Remy, Maurice Philipp, Der Fall Gurlitt

– die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal, 2. Aufl. Europa Verlag. München 2017. 669 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Remy, Maurice Philip, Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal. Europa, Berlin 2017. 669 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Zu dem Unrecht, das im Zuge der nationalsozialistischen Herrschaft rassisch Verfolgten zugefügt worden ist, zählt unter anderem die Abpressung von Kunstwerken zu einem inadäquaten Gegenwert und deren Eingliederung in verschiedene öffentliche und private Sammlungen. Nach dem Fall des Regimes wurde die Restitution dieser Werke an die ursprünglichen Eigentümer zu einem umstrittenen politischen wie juristischen Feld, das die gesellschaftspolitische Entwicklung widerspiegelt und seit der Jahrtausendwende durch spektakuläre Aktionen wie Beschlagnahmungen nicht nur den Stellenwert der Provenienzforschung steigerte, sondern auch verstärkt mediales Aufsehen erregte. Anfang März 2017 berichtete „Spiegel online“ über die freiwillige Rückstellung von Kunstwerken an Polen durch den Sohn des promovierten Juristen und SS-Gruppenführers Otto (von) Wächter. Wächters Familie soll sich das Material einst im Zuge von dessen Tätigkeit als hoher deutscher Besatzungsfunktionär in Polen illegal angeeignet haben. Ungleich größere Aufmerksamkeit hat ziemlich genau dreieinhalb Jahre zuvor die Causa Cornelius Gurlitt (1932 – 2014), der im November 2013 breit publik gemachte, sogenannte „Schwabinger Kunstfund“ von 2012, auf sich gezogen, der, wie man heute weiß, vorschnell und ganz überwiegend zu Unrecht mit dem Etikett der nationalsozialistischen Raubkunst versehen worden ist. Gurlitts Vater, der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895 – 1956), war einst als beauftragter Veräußerer sogenannter „Entarteter Kunst“ und als Einkäufer für das geplante „Führermuseum“ in Linz für die Nationalsozialisten tätig gewesen und hatte privat eine Sammlung von etwa 1.500 Kunstwerken (1.300 Papierarbeiten, 130 Ölbilder, 8 Skulpturen, 60 kunsthandwerkliche Arbeiten) überwiegend der klassischen Moderne zusammengetragen und seinem Sohn vererbt.

 

Die Art und Weise des Vorgehens, das Behörden und Medien in diesem Fall an den Tag legten, hat schon zeitgenössisch Kritik hervorgerufen, die nun von Maurice Philip Remy aufgegriffen und zum zentralen Anliegen seiner im Begriff von „Deutschlands größte(m) Kunstskandal“ (vgl. den Untertitel) kulminierenden Darstellung gemacht worden ist. Bereits 2013 hat er sich als zeitgeschichtlich engagierter Dokumentarfilmer unter dem Titel „Der seltsame Herr Gurlitt“ wohlwollend der Sache der Familie Gurlitt angenommen und überzogene Raubkunstverdächtigungen argumentativ zurückgewiesen. Das aktuelle Buch ist über gut zwei Drittel des Umfanges eine akribische Aufnahme der Familiengeschichte und genaue Dokumentation der Aktivitäten Hildebrand Gurlitts, erst das letzte Drittel konzentriert sich auf Cornelius Gurlitt, für den „(d)ie Sammlung seines Vaters […] zunehmend zur Belastung geworden zu sein (scheint). Nicht die Umstände, unter denen Hildebrand Gurlitt die Bilder zusammengetragen hatte, schon gar nicht die Möglichkeit, dass einzelne Bilder zweifelhafter Herkunft waren, sondern der Steuerbetrug und die Angst vor der Entdeckung versetzten Cornelius Gurlitt in einen Zustand andauernder Unruhe“ (S. 409f.). Nach dem Unfalltod des Vaters 1956 sei nämlich der Wert der Kunstsammlung verschleiert, im Verlassenschaftsverfahren mit nur 12.000 DM viel zu niedrig deklariert, in späteren Vermögenssteuererklärungen gänzlich unterschlagen und auch nach dem Ableben der Mutter Helene 1967 nicht angeführt worden.

 

Doch erst am 22. November 2010 ereilte das Unheil den mittlerweile fast 78jährigen menschenscheuen Cornelius Gurlitt im Weg einer Zollkontrolle im Zug von Zürich nach München, wo er mit einer größeren, aber noch legalen Menge Bargeld angetroffen wurde. Seine unkluge Erklärung, dieses Geld stamme „aus der Schweiz und aus dem [Erlös] von Bildern, die sein Vater in der NS-Zeit an das Auktionshaus Kornfeld in Bern (CH) verkaufte“ (S. 437), brachte die Zollfahnder in Verbindung mit den bekannten Aktivitäten seines Vaters unter der Hitler-Herrschaft zur Annahme, „hier möglicherweise einem kapitalen Raubkunst-Fall auf die Spur gekommen zu sein“ (S. 443). Am 20. Mai  2011 leitete die zuständige Staatsanwaltschaft in Augsburg bei gleicher Sachlage plötzlich ein Strafverfahren gegen Gurlitt unter dem Vorwurf der „Steuerhinterziehung, begangen durch die vorschriftswidrige Einfuhr von Kunstgegenständen aus der Schweiz in die Europäische Gemeinschaft“ ein. „Nicht einmal im Ansatz“ sei eine Grundlage dafür aus den Ermittlungsakten zu erschließen, sodass der Verfasser folgert, dass wohl „der Tatverdacht konstruiert wurde, um die rechtlichen Grundlagen für die Durchsuchung der Wohnung in München und des Hauses von Cornelius Gurlitt in Salzburg zu schaffen“ (S. 449). Am 28. Februar 2012 wurde auf richterliche Anordnung die Wohnung durchsucht und in weiterer Folge der Großteil der Kunstsammlung beschlagnahmt, eine Durchsuchung des Hauses in Salzburg hingegen von den österreichischen Behörden abgelehnt. Maurice Philip Remy spricht von einem „Beschlagnahmeexzess“, mit dem der Staatsanwalt „endgültig den Rubikon des rechtsstaatlichen Handelns (überschritt). D[ie] Beschlagnahmung aller Münchner Bilder und in der Folge die Dauer der Ermittlungen von annähernd zwei Jahren verletzten in extremer Form die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte Cornelius Gurlitts und warfen  den 79 Jahre alten Mann endgültig aus der Bahn“ (S. 468). Sein Verzicht auf rechtlichen Beistand sei „ein Kardinalfehler“ gewesen, „der entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Staatsanwaltschaft trotz des rechtswidrigen Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsbeschlusses jahrelang ungestört weiterermitteln konnte“ (S. 465). Schon bald war eine Reihe von Dienststellen auf der Leitungsebene über den Vorgang informiert und involviert, „neben dem Bayerischen Justizministerium und der Behörde des B[eauftragten der Bundesregierung für] K[ultur und] M[edien] auch das Finanzministerium und zwei seiner Behörden, das Zollkriminalamt und das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen“ (S. 427); die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin und die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg wurden mit Recherchen befasst.

 

Eine verhängnisvolle Dynamisierung erfuhr der gesamte Vorgang durch eine reißerische Veröffentlichung des Magazins „Focus“ in seiner Ausgabe vom 4. November 2013. Motiviert, endlich die eigenen Leistungen in der Öffentlichkeit gewürdigt zu sehen, habe wohl das Zollfahndungsamt den Redakteuren vertrauliches Material zugespielt, was der Verfasser folgendermaßen kommentiert: „Die Informationen […] stellten nicht nur eine eklatante Verletzung des Dienstgeheimnisses dar. Sie ließen auch jede Neutralität vermissen und verstießen damit gegen den elementaren Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung. […] Bevor überhaupt ein ordentliches Gericht darüber entschieden hatte, ob es sich mit dem Fall befassen würde, wurde das Vorurteil einzelner Ermittler zur Grundlage der Berichterstattung und einer beispiellosen Treibjagd auf einen unbescholtenen und zudem schutzlosen Menschen“ (S. 499). Entgegen der ausgestreuten Legende eines wiederentdeckten „Nazi-Schatzes“ in Milliardenhöhe habe damals faktisch schon eindeutig festgestanden, „dass rund die Hälfte der Bilder, nämlich jene aus Familienbesitz und jene, die Hildebrand Gurlitt aus der Aktion ‚Entartete Kunst‘ erworben hatte, ohne jeden Zweifel rechtmäßiges Eigentum von Cornelius Gurlitt waren; […] dass Hildebrand Gurlitt seine Bilder selbstverständlich auch auf ganz legalem Wege erworben haben konnte“ und „dass der Provenienzrecherche erfahrungsgemäß Grenzen gesetzt sind und sich die Herkunft eines Teils der Bilder nicht mehr klären lassen würde – ohne deswegen zwangsläufig Raubkunst zu sein“ (S. 506f.).

 

Die heftigen weltweiten Reaktionen auf den Artikel brachten die Behörden in Bayern und im Bund nun in Zugzwang, auf Druck von Kanzlerin Angela Merkel wurde eine martialisch „Taskforce“ genannte Expertengruppe ins Leben gerufen, „die die Provenienz der Kunstwerke aus der Sammlung Gurlitt in Amtshilfe für die Staatsanwaltschaft untersuchen sollte“ (S. 509), Bilder der Sammlung wurden kurzerhand ins Internet gestellt. Der gesundheitlich schwer angeschlagene, erst im Dezember 2013 durch einen gerichtlich eingesetzten Betreuer mit juristischer Ausbildung unterstützte Cornelius Gurlitt sei von der Vorsitzenden dieser Taskforce, der erfahrenen Juristin Ingeborg Berggreen-Merkel, mehrfach umgarnt und bedrängt worden, sich von seinem Eigentum zu trennen. Als Gurlitt am 6. Mai 2014 verstarb, hatte er tatsächlich testamentarisch seine Sammlung der Stiftung Kunstmuseum Bern vermacht. „Auffällig“ sei, „dass sich Gurlitts testamentarische Verfügung zu 100 Prozent mit den Interessen der Bundesrepublik und der bayerischen Staatsregierung deckte. […] Sämtliche Bilder […], deren Provenienz ungeklärt war, blieben in der Verfügungsgewalt des deutschen Staates. Unter dieser Voraussetzung ließ sich auch der Eindruck aufrechterhalten, in der Sammlung befänden sich Hunderte von Raubkunst-Bildern – was wiederum den Einsatz der Taskforce überhaupt rechtfertigte. […] (D)ie Verantwortlichen (konnten sich) […] der Weltöffentlichkeit […] als entschlossene Aufklärer von NS-Unrecht präsentieren. Mit der Sammlung Gurlitt ließ sich öffentlichkeitswirksam das durchexerzieren, was von den Museen und Sammlungen nur unvollkommen geleistet worden war“ (S. 539f.). Tatsächlich sind es bis dato gerade fünf Bilder aus der realistisch einen Gesamtwert von etwa 100 Millionen Euro repräsentierenden Sammlung, die sich wirklich als Raubkunst erwiesen haben, was einem Prozentwert gleichkommt, der erheblich unter dem in öffentlichen Sammlungen üblicherweise festzustellenden Anteil liegt.

 

Betrachtet man die vorliegende Publikation aus der Perspektive des Historikers, so ist die Leistung des Verfassers hervorzuheben, der noch zu Lebzeiten Cornelius Gurlitts mit dessen Einverständnis reiches Material in Kopien gesichert hat und auf dieser Grundlage eine zwischen persönlicher Tragödie, politischem Intrigenspiel und behaupteten Rechtsverletzungen changierende Causa minutiös dokumentieren konnte. Cornelius Gurlitt erscheint darin vor allem als Opfer von Mächten, die sich in kafkaesker Art verschworen haben, um ihn, den betagten, von sozialen Phobien und körperlichen Gebrechen geplagten, weitgehend verteidigungsunfähigen Mann um sein rechtmäßiges Eigentum zu bringen und zum Sündenbock für politische Versäumnisse zu stempeln. Der Umstand, dass Gurlitt es selbst mit dem Recht nicht allzu genau nahm – man denke an seine zollrechtlichen Vergehen und das Hinterziehen von Vermögenssteuern – und in Bezug auf seine Sammlung durchaus von gewissen Skrupeln geplagt war, rückt dabei im Verhältnis zum behaupteten, als skandalös qualifizierten, systematischen Fehlverhalten der involvierten Behörden als lässliche Sünde in den Hintergrund. Um die rechtliche Relevanz der vom Verfasser den staatlichen Akteuren vorgeworfenen Handlungen und Unterlassungen und den im Raum stehenden Vorwurf einer missbräuchlichen Instrumentalisierung des Rechts tatsächlich seriös beurteilen zu können, wäre nach Ansicht des Rezensenten die Expertise eines juristischen Sachkenners gefragt. Die Behandlung, welche die Privatperson Cornelius Gurlitt von Seiten der Behörden erfahren musste, macht auf jeden Fall wieder einmal den hohen Stellenwert deutlich, der auch in der liberalen Demokratie der rechtlichen Absicherung individueller Rechte gegenüber einer zunehmend expansiven Staatsmacht beigemessen werden muss.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic