tun – seit ihrer Installierung als Hitlers ‚Putativ‘-Gattin in der Szenerie des Berghofs, dargestellt für den inneren Kreis“ (S. 613). Laut Pilgrim sei „die latent lesbische, im Käfig ihrer Mutterbindung sich drehende Eva Braun“ aber mit dieser Praxis durchaus „glücklich“ gewesen (S. 519), denn gerade „Muttertöchter begehren Muttersöhne halluziniert lesbisch“ (S. 514). Mit seinem sexuellen Defizit (angeblich soll Himmler über Hitler eine geheime „Impotenz-Akte“ angelegt haben; vgl. S. 602ff.) hob sich der „Führer“ zudem unangenehm auffällig von den meisten seiner engsten Mitstreiter ab, die sich – allen voran Goebbels und Bormann – im Allgemeinen eines reichen Kindersegens erfreuen durften.

 

Der Schluss, den Volker Elis Pilgrim zieht, besteht darin, dass Adolf Hitler kein Bedürfnis nach normalen Sexualbeziehungen verspürt und in solchen auch keinerlei Befriedigung gefunden habe, nach einem Diktum Ernst Hanfstaengls gleichsam „sexuelles Niemandsland“ (S. 81) gewesen sei. Damit wird auch Lothar Machtans (2001) Annahme eines homosexuellen Hitler verworfen. Hingegen habe Hitler wie die gewöhnlichen kriminellen Serienkiller vom Schlage Fritz Haarmanns – der Verfasser führt noch eine ganze Reihe weiterer solcher Täter unter konkreter Schilderung ihrer grausamen Morde an – seit der oben angeführten, tragischen Aktivierung von „Hitler 2“ in Pasewalk immer neuer Gewalt bedurft, um zur orgastischen Entspannung zu kommen. Die Abstützung dieser provokanten These ruht indes auf höchst schwachen Beinen, nämlich im Wesentlichen auf einer 1989 erstmalig publizierten Erinnerung der Schauspielerin Marianne Hoppe (1909 – 2002), die 1936/37 bei einer privaten Filmvorführung für die NS-Führung in der Reichskanzlei folgende Reaktion Hitlers auf eine Gewaltszene beobachtet haben will: „Und da, glaube ich, kriegte Hitler eine Art Erregung und hat so die Knie gerieben bei diesem Ereignis […] und hat gestöhnt. Ich weiß nicht, ob er verrückt war, aber da kriegte er so eine Art von Orgasmus, sagen wir mal“ (S. 39). Analog interpretiert der Verfasser das aufgeregte Schenkelreiben Hitlers bei einem Eishockeyspiel und das anschließende vorzeitige Verlassen des Stadions als Akt der Onanie. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass auch ganz gewöhnliche Menschen bei der Wahrnehmung inszenierter Gewalt – man denke an die beliebten Genres der Action- und Horrorfilme – in irgendeiner Form emotional reagieren und keineswegs jede Aufregung oder Spannung dabei sexuell konnotiert sein muss. Gleiches gilt für das Verhalten des Publikums bei Sportveranstaltungen. Wenn Hitler zu seiner sexuellen Befriedigung tatsächlich der exzessiven Gewalt bedurft haben sollte, dann stellt sich die berechtigte Frage, weshalb er sich nicht vor Ort in Einrichtungen wie den Vernichtungslagern, die er stets konsequent mied, oder im unmittelbaren Frontbereich am realen qualvollen Sterben der Opfer ergötzt hat? Und wurde jemals die eigenhändige Tötung eines Menschen durch Adolf Hitler persönlich behauptet oder nachgewiesen? Ob seine zerstörerischen Befehle in der Endphase tatsächlich aus dem Impetus der persönlichen lustvollen Befriedigung eines Mordtriebes ergangen sind, muss beim damals rasch fortschreitenden physischen Verfall Hitlers ebenfalls angezweifelt werden und wäre alternativ mit einer paranoid gefärbten ideologischen Verbohrtheit zumindest nicht weniger plausibel erklärt. Ergänzend muss auf Hitlers vor den Massen gehaltene, von der Forschung schon seit langer Zeit fokussierte Reden hingewiesen werden, wo bei ihm Zustände höchster Erregung und nachfolgender Erschöpfung registriert worden sind; es muss daher geprüft werden, ob und in welcher Weise auch in diesem Kontext das Element der Gewalt eine zentrale Rolle spielt oder nicht.

 

Abseits von Pilgrims Hauptthese des mittelbar lustmordenden Serienkillers „Hitler 2“ trifft der Band noch manch weitere interessante Feststellung. So kann glaubhaft gezeigt werden, wie die vom NS-Dissidenten Otto Strasser im amerikanischen Exil verbreitete Erfindung einer angeblichen perversen sexuellen Beziehung zwischen Hitler und seiner Nichte Geli Raubal 1943 der psychologischen Kriegsführung der USA als Motivationsmittel von Nutzen war, während man dann 1945 im Zuge der Nürnberger Prozesse durch Manipulationen um Hitlers Leibarzt Theodor Morell umgekehrt versucht habe, Hitler als möglichst normal darzustellen, um seine angeklagten Paladine stärker zu belasten: „Wie hoch lag der Anteil der Schuld der Hauptkriegsverbrecher? Low, medium, large? Je ‚normaler‘ Hitler ‚gemacht‘ wurde, umso größer war der Schuld-‚Betrag‘ seiner Mittäter und Gehilfen“ (S. 778). Die These vom Selbstmord Geli Raubals bezeichnet der Verfasser als „eine der beschämendsten ‚Unbelecktheiten‘, die sich die gesamte Hitler-Forschung bisher geleistet hat“, um dann klar festzustellen: „Raubal ist eines gewaltsamen Todes durch fremde Hand gestorben“ (S. 499). Im zweiten Buch soll hierzu noch die genaue Beweisführung folgen. Die zugespitzten Positionen des Verfassers, die er in einem unverwechselbaren Jargon vorbringt, der, changierend zwischen streng systematischen und nachgerade humoristischen Passagen, seine Lust am Fabulieren und am Wortspiel erkennen lässt, sind als bewusster Affront gegen die akademische Hitler-Biographik, der er in Anlehnung an den Namen des Fälschers der Hitler-Tagebücher „Kujauismus“ vorwirft, inszeniert und zeigen dort tatsächlich manches Defizit auf. Es besteht allerdings die große Gefahr, dass sein eigener, faktisch schwierig zu untermauernder psychologisierender Ansatz im Endeffekt den strengen Ansprüchen historischer Tatsachenfeststellung nicht gerecht wird, indem er hoch spekulative Schlussfolgerungen als empirische Beobachtungen verkauft. Man darf jedenfalls neugierig sein, was die avisierten Folgebände tatsächlich noch zu leisten vermögen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic