Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870-1970

, hg. v. Lehnert, Detlef (= Historische Demokratieforschung 11). Metropol, Berlin 2017. 360 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870-1970, hg. v. Lehnert, Detlef (= Historische Demokratieforschung 11). Metropol, Berlin 2017. 357 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Juristen, Politikwissenschaftler und Historiker stellen in diesem Band Werke von Juristen (und einem Historiker) aus Deutschland und Österreich vor, soweit sich diese mit Problemen der Verfassung beschäftigten. Die ausgewählten Denker sind gewiss repräsentativ für den Zeitraum von 1870-1970, doch wird weder deren Auswahl noch die Wahl des Zeitraums begründet.

 

Das Buch wird eröffnet durch eine kompetente Einordnung des deutschen und österreichischen Verfassungsdenkens in diesem Zeitraum durch den Herausgeber. Allerdings erschweren die oft langen Schachtelsätze und eigentümlichen Wortprägungen („Habilitations-Österreicher“, „Kommentar-Spezialist“) das Verständnis. Detlef Lehnert schreckt auch vor Sätzen von acht Zeilen nicht zurück. Er kann auch nicht verbergen, dass er ein ausgewiesener Kenner des Werks von Hugo Preuß ist, indem er dessen Bedeutung und Wirkung in einem Maße in den Mittelpunkt stellt, das wohl nicht jeder nachvollziehen kann.

 

Ewald Grothe bespricht mit Otto Hintze den einzigen Historiker, der Aufnahme gefunden hat, weil dessen institutionengeschichtliche und vergleichende verfassungsgeschichtliche Studien bis heute Maßstäbe gesetzt haben. Denn sie waren meist methodisch interdisziplinär und thematisch länderübergreifend wie epochenübergreifend. Grothe arbeitet vor allem biografischen Motive für diesen Weg zur historischen Verfassungssystematik heraus. Die handwerklichen Voraussetzungen dafür habe Hintze in Gustav Schmollers Schule der historischen Staatswissenschaften und bei der Edition der Acta Borussica erworben. Den Untergang des Kaiserreichs habe Hintze als einen Verlust erfahren, den er wissenschaftlich verarbeitete, indem er sich den Strukturen und Institutionen des als bürokratischen Großbetrieb verstandenen Staates zuwendete; ihn also entpolitisierte.

 

Welche erstaunliche internationale Wirkung die Genossenschaftslehre von Otto von Gierke bis heute hat, zeigt sich unter anderem darin, dass sie hier von einem japanischen Juristen vorgestellt wird. Yasuhiro Endo teilt die herrschende Meinung, dass Gierkes rechtsgeschichtliche Studien für eine vertiefende Kenntnis der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Formen von Herrschaft wegweisend gewesen seien. Er betont aber, was sehr viel weniger beachtet wird, die Leistungen des mittelalterlichen Rechtshistorikers für die föderalistische Tradition des deutschen Staatsdenkens seit dem Kaiserreich. Von der Genossenschaftslehre ausgehend, habe er befruchtend auf den modernen Gedanken des Bundesstaats gewirkt, indem er sich gegen die zeitgenössische Staatslehre von der ungeteilten Souveränität des Reiches positionierte. Durch seinen Ansatz eröffnete er ein größeres Verständnis für das föderalistische Verfassungsdenken aus dem wenige dann die Konsequenzen gezogen haben. Am folgenreichsten sicherlich Hugo Preuß mit seiner Konzeption der Organisierung der öffentlichen Gewalt von den gemeindlichen Gebietskörperschaften über den Einzelstaat bis hin zum Reich. Wie weit diese auf Otto Gierke zurückzuführen ist, arbeitet Christoph Müller heraus.

 

Der weniger bekannte Elsässer Robert Redslob verwarf den französischen Parlamentarismus der Zwischenkriegszeit, dem er ein idealisiertes Bild der parlamentarischen Monarchie Englands gegenüberstellte. Mit dieser Theorie des Parlamentarismus, so Armell Le Divellec von der Universität Paris II, habe er in der Weimarer Republik die Kritiker der Volkswahl des Reichspräsidenten gestärkt. Sein starr festgehaltener Skeptizismus hinsichtlich des Parlamentarismus, der durch die vergleichende Heranziehung weiterer Systeme auf eine breitere Basis gestellt wurde, habe seine breite Rezeption nicht behindert, ihm aber auch häufig Kritik eingebracht.

 

Obwohl Leo Wittmayer österreichischer Ministerialbeamter gewesen ist, hat er sich überwiegend mit deutschen Verfassungsorganen beschäftigt. 1922 hat er sein Hauptwerk über die Weimarer Verfassung vorgelegt. Detlef Lehnert entdeckt ihn neu als Theoretiker des Pluralismus, der die Kompromisse als wesentliches Element der Demokratie hervorhebt. 1928 habe er sich mit seinem Buch „Demokratie und Parlamentarismus“ gegen die aufkommenden autoritären Staatsvorstellungen gestellt.

 

Willibald Apelt war an den juristischen Vorarbeiten zur Weimarer Reichsverfassung beteiligt gewesen, der er anschließend eine eingehende Darstellung gewidmet hat. Durch sie ist er auch noch heute in der Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft gegenwärtig. Überholt sind inzwischen seine Studien zum Verwaltungsrecht, dem er einen Teil seines wissenschaftlichen Lebens widmete. Wie nicht wenige seiner Generation war er als Universitätslehrer wie Beamter tätig und von 1927 bis 1929 schickte ihn die linksliberale DDP sogar als Innenminister ins sächsische Kabinett. Dian Schefold legt in seiner Studie ein Schwergewicht auf Apels Bemühen, das Föderalismusproblem der Weimarer Republik zu lösen. Wie alle anderen hat auch er sich daran vergeblich versucht. Nach dem Kriege ist der über 70-jährige nicht mehr hervorgetreten. Ganz anders als Hans Nawiasky, der ebenfalls stark vom Verwaltungsrecht herkam, aber noch in der Weimarer Republik als juristischer Interessenvertreter Bayerns tiefer in den Föderalismus eindrang. Wie Kathrin Groh nachweist, konnte er diese, im Schweizer Exil vertiefte Erfahrung dann bei der Beratung des Grundgesetzes einbringen.

 

An Carl Schmitt faszinieren immer wieder die widersprüchlichen Aspekte seiner Persönlichkeit. Nicht frei von Opportunismus hat er, gerade weil er oft von politischen Tagesfragen und schillernden politischen Positionen ausging, die Staatsrechtslehre seiner Zeit bereichert und es so zu einer weit über das Fach hinausreichenden Popularität gebracht In der Weimarer Republik entfaltete er seinen größten Einfluss während seiner Bonner und Berliner Jahre. Aus dieser Epoche, nämlich aus dem Jahre 1928, stammt Schmitts „Verfassungslehre“, an der Hans-Christoph Kraus dessen spezifisches Verfassungsverständnis herausarbeitet. Er habe in der Verfassung eine politische, für die Existenz eines Staatsvolks fundamentale Entscheidung gesehen. Die Verfassung der Weimarer Republik habe er als ein Werk interpretiert, das auf westlichen Grundprinzipien beruhe, doch von zweifelhaften Formelkompromissen durchsetzt sei.

 

Zwei Staatsrechtler repräsentieren in diesem Buch die Verfassungslehre nach dem Zweiten Weltkrieg, für die sie aber nicht gerade typisch sind. Zum einen der durch seine, auch persönlich enge Bindung an Max Weber lebenslang geprägte Karl Loewenstein, der sich während des amerikanischen Exils zur Politikwissenschaft öffnete. Auf dieser Grundlage vertrat er nach seiner Rückkehr den verfassungspolitischen Realismus. Er geht von dem Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsnorm und empirisch festgestellter Verfassungswirklichkeit aus. Die Rechtsnormen sind weniger autonom als vielmehr Produkt des politischen Prozesses. Da er die gesellschaftliche Auseinandersetzung wie auch den politischen Streit viel stärker in seine Verfassungslehre miteinbezieht, rückt konsequenterweise die Macht als der Antrieb allen politischen Geschehens ins Zentrum und wird der Parlamentarismus als Gewaltenausgleich zwischen Regierung und Regierten verstanden. Der sich selbst als „Staatssoziologe“ bezeichnende Autor einer Verfassungslehre bricht mit der in Deutschland wirkmächtigen Tradition Hegels, die im Staat eine organische Einheit sieht, die unabhängig von den jeweiligen politischen und historischen Verflechtungen ihren Eigenwert hat.

 

Robert van Ooyen unterstreicht, dass Loewenstein dabei an Hans Kelsen anknüpfen konnte, der bereits eine Generation zuvor die Staatsüberhöhung hinterfragt hatte, um so zur pluralistischen Wirklichkeit demokratischer Interessenpolitik und Machtpolitik seiner Zeit vorzustoßen. Der demokratische Staat sei schon für ihn viel weniger Rechtsordnung als eine Ordnung zur Bändigung der Interessenkonflikte der pluralistischen Gesellschaft gewesen. Beide weisen also bereits auf das zeitgenössische Verständnis der Politik hin, das in Anknüpfung an Jürgen Habermas unter Verzicht auf Werte die Legitimität des politischen Verbandes durch dessen regulierende und friedenstiftende Funktion begründen will.

 

Auch Wolfgang Abendroth war von Hans Kelsen geprägt. Er verstand sich sogar als dessen Nachlassverwalter in der Bundesrepublik. Durch sozialistische und kommunistische Gruppen in seiner Jugend geformt, bekannte er sich zum Marxismus, war allerdings kein Dogmatiker. Aufgrund seiner dezidiert sozialistischen Positionen war er ein Außenseiter im Kreis der Staatsrechtslehrer, doch eine Galionsfigur der Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre. Opfer des nationalsozialistischen Regimes wurde er 1950 auf einen der ersten Lehrstühle für wissenschaftliche Politik in Deutschland an der Universität Marburg berufen. In der Frühzeit der Bundesrepublik habe er, wie Peter Steinbach verständnisvoll nachzeichnet, gegen die in der Staatsrechtslehre vorherrschende Verengung des Begriffs vom bürgerlichen Rechtsstaat gekämpft, da er darin nur den Versuch sah, diesen gegen demokratische und soziale Weiterungen zu immunisieren. Davon ausgehend wurde für Abendroth der Einsatz für eine extensive Auslegung des Sozialstaatspostulats des Grundgesetzes in Wissenschaft und der politischen Praxis zentral. Er war dabei geleitet von einer bestimmten Sicht auf das Grundgesetz: Dieses habe zwar die kapitalistischen Machtverhältnisse und Eigentumsverhältnisse als Grundlage, doch biete es die Chance, diese über Wahlen hin auf einen Sozialstaat zu überführen.

 

Es ist wenig überraschend, dass die vorgestellten Verfassungsdenker bis auf den Historiker über eine juristische Ausbildung verfügten und angesichts der damaligen Studienbedingungen fast alle dem bürgerlichen Milieu entstammen. Der hohe Anteil jüdischer Gelehrter ist darauf zurückzuführen, dass Österreicher einem breiten Raum einnehmen. Dennoch sind sie auch dort in einem erstaunlichen Maß überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten. Eine katholische Prägung des Werkes ist bei Carl Schmidt und Julius Merkl erkennbar, hingegen findet sich überraschenderweise mit dem allerdings nicht eigens behandelten Rudolf Smend, der Sohn eines Theologieprofessors gewesen ist, nur ein bekennender Protestant.  Die Konfession aller anderen Protestanten hat deren Werk nicht beeinflusst. Vier der vorgestellten Gelehrten haben in größerem Umfange praktische Erfahrung in der Verwaltung, meist in Ministerien, gesammelt. Einer hat es sogar bis zum Minister gebracht. Soweit sich diese Gelehrten aktiv politisch betätigten und sich auch zu ihrem parteipolitischen Engagement bekannten, überwiegt ganz eindeutig die sozialliberale Orientierung.

 

Fast alle haben sich intensiv mit dem Parlamentarismus auseinandergesetzt; ihn aufgrund unterschiedlicher Lebenserfahrungen und wissenschaftlicher Herkunft aber erstaunlich verschieden bewertet und interpretiert. Ebenfalls setzen sich alle mit der pluralistischen Gesellschaft auseinander, die sich in Parteien und Interessenorganisationen ihre Institutionen geschaffen hat und für die der Interessenantagonismus und der Kampf um die materiellen Ressourcen der Volkswirtschaft kennzeichnend wurde. Alle hier Vertretenen waren interdisziplinäre Denker und hatten einen internationalen Blickwinkel, der bei einigen durch die freiwillig gewählte akademische Karriere, doch bei nicht wenigen durch die erzwungene Emigration verstärkt wurde.

 

Trotz solch erkennbarer Gemeinsamkeiten wird zu wenig herausgestellt, worin der innere Zusammenhang der behandelten Autoren besteht. Insofern bewältigt der Sammelband sein Thema eher additiv. Doch das mindert nicht die Nützlichkeit der einzelnen Beiträge, die durchgehend anregend sind und deren Autoren für wissenschaftliche Qualität bürgen.

 

Eichstätt / Römerberg                                                            Karsten Ruppert