Zelle, Karl-Günter, Mit Hitler im Gespräch

. Blenden – überzeugen – wüten. Schöningh, Paderborn 2017. 335 S., 11 Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.

Zelle, Karl-Günter, Mit Hitler im Gespräch. Blenden – überzeugen – wüten. Schöningh, Paderborn 2017. 335 S., 11 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

2010 erschien unter dem Titel „Hitlers zweifelnde Elite: Goebbels – Göring – Himmler – Speer“ eine mehrere hundert Seiten umfassende Studie, die in der historischen Fachwelt aufgrund ihrer methodischen Besonderheiten eine eher kritische Aufnahme erfahren hat. Es handelt sich dabei um die von Sönke Neitzel betreute, von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz approbierte historische Dissertation, mit der der bereits im achten Lebensjahrzehnt stehende Unternehmensberater im Ruhestand Karl-Günter Zelle seiner naturwissenschaftlichen Promotion aus 1964 ein weiteres spätes Doktorat hinzufügte. In seinem jüngsten Werk, das in vielem deutliche Parallelen zur Arbeit aus 2010 aufweist, versucht er die Gesprächsführung Adolf Hitlers anhand zahlreicher Beispiele zu analysieren, zu erklären und daraus Folgerungen im Hinblick auf die grundsätzlichen Ziele des Diktators abzuleiten.

 

Neben der bereits vielfach untersuchten Rednergabe Hitlers sei nach Zelle das persönliche Gespräch eine weitere wesentliche Säule seiner Herrschaft gewesen, mit deren Hilfe er Anhänger gewonnen und für Projekte begeistert, innenpolitische wie außenpolitische Erfolge generiert und zugleich fortwährend sein Selbstbild bestätigt habe. Schon Ende der 1960er-Jahre habe Andreas Hillgruber im Kontext seiner zweibändigen Edition „Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler“ (1967/1970) zwar Hitlers Gesprächshaltungen und Eigenschaften prägnant zusammengefasst, dabei aber die vorhandenen, für Hitler ebenfalls typischen Unzulänglichkeiten ausgeklammert. Um diese adäquat beschreiben zu können, reklamiert der Verfasser nun die Einbeziehung psychologischer Erkenntnisse in die historische Analyse. Zwar lehnt er nachträgliche tiefenpsychologische Interpretationen als zu spekulativ ab, bekennt sich aber zu „Diagnosen, welche auf beobachtetem Verhalten beruhen“ (S. 24). Dazu gehörten die der Theorie der Kognitiven Dissonanz entlehnten „Kategorien des Öffentlichen und des Privaten Selbst“ (S. 21), die sich bei Hitler in einem extremen Ungleichgewicht befunden hätten, sowie eine – im Übrigen bei zahlreichen prominenten Persönlichkeiten aus Kunst und Politik zu diagnostizierende – Bipolare Störung, erkennbar im Wechsel manischer oder hypomanischer Hochstimmung mit Phasen depressiver Niedergeschlagenheit: „Nicht zuletzt die Überhöhungen der manischen Phasen befähigten Hitler, die Menschen zu begeistern und sie zu beherrschen. Das war eines der Geheimnisse seines Erfolges. Aber die überhöhte Stimmung konnte auch einer trüben weichen. Kurze depressive Phasen werden sich zeigen: diese mit einer größeren Nähe zur Wirklichkeit und gelegentlichem Pessimismus. Dann war er des Krieges überdrüssig, sehnte sich nach einem Dasein als Architekt oder dachte gar an Selbstmord“ (S. 23). Diese Stimmungsschwankungen würden sowohl seine bisweilen widersprüchlichen Äußerungen etwa in der Frage des zu erwartenden Kriegsausganges erklären, die in der jeweiligen Situation gemäß dem gerade aktuellen Persönlichkeitsstatus Hitlers durchaus als authentisch und nicht zwingend als von vornherein kalkuliert einzuschätzen seien, als auch die Tatsache, dass der psychisch „weit vom Normalfall (entfernte)“ Hitler „(g)leichzeitig über vielfache erstaunliche Fähigkeiten und daneben über groteske Beschränkungen (verfügte)“ (S. 25). Ausgehend von dieser Prämisse will die Arbeit sieben „Leitfragen“ beantworten, welche die von Hitler im Gespräch eingesetzten nichtsprachlichen und sprachlichen Mittel, seine dabei verfolgte Kernintention, seiner Persönlichkeit geschuldete Grenzen, seine Wahrnehmung der Welt in den manischen sowie in den depressiven Phasen, die Bedeutung seiner Wutausbrüche  und die Existenz übergeordneter verborgener Ziele betreffen. Als Quellen werden vor allem Protokolle (diplomatische und militärische Besprechungen, Rüstungskonferenzen, Tisch- und Nachtgespräche) herangezogen, darüber hinaus auch Tagebücher – vor allem die umfangreichen Goebbels-Tagebücher – und Memoirenwerke (zu denen der Verfasser seltsamer Weise auch die Protokolle der Nürnberger Prozesse zählt, da, wie er erklärt, gerade hier das „Bedürfnis zur Rechtfertigung […] besonders zum Tragen kommt“; S. 26).

 

Die Untersuchung startet mit einer Skizze von „Hitlers Selbstbild“ als Prophet, Politiker und Feldherr inklusive seiner Wahrnehmung des Volkes als eine seiner Herrschaft unterworfene, rassisch konstituierte Opfergemeinschaft. Die Beschäftigung mit diesem Thema sei erforderlich, um „die Art seiner Gesprächsführung […] zu untersuchen […] (mit) dem Abstand der Nachgeborenen und gleichzeitig mit dem Bemühen, die Verhaltensweisen von Hitlers Zeitgenossen zu verstehen“ (S. 44). Letzteres sollte wohl selbstverständlich sein, und wenngleich durch die Ausführungen kein Schaden entsteht, darf doch gefragt werden, ob oder wie sehr ein mit der Geschichte des Nationalsozialismus halbwegs vertrauter Leser tatsächlich noch dieser allgemeinen Informationen bedarf. Sodann wird, einleitend zum Kapitel über Hitlers nichtsprachliche Mittel, festgehalten, dass „sein Charisma auch auf der Inszenierung des Gesprächs: dem sorgfältig gewählten Ort, dem Rahmen, nicht zuletzt dem Empfang (beruhte)“ und „während des Gesprächs Hitler durch Gesten, durch Berührung, nicht zuletzt durch Auge und Blick, seine Rede bekräftigen und sein Gegenüber verpflichten (konnte)“ (S. 45). Erörtert werden ferner eventuelle hypnotische Fähigkeiten bis hin zum gezielten Einsatz von Tränen. Die Methode des Verfassers besteht hierbei darin, entsprechende Gesprächsbeispiele darzustellen, zu interpretieren und dann zusammenfassend auf den Punkt zu bringen, etwa in folgender Art: „Hitler verfügte über ein wirksames Ritual von Blick- und Körperkontakt. Die Initiative hierzu ging stets von ihm aus. Es bewirkte bei seinen Anhängern Gefühle der Ergebenheit, der Liebe und der kindlichen Unterordnung (S. 55). Ein ergänzender, auf Forschungen Irenäus Eibl-Eibesfeldts zur Biologie des menschlichen Verhaltens rekurrierender „Exkurs: Blick und Körperkontakt in der Ethologie“ bemüht sich um die Einbettung der gezogenen Schlussfolgerungen in einen allgemeinen theoretischen Kontext, die aber nicht über die exemplarische Dimension hinausgeht.

 

In ähnlicher Weise greifen solche – meist sehr knapp gehaltene – Exkurse an anderer Stelle das sozialpsychologische Konstrukt der Kognitiven Dissonanz (S. 79), den Rededrang (S. 73: „Bei Hitler vereinigten sich also der Rededrang des Manischen und der des Dominanten“), schnelles und langsames Denken (S. 73f.), die Kunst des Lügens (S. 101: „Manche Menschen tragen schwer daran, wenn sie durch die Umstände zu einer Lüge genötigt werden – nicht so Hitler. Er log gekonnt“), die Taktik, eine leichtere Frage zu beantworten, um von schwierigen abzulenken (S. 128f.), die „Schwierigkeiten des Ungehorsams“ (S. 140; Bezugnahme auf das klassische Experiment Stanley Milgrams zur Autoritätshörigkeit), Spott (S: 158), Wut (S. 162f.), „Kognitive Empathie“ (S. 180f.), die „Verfügbarkeitsheuristik“ (S. 204: „Leicht verfügbare Informationen blockieren die Suche nach umfassenden und maßgebenden“), Kränkung und Aggression (S. 229), die Theorie des fundamentalen Attributionsfehlers (S. 233f.), den Denkfehler der versenkten Kosten (S. 236), die Nekrophilie (S. 238f.) sowie die Wut des Scheiterns (S. 260ff.) auf. Diese kurzen, allgemein gehaltenen Ausblicke in die Psychologie sind vermutlich als weiterführender Gedankenanstoß intendiert, eine tiefere Analyseleistung für das Thema erbringen sie kaum. Grundsätzlich stellt sich hier die Frage der Expertise des Historikers auf fachfremdem Gebiet.

 

Das so nahe liegende, in einer reichen Literatur zugängliche Feld der Kommunikationsforschung fließt hingegen nicht in systematischer Weise in die Untersuchung ein. Dieses Manko erscheint insofern gravierend, als so der Eindruck einer willkürlichen Zusammenstellung einzelner Gesprächssituationen entsteht, die vom Verfasser nicht nur gleichsam als Beweise für geschicktes oder ungeschicktes Agieren Hitlers sowie für die Anwendung bestimmter Gesprächstechniken reklamiert werden, sondern darüber hinaus als Belege für dessen allgemeine Charaktereigenschaften. Durch das Fehlen eines ordnenden kommunikationstheoretischen Rahmens sowie der quantifizierenden Erfassung bestimmter Parameter haftet diesen Urteilen oft etwas Spekulatives an. Rechtfertigt der Sachverhalt, dass Hitler aus dem Umstand, der fälschlich der Homosexualität bezichtigte Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst von Fritsch, habe bei der Gegenüberstellung mit seinem Erpresser „einen eiskalten zurückhaltenden Eindruck gemacht, anstatt entrüstet aufzufahren“, auf eine Schuld Fritsch‘ schloss, tatsächlich den (auf eine Äußerung Rundstedts zurückgehenden) verkürzten Schluss, Hitler habe hier „als Gefreiter nicht die Offiziersehre verstehen“ können (S. 178) und somit seine „Grenzen des Einfühlungsvermögens“ (Subkapitelüberschrift) offenbart? Für Letzteres gibt es fürwahr treffendere und drastischere Beispiele als diese durchaus denkmögliche situative Fehleinschätzung, einmal vorausgesetzt, dass Hitlers Erklärung überhaupt seine Gedanken ehrlich wiedergibt und nicht nur aus einem taktischen Kalkül heraus vorgeschoben worden ist. Und welche Folgerungen sollte man wohl aus den folgenden Sätzen ziehen, die an einen Besuch Hitlers an Napoleons Grabstätte im Pariser Invalidendom und an dabei von ihm geäußerte Vorstellungen für sein eigenes Grabmal anknüpfen: Der Architekt „Giesler fertigte ein Modell und führte es Hitler vor. Der, nach einem Augenblick der Überraschung, blickte Giesler in die Augen, legte ihm die Hand auf die Schulter und blickte dann durchs große Fenster hinaus“ (S. 230). Obwohl im Kontext der „Überhöhung des Selbst“ (Subkapitelüberschrift) präsentiert, ist der Vorgang so vage, dass er bestenfalls Spekulationen zulässt, kann doch Hitler bei diesem Gestus fürwahr alles Mögliche durch den Kopf gegangen sein. Überprüfbare Ergebnisse sehen anders aus.

 

Streng genommen illustrieren Karl-Günter Zelles bunt gemischte Beispiele in Summe nur ein weiteres Mal die sattsam bekannten Charakterzüge und Verhaltensweisen Hitlers, wie wir sie aus zahllosen Darstellungen kennen: den ideologisch getriebenen Fanatiker, der, ausgestattet mit einem außergewöhnlichen politischen Instinkt, sich der jeweiligen Situation nach Opportunität geschmeidig anpasste, dabei auch vor Lug, Trug und Mord nicht zurückschreckte und andererseits alles konsequent ausklammerte und abblockte, was seine Ziele, deren Verwirklichung oder die Autorität seiner Person in Frage stellte. Bekanntlich verlangte der unbeschränkte Führerwille Unterwerfung und Zustimmung und ließ demnach weder die kritische Selbstreflexion noch Kritik von außen oder Widerspruch jeglicher Art zu. Durch die Nichteinführung eines transparenten Analyseschemas wurde leider die Chance auf mögliche neue Erkenntnisse vertan, etwa über eine chronologisch fortschreitende systematische Untersuchung von Hitlers inoffiziellen wie offiziellen Gesprächen während verschiedener Phasen seines Werdegangs Veränderungen nachzuweisen und darzustellen. Der abschließende Versuch des Verfassers, aus der Art und Weise, wie Hitler seine Gespräche führte, Schlüsse im Hinblick auf seine verborgenen Ziele zu ziehen und hier zu neuen Einsichten zu gelangen, wirkt hingegen nach Ansicht des Rezensenten aufgesetzt und ohne zwingenden Kausalitätsbezug zum eigentlichen Thema; man hätte daher auf diese sich mit älteren Thesen Sebastian Haffners sowie Bernd Wegners befassenden Passagen gut und gerne verzichten können. Es verbleibt somit insgesamt der zwiespältige Eindruck eines bestimmt bemühten und fleißigen Werks, dessen heterogene Elemente aber nicht so recht zu einer Einheit finden.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic