Spiller, Philipp, Personalpolitik beim Berliner Kammergericht von 1933 bis 1945

. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2016. 285 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

Spiller, Philipp, Personalpolitik beim Berliner Kammergericht von 1933 bis 1945. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2016. 285 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Während es an übergreifenden Studien zur Justiz in dem nationalsozialistisch beherrschten Deutschland nicht mangelt, blieben Arbeiten zur Rekonstruktion der Schicksale, der Verhaltensweisen, ihrer Spielräume und subjektiven wie objektiven Möglichkeiten von Richtern nach 1933 für einzelne Gerichte längere Zeit seltener. Erst der vergleichsweise späte Zugang zu Personalakten hat dann Arbeiten ermöglicht, die viele Lücken, auch zu den Situationen an Oberlandesgerichten ausgefüllt haben. Das Kammergericht als eines der wichtigsten Obergerichte war zwar schon Gegenstand von Forschungen. Eine genauere Analyse der Personalpolitik, wie sie der Autor vorlegt, schließt in bemerkenswerter Weise an ein Forschungsprojekt Hubert Rottleuthners an, der Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen, u. a. auch am Kammergericht, zwischen 1933 und 1964 aufgrund von Basisdaten untersucht hat. Seine Zielrichtung war allerdings die Justiz als Massenphänomen. Philipp Spiller sieht hingegen das Phänomen Justiz in der Diktatur nicht aus der „Vogelperspektive“, sondern primär „von unten“, d. h. die Justizangehörigen des Kammergerichts Berlin mit ihren persönlichen und beruflichen Daten im Kontext der allgemeinen Entwicklungen; dabei interessierten ihn spezielle wie allgemeine Forschungsfragen (S. 22f.). Damit entwirft er eine Sozial- und Politik-Geschichte eines bedeutenden deutschen Gerichts, in der die Einzelfragen nach Verhaltensweisen der etablierten Richterschaft nach der Machtergreifung, aber auch die personellen Änderungen, ihre Hintergründe, speziell die Personalpolitik innerhalb der Machtinstanzen Staat und Partei, Justiz und politischer Polizei genau in den Blick genommen werden. Die Forschungsfragen, die notwendigerweise die allgemeine Personalpolitik, aber eben auch dafür die Einzelbiografien darstellen und analysieren, werden in beeindruckender Weise angesichts der Fülle des Materials sehr differenziert beantwortet, führen aber auch zu allgemeineren Schlussfolgerungen, die weit über die Werdegänge und Einzelschicksale hinausgehen.

 

Die bei Rainer Schröder (HU Berlin) entstandene vorbildliche Pilotstudie greift auf der Basis des allgemeinen politischen Hintergrunds und der handelnden führenden Akteure ( u. a. Hanns Kerrl, Franz Gürtner, Otto Thierack, Franz Schlegelberger) zunächst die Maßnahmen gegen Richter jüdischer Herkunft und gegen politisch missliebige Richter auf, rekurriert aber bei aller Einbeziehung der geänderten normativen Grundlagen und Entwicklungen vor allem auf die aus Personalakten detailliert ermittelten Einzelbiographien. Die statistischen Auswertungen vermitteln Einsichten in die Alterskohorten, die früheren und nach 1933 gewandelten Parteizugehörigkeiten, die Berufsverläufe, die Zusammenhänge der früheren und eilends angepassten Parteikarrieren mit den beruflichen Entwicklungen, den Beförderungen, Versetzungen, Entlassungen bis hin zu Differenzen zwischen Reichsjustizministerium und Parteistellen innerhalb des „dual state“ (Ernst Fraenkel), in dem auch die Justiz sich willfährig als Subjekt und Objekt des Maßnahmenstaates erwies. Nicht unerwartet ist das Ergebnis, dass zwei Drittel der Richter des Kammergerichts der NSDAP angehörten oder, bis auf ganz wenige Ausnahmen, anderen NS-Organisationen, insbesondere dem nationalsozialistischen Juristenbund NSJB. Für Beförderungen war die Parteizugehörigkeit ein maßgeblicher Faktor. Auch der weitere Aufstieg zumal in höhere Ränge war an das Parteibuch gekoppelt. Dass fachliche Fähigkeiten dabei auch eine Rolle spielten, dass sie sogar auch bei politisch als besonders förderungswürdig gesehenen Personen sich zuweilen bei erheblichen Mängeln negativ auswirken konnten, wird deutlich. Effektive und – im Sinne üblicher Anforderungen der Vorgesetzten - tüchtige Arbeit bleibt ein Kriterium. Gleichwohl wird der früher zuweilen erweckte Eindruck, Justizangehörige, auch älterer Generation aus der Weimarer Zeit, hätten sich nicht politisch konform verhalten, hier klar widerlegt.

 

Bei den unterschiedlichen Perspektiven von NS-Juristenbund, politischen und fachlichen Beurteilungen und Anforderungen der neuen Präsidenten, der Personalreferenten, des Reichsjustizministeriums und der Parteikanzlei bis hin zu „Führerentscheidungen“ blieben auch Konflikte nicht aus. Bei näherer Betrachtung wird man wohl doch zu dem Resümee kommen, dass sie sich als in der „Polykratie“ der Diktatur nicht ungewöhnliche, fast als Strukturmerkmal zu charakterisierende Machtkämpfe zwischen diversen, sich zuständigkeitshalber bekämpfenden nationalsozialistischen Instanzen darstellten und selten einmal als Abweichungen von den ideologisch-normativen Ansprüchen des Staates, es sei denn, dass jene sich eifrig als bessere Nationalsozialisten gebärdeten oder auf je unterschiedlich mächtige Protektoren zu berufen wussten.

 

 Wie schnell auch die Justiz etwa bei der so genannten verschärften Vernehmung, der Folter in politischen Verfahren, mit der politischen Polizei konform ging, zeigt, dass die Richterschaft sich nicht nur mit dem Regime arrangierte, sondern im Grunde relativ umstandslos allen Anforderungen zu entsprechen bereit war.

 

 Der Verfasser beschreibt an Einzelfällen prototypisch, aber eben auch anhand der Persönlichkeits- und Berufsprofile die Durchgängigkeit der Kriterien für Karrieren, die nicht nur wegen der besonderen Bedingungen nach 1933 im nationalsozialistisch beherrschten Staat keine Probleme damit hatten, letztlich auch mehr oder weniger rechtswidrige und verbrecherische Gesetze umzusetzen.

 

In vielen Konstellationen tritt plastisch oder implizit eine „Kultur des Denunziatorischen“ (Bernhard Schlink) hervor, in der die Meldung von „abweichendem Verhalten“ des Kollegen als normale Pflicht, als Dienst an Staat und Partei verstanden oder verlangt wurde. Die Gemengelage zwischen Karrierewünschen, persönlichen und institutionellen Konkurrenzkämpfen, Anpassungsneigungen und vermeintlichen oder realen Notwendigkeiten, Aufstiegswünschen bis hin zu direkter oder indirekter Korruption und zu taktisch-strategischen Durchsetzungsmethoden politischer und privater Ziele wird in dieser stets quellennahen Arbeit sichtbar: Unter welchen Konstitutionsbedingungen verwandelt sich der Einzelne in der Masse aus einem noch im Geistes des Wilhelminismus und in der Weimarer Republik sozialisierten Juristen vergleichsweise problemlos in einen so genannten „Märzgefallenen“, in einen Konjunkturgewinner, nicht nur als „alter Kämpfer“, wird zu einem widerspruchslosen Diener eines neuen Systems, in welchem er, immer radikalere Zielsetzungen verinnerlichend, sich allen Zumutungen, wie widersprüchlich zu allen vorherigen Maßstäben auch immer, anbietet oder aussetzt. Die Strukturbedingungen eines Systems werden hier einmal mehr aber besonders plastisch aufgezeigt. Im Fokus steht dabei die Personalpolitik, die Art und Weise der Überprüfung, der Personalbeurteilung, der Mittel und Wege der Beeinflussung und Lenkung, seltener die Auswirkungen auf psychische Befindlichkeiten oder die Auswirkungen dieser Personalpolitik auf die Urteilspraxis. Sie wird allerdings in der politischen Justiz des Kammergerichts klarer erkennbar. Wer hier nicht im Sinne des Regimes funktionierte, was gewiss selten geschah, wurde von den maßgeblichen Gatekeepern erneut sortiert – das heißt aussortiert.

 

Da Spiller auch die Werdegänge von Staatsanwälten miteinbezieht, wo sich eine in Teilen noch deutlichere Politisierung feststellen lässt, ist auch insoweit ein aufschlussreicher Vergleich möglich. An der herausragenden Karriere von Ernst Lautz wird das besonders sichtbar: in Weimar noch Republikaner der DVP wird er nach anfänglichen Parteieinwendungen doch fast unaufhaltsam erfolgreich Karriere machen – bis hinzu einem willigen Vollstrecker des sog. Nach- und Nebel-Erlasses von 1941 in besetzten Gebieten und dann zum rabiaten Ankläger am Volksgerichtshof.

 

 Die in sehr subtiler Art und Weise vorgelegte, zuweilen fast lakonisch stilisierte, nüchtern-ernüchternde Bestandsaufnahme könnte auf solcher Basis systematische, mit ebensolchen sozialwissenschaftlich-rechtshistorischen Mitteln arbeitende Nachfolger finden, die solche Justizkarrieren, die ja nicht durchweg vor Kriegsende mit Pensionierung endeten, über die Zäsur von 1945 hinaus vor den Spruchkammern, vor und bei Gerichten nach dem zweiten Weltkrieg und in den Justiz-Berufen verfolgt, wie das partiell für manche hohe Gerichte durch die Arbeiten von Klaus-Detlev Godau-Schüttke ( betreffend BGH-Richter), von Diemut Majer zur NS-Justiz, zu einzelnen Persönlichkeiten bis hin zu Richtern am Bundesverfassungsgerichts durch Helmut Kramer oder zu anderen Protagonisten wie in der Reihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“ (hg. v. Wolfgang Proske) geschehen ist. Der erwähnte Oberreichsanwalt Lautz gehörte zu den 16 Angeklagten im Nürnberger Juristenprozess. Dabei ging es u. a. um seine Durchführung der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in Ostgebieten von Ende 1941, die bei kaum greifbaren Tatbeständen Todesstrafen verhängte. Die amerikanischen Richter, die ihn zu 10 Jahren Haft verurteilten, schrieben in den Strafzumessungsgründen einen psychologisch und rechtspolitisch seltsam ambivalenten , hier nur zitierten Satz: „...aber zu seinen Gunsten kann gesagt werden, daß wäre das deutsche Gesetz eine Entschuldigung, was es nicht ist, viele seiner Handlungen entschuldbar wären.“

 

Düsseldorf                                                     Albrecht Götz von Olenhusen