Rüthers, Bernd, Deutsche Funktionseliten als Wende-Experten
Rüthers, Bernd, Deutsche Funktionseliten als Wende-Experten? – Erinnerungskulturen im Wandel der Systeme und Ideologien 1933, 1945/49 und 1989. UVK Verlag Konstanz 2017. 82 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Der in Dortmund 1930 geborene, in Münster 1958 mit einer Dissertation über Streik und Verfassung promovierte führende Arbeitsrechtler und Rechtstheoretiker Bernd Rüthers, der von 1960 bis 1963 als Direktionsassistent der Daimler-Benz AG auch wichtige praktische Erfahrungen an herausgehobener Stelle sammelte, beschäftigt sich seit seiner vielfach aufgelegten Münsteraner Habilitationsschrift des Jahres 1968 über die unbegrenzte Auslegung als Kern des Wandels der Privatrechtsordnung in dem Nationalsozialismus auch mit grundlegenden rechtsgeschichtlichen Fragen. Dieses Engagement hat er seit seiner Emeritierung in Konstanz noch vertieft. Auf diese Weise sind ihm wesentliche Erweiterungen gelungen, die der vorliegende schmale Band auf knappem Raum zusammenfasst.
Das Vorwort berichtet über die Vorgeschichte. Danach regte ihn nach der Veröffentlichung einer Studie über verfälschte Geschichtsbilder deutscher Juristen in der Neuen Juristischen Wochenschrift in dem Jahre 2016 der ihm bekannte Redakteur einer überregionalen Tageszeitung zu einer Suche nach ähnlichen Verdrängungen und Wahrnehmungsblockaden in anderen staatsnahen Lebensbereichen an, doch lehnte die zugehörige Redaktion den vorgelegten Text mit Bedauern ohne Angabe von Gründen ab. Auch eine Monatsschrift für europäisches Denken war nur anfangs an der Untersuchung des inzwischen von der Thematik gefesselten Verfassers interessiert, zog sich aber nach mehrfachem Hin und Her mit einer vagen Begründung zurück, woraufhin eine Ergänzung, Vertiefung und Aktualisierung beider Entwürfe erfolgte, die sich in neun Abschnitte gliedert.
In ihnen behandelt der Verfasser Erinnerungskulturen (Carl August Emge, Fritz Hartung), personelle Kontinuitäten mit verweigerten Erinnerungen (Hans Globke, Georg Dahm, Edmund Mezger), nachgeholte Hausaufgaben (Willi Geiger, Achenbach, Middelhauve, Lammerding), Mauern des Schweigens (nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshof von dem 19. Juni 1956 sind „in einem Kampf auf Leben und Tod bei allen Völkern seit jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden“), die Rolle der Justiz (viele schwerste Verbrechen blieben ungesühnt, weil sie nur als Beihilfe eingestuft wurden, wobei in der westdeutschen Gerichtsbarkeit nach 1949 die große Mehrheit der Richter und Staatsanwälte im Amt blieb), Ähnlichkeiten und Unterschiede in und nach dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik (führende Juristen der Deutschen Demokratischen Republik waren vor und nach 1989 durchgängig davon überzeugt, mit ihrer Loyalität einem „werdenden Rechtsstaat gedient zu haben“ und hatten die offenkundigen Menschenrechtsverletzungen übersehen), Nachwirkungen (herrschende Methode einer angeblich objektiven Gesetzesauslegung, die man treffend als subjektive Einlegung bezeichnen kann, Karl Larenz, Carl Schmitt), Bereiche jenseits der „furchtbaren Juristen“ (akademische und universitäre Eliten, Hans Robert Jauß, Medieneliten, Karl Korn, Giselher Wirsing, Franz Six, Werner Höfer, Großunternehmen, politische Institutionen und die allgemeine Scheu sich zu erinnern) und versucht ein Fazit in dreizehn Thesen. Danach können etwa totalitäre Systeme nur funktionieren, wenn und weil eine Mehrheit der Bevölkerung, und zwar besonders die Vertreter der intellektuellen Berufe und die Führungsschichten sich der systematischen Unterdrückung des totalitären Terrors fügen oder aus Überzeugung mitmachen oder wenigstens „mitlaufen“. Wer sich aber nicht oder falsch erinnert, den bestrafe die Zukunft, selbst wenn die Gefahr bestehe, dass die Strafe eine unschuldige Generation treffe – weshalb im Übrigen Recht und Gerechtigkeit vielfach nur relativ sein können und die Ehe für alle zeigt, dass demokratisch gewählte Parlamente inhaltlich zu demselben Ergebnis kommen können wie undemokratisch besetzte Verfassungsgerichte, wenn der von der Allgemeinheit mitgetragene Zeitgeist gerade Flexibilität bevorzugt.
Innsbruck Gerhard Köbler.