Süß, Thorsten, Partikularer Zivilprozess und territoriale Gerichtsverfassung

. Das weltliche Hofgericht in Paderborn und seine Ordnungen 1587-1720 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 69). Böhlau, Wien 2017. 570 S. Besprochen von Bernd Schildt.

Süß, Thorsten, Partikularer Zivilprozess und territoriale Gerichtsverfassung: Das weltliche Hofgericht in Paderborn und seine Ordnungen 1587–1720 (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 69), Böhlau Köln Weimar Wien 2017, 570 S.   Thorsten Süß beginnt einleitend und für den Leser zunächst etwas überraschend mit der Skizzierung eines spektakulären Reichskammergerichtsprozesses und dessen publizistischer Begleitung durch den Kläger in diesem Fall - Alexius Bachmann. Das Geschehen im Fall Bachmann entsprach genau dem überkommenen Bild vom erbarmungswürdigen Zustand des Fürstbistums Paderborn und insbesondere seiner Justizverfassung. Es ist geprägt von der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr beliebten, als historische Quellengattung aber nicht unproblematischen Reiseliteratur (Campe, Gruner). Ganz dieser Tradition verhaftet haben preußische Beamte nach der Säkularisierung (1803) und dem durch den Reichsdeputationshauptschluss bestimmten Übergang an Preußen (RDH § 3) dieses einseitige und düstere Bild von den wirtschaftlich-sozialen, politischen, religiösen und justiziellen Gegebenheiten im nunmehrigen Erbfürstentum Paderborn fortgeschrieben. Dem folgten auch die nur vereinzelten Stimmen aus der geschichtswissenschaftlichen Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die preußenfreundlich und antikatholisch bestimmte Diktion dieser Historiographie ließ kaum Raum für ein Verständnis der Verfassungs- und Justizstrukturen eines traditionell katholisch-konservativ geprägten Kleinstaates wie des (ehemaligen) Fürstbistums Paderborn.   Der Verfasser zieht aus alldem den Schluss, dass sich „über die Gerichtslandschaft im alten Fürstbistum Paderborn“ (S. 33) gegenwärtig keine verlässlichen Aussagen machen lassen. Auf breiter Quellenbasis nimmt er an Hand der Geschichte des weltlichen Hofgerichts in Paderborn vom ausgehenden 16. Jahrhundert bis zum Erlass der Hofgerichtsordnung von 1720 die Gerichtsverfassung und den Zivilprozess in den Blick. Ausgehend von einer breit angelegten Exegese der beiden Paderborner Hofgerichtsordnungen von 1619 und 1720 sowie eines Entwurfs von 1666 untersucht Süß auch politisch-verfassungsrechtliche Quellen, wie etwa Landtagsverhandlungen und die Überlieferung der Regierungskanzlei und des Domkapitels, die insbesondere Einsichten zu den Motiven und machtpolitischen wie finanziellen Interessenlagen bei der Einrichtung eines Landesobergerichts vermitteln. Von besonderer Aussagekraft sind aber vor allem die Selbstzeugnisse des Hofgerichts in Gestalt von Prozessakten, Urteils- und Protokollbüchern, die in erheblichem Umfang sekundär in den Reichskammergerichtsakten mit Paderborner Vorinstanzen überliefert sind.   Im Hauptteil zeichnet der Verfasser die Geschichte des Paderborner Hofgerichts in vier Schritten nach: Die Anfänge des Gerichts liegen - wie so oft - weitgehend im Dunkel. Unzutreffend ist allerdings die Annahme, das Hofgericht würde in der reichskammergerichtlichen Überlieferung erstmals 1588 als erste Instanz auftauchen. Richtig ist vielmehr, dass das Paderborner Hofgericht sowohl im Münsteraner Repertorium als auch im Bestand Reichskammergericht des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen (LAW) bereits 1565, 1570 und 1572 (Lfd. Nrn. im Inventar 4103, 2961 und 708) als erstinstanzliches Gericht nachweisbar ist. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Fundstellen zu Reichskammergerichtsprozessen besser zumindest auch mit der lfd. Nr. im jeweiligen Repertorium/Inventar oder der Wetzlarer Generalrepertoriumsnummer zu zitieren wären und nicht allein mit der in Münster als Bestellnummer genutzten preußischen Generalrepertoriumsnummer, was nicht nur das Nachschlagen im Inventar erschwert, sondern auch leicht zu Verwechslungen führen kann.   Für die beiden folgenden Abschnitte stützt der Verfasser sich auf die Hofgerichtsordnung von 1619 (S. 51-193) bzw. den Entwurf zu einer Hofgerichtsordnung von 1666 (S. 193-247). Naturgemäß ergibt sich hieraus die Möglichkeit, sehr viel detailliertere Erkenntnisse zu den Gerichtspersonen, dem Verfahren und den Zuständigkeiten des Paderborner Hofgerichts zu gewinnen sowie, was den Entwurf von 1666 angeht, auch die Reformbestrebungen bezüglich der Gerichtsverfassung des Fürstbistums Paderborn insgesamt nachzuzeichnen. Im vierten Zeitabschnitt (S. 247-266) schließlich wendet sich der Autor den Reformbestrebungen um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zu. Im Ergebnis dieser Reformen kam es dann zum Erlass der Hofgerichtsordnung von 1720, die inhaltlich weitgehend dem Entwurf von 1666 entspricht.   Thorsten Süß beklagt generell den Mangel an Editionen frühneuzeitlicher Rechtsquellen (S. 44). Konsequenterweise ediert er deshalb in einem Quellenanhang die Texte der Hofgerichtsordnungen von 1619 (- allerdings irrt Süß, wenn er meint, dass die Druckfassung dieser Ordnung aus dem Jahr 1702 bisher unbekannt war¸ sie ist spätestens seit 2014 als Digitalisat im Netz verfügbar -) und 1720 sowie den Entwurf einer Hofgerichtsordnung von 1666. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung historischer Buch- und Archivbestände müssen aber wohl quellen- und textkritische Editionen mit einem Bedeutungsrückgang oder mindestens einem Bedeutungswandel rechnen. Der Gesichtspunkt einer leichten Verfügbarkeit (nicht nur) normativer Texte spricht doch eher für die in der Regel auch kostenlosen und unmittelbar am Schreibtisch des Forschers verfügbaren Digitalisate, zumal in der vordringenden Volltextversion. Das bedeutet allerdings nicht, dass Editionen per se unwichtig oder gar überflüssig werden. Vielleicht müssen sich moderne Buchausgaben (rechts)historischer Texte - jenseits philologischer Forschungsinteressen - künftig sehr viel stärker als im vordigitalen Zeitalter am Wert der exegetisch vergleichenden und kontextualisierenden Analyse ihrer Inhalte messen lassen.   Jatznick                                                          Bernd Schildt