Price, Simon/Thonemann, Peter, Die Geburt des klassischen Europa

. Eine Geschichte der Antike von Troja bis Augustinus, aus dem Englischen von Hartz, Cornelius. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2018. 448 S., 31 Abb., 34 Kart., 31 Taf. Besprochen von Werner Augustinovic.

Price, Simon/Thonemann, Peter, Die Geburt des klassischen Europa. Eine Geschichte der Antike von Troja bis Augustinus, aus dem Englischen von Hartz, Cornelius. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2018. 448 S., 31 Abb., 34 Kart., 31 Taf. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die antike Welt der Griechen und Römer bildet den Kern humanistischer Bildung, und dementsprechend Legion ist die Zahl der Monographien, die ihre Geschichte thematisieren und aus denen Theodor Mommsens berühmte mehrbändige, 1902 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete „Römische Geschichte“ (1854 – 1885) herausragt. Es ist also ein mutiges Unterfangen, den Zeitraum von der ägäischen Bronzezeit im 2. vorchristlichen Jahrtausend bis zu Augustinus im 5. nachchristlichen Jahrhundert auf nur 400 Druckseiten zu durchmessen. Da bleibt kein Platz für das detailreiche Ausbreiten von Ereignisgeschichte, und somit muss an solides Vorwissen angeknüpft werden, das der Leser idealer Weise mitbringt und einbringt. Das vorliegende Werk ist 2010 unter dem Originaltitel „The Birth of Classical Europe. A History from Troy to Augustine“ in London erschienen, schon im Folgejahr verstarb mit dem Oxforder Althistoriker Simon Price der ältere und prominentere der beiden Verfasser, der sich, wie mittlerweile auch sein junger Kollege und Ko-Autor Peter Thonemann, um die Erforschung der Geschichte Kleinasiens und des Hellenismus besonders verdient gemacht hat.

 

Die Darstellung folgt zwar dem traditionellen chronologischen Ordnungsmuster, nimmt dabei aber schwerpunktmäßig drei Komplexe genauer unter die Lupe: die antike Erinnerungskultur, also die Frage, wie die Völker jener Zeit mit ihrer Vergangenheit umgingen, denn „dass sich die Griechen Gedanken über ihre Vergangenheit machten, war von zentraler Bedeutung für die Art und Weise, wie sie sich selbst definierten (ganz gleich, ob der Schluss, zu dem sie dabei kamen, faktisch richtig war oder nicht)“ (S. 11); sodann die Frage, inwiefern, wodurch und wie sich gemeinsame Identitäten konstituierten; und schließlich zu guter Letzt, wie sich damals im Lauf der Zeit das Bewusstsein von den Grenzen der „zivilisierten“ Welt und die Vorstellung davon, was „Europa“ sei, verändert hat. Die meisten Überschriften der insgesamt neun behandelten Kapitel betonen zudem die Bedeutung der räumlichen Komponente: Auf „Die Ägäis: Minoer, Mykener und Troer (ca. 1750-1100 v. Chr.)“ folgen „Mittelmeer, Levante, Mittel- und Westeuropa in der frühen Eisenzeit (1100-800 v. Chr.)“, sodann „Griechen, Phönizier und das westliche Mittelmeer (800-480 v. Chr.)“, „Griechenland, Europa und Asien (480-334 v. Chr.)“, „Alexander der Große und die hellenistische Welt (334-146 v. Chr.)“, „Rom, Karthago und der Westen (500-146 v. Chr.)“, „Rom, Italien und das Römische Reich (146 v. Chr. – 14 n. Chr.)“, „Die Kaiserzeit (14-284 n. Chr.)“ und schließlich „Die Spätantike (284-425 n. Chr.)“. Die implizite Botschaft: Nur die Berücksichtigung der großen Räume, die stete Beachtung der überregionalen Kontakte und Austauschbeziehungen gewährleistet eine angemessene Einschätzung der Relevanz regionaler Phänomene.

 

Letzteres gelte bereits für die Palastzeit, denn „die Paläste auf Kreta waren größer als die auf dem griechischen Festland, doch […] wesentlich kleiner als die Paläste, die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. im Nahen Osten entstanden. […] Im Gegensatz zu den Staaten im Nahen Osten verfügten sie weder über schriftlich ausformulierte Gesetzestexte, noch verwendeten sie ihre Schrift für so unterschiedliche und komplexe Kontexte, wie dies im alten Orient der Fall war“ (S. 35f.). Sowohl Kreta als auch das griechische Festland „unterhielten während der gesamten Epoche […] wichtige diplomatische und anderweitige Beziehungen zu den Staaten im Nahen Osten“ (S. 45). Nach dem Niedergang der minoischen und mykenischen Palastkulturen (um 1350 bzw. 1200 v. Chr.) sei schon während der folgenden „Dunklen Jahrhunderte“ die Wiederherstellung der alten Auslandskontakte – vor allem von Euböa aus – entscheidend dafür verantwortlich gewesen, „dass Griechenland wieder zu alter Größe zurückfand“ (S. 76). In der Folge verlief nach dem Urteil der Verfasser um 800 v. Chr. „die Trennlinie weniger zwischen Ost und West als vielmehr zwischen den Ländern nördlich und jenen südlich der Alpen. […] Dies war der Moment, in dem die Mittelmeeranrainer das Europa nördlich der Alpen hinter sich ließen“ (S. 93f.). Im Lauf des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr., als sich die als Poleis bezeichneten „Bürgerstaaten“ etablierten, habe zugleich „in der griechischen Kultur und Gesellschaft eine ‚orientalisierende Revolution‘ stattgefunden“ (S. 105f.), habe sich beispielsweise das griechische Alphabet aus dem phönizischen herausgebildet. Die Verfasser sehen in der „Zeit zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. […] zweifellos eine entscheidende Phase in der Entwicklung Europas“, es „entstand ein Wirtschaftsraum, der sich von Tyros bis Gadir und von Massilia bis Euböa erstreckte. […] Um 500 v. Chr. bildete die mediterrane Welt zum allerersten Mal eine echte kulturelle Einheit“ (S. 122). Im Kontext der Perserkriege und in Reminiszenz an den Mythos vom Trojanischen Krieg verinnerlichten die Griechen dann „die Vorstellung, die Welt bestehe aus zwei entgegengesetzten Hälften. […] Europa und Asien […]. Bald legten sich die Griechen für alle jene Menschen, die das Pech hatten, in der asiatischen Hälfte der Welt zu leben, einen einheitlichen Begriff zu: bárbaroi, ‚Barbaren‘“ (S. 142f.). Mit dem Aufstieg Makedoniens „war ein Europäer zum ersten Mal mehr als nur ein Grieche. Aufgrund ihrer Bestrebungen, die Kulturkreise der Griechen und der Makedonen miteinander zu verbinden, können wir Philipp und Alexander mit Fug und Recht als die ersten bewusst europäischen Herrscher bezeichnen“ (S. 176).

 

Nicht nur im Prozess der Vernetzung der Räume sei dem Mythos eine zentrale Rolle bei der Definition und Etablierung von Identitäten zugefallen. Im antiken Denken hätten wie selbstverständlich „Mythos und Geschichte […] ein Kontinuum“ gebildet, indem etwa in einer relativen Chronologie „der Trojanische Krieg als Fixpunkt (diente), an dem man andere Ereignisse festmachen konnte“ (S. 167f.). Im Umgang mit den Mythen seien oft (macht)pragmatische Erwägungen handlungsleitend gewesen: „Homer für nationalistische Zwecke zu instrumentalisieren, war für die Bürgerstaaten, die auf dem griechischen Festland entstanden waren, ein wichtiges Werkzeug, um sich eine gemeinsame Basis in Form einer gemeinsamen Vergangenheit zu schaffen“ (S. 129). Ebenso entwickelten die Athener zu Zeiten des Attischen Seebundes einen auf Mythen gestützten „raffinierten ideologischen Überbau, mit dem sie ihre Dominanz über weite Teile der griechischen Welt rechtfertigten“ (S. 147). Auch die Gründungssagen Roms, die Erzählungen um Aeneas und Romulus, dürfe man „nicht einfach als Mythen abtun“, da sie zu verschiedenen politischen Zwecken „in der Römischen Republik immer wieder aufs Neue erzählt“ worden seien (S. 215). Beispielsweise sei die Behauptung, von Vorfahren aus Troja abzustammen, im Kampf um Macht und Einfluss in Rom „im 1. Jahrhundert v. Chr. […] besonders wichtig“ geworden, wie nicht nur am Fall Julius Caesars gezeigt werden könne: „Es behaupteten damals so viele Menschen, von Troern abzustammen, dass sich zwei Gelehrte unabhängig voneinander die Mühe machten, ein ganzes Buch mit dem Titel Über die troischen Familien zu verfassen“ (S. 278f.). Den eng mit Rom verbündeten, aber noch recht jungen kleinasiatischen Städten Eumeneia und Aphrodisias wurde im ersten Fall über eine falsche, recht banale Etymologie und im zweiten Fall folgendermaßen zu einer glanzvollen fiktiven Vergangenheit verholfen: Man schmückte „eine neue römische Basilika in Aphrodisias mit Reliefskulpturen […] des griechischen Helden Bellerophon mit seinem geflügelten Pferd Pegasus […]. Damit war die Stadt älter als der Trojanische Krieg, und diese ‚Entdeckung‘ reichte den römischen Kaisern als Vorwand, um Aphrodisias seinen Nachbarstädten gegenüber zu begünstigen“ (S. 346). Auf vergleichbare Art hat später die phrygische Stadt Apameia, ein wichtiger römischer Handelsposten mit dem volkstümlichen Beinamen „Kibotos“ (Bedeutung: „die Truhe“, aber auch: „die Arche“), eine uralte biblische Vergangenheit konstruiert; die dort geprägten Noah-Münzen seien „ganz offensichtlich das Ergebnis eines ebenso subtilen wie effektiven Vorgangs, bei dem die Christen von Apameia ihre ‚heidnischen‘ Mitbürger davon überzeugt hatten, welche Vorteile die Stadt aus einer Verbindung zur Arche Noah ziehen würde“ (S. 366).

 

Über diese beiden inhaltlichen Schwerpunkte der überregionalen Vernetzungen und der Instrumentalisierung des Mythos hinaus hat das vorliegende Werk eine Reihe weiterer erwähnenswerter Vorzüge zu bieten. Offene Forschungsfragen wie die noch unklaren Gründe für den Untergang der Palastkulturen auf Kreta und dem griechischen Festland (vgl. S. 53ff.) oder der tatsächliche Ablauf der mutmaßlichen Einwanderung der griechischen Stämme (vgl. S. 80) werden diskutiert, häufig wird auf archäologische Befunde rekurriert. Dabei werden vor allem auch jüngere Grabungen berücksichtigt – etwa jene in Troja 1998/1999 oder in Lefkandi auf Euböa 2006-2008 – und die Leistungsfähigkeit und Grenzen archäologischer Nachweise an mehreren markanten Beispielen aufgezeigt. Demnach könne uns „die Archäologie ein klares Bild langfristiger kultureller Prozesse vermitteln; sie eignet sich weniger dazu, den Ablauf bestimmter Ereignisse zu beleuchten“ (S. 67). Die Konsistenz des laufenden Textes wird durch Seitenverweise auf eine bereits erfolgte oder noch folgende Erwähnung eines gerade präsentierten Inhalts gefestigt, ebenso verhält es sich mit der textuellen Einbindung des Abbildungsmaterials, Kartenmaterials und Tafelmaterials, wobei es sich bei den Tafeln um insgesamt 36 auf Hochglanzpapier gedruckte und in zwei Blöcken zusammengestellte Schwarzweißfotografien (Statuen, bildliche Darstellungen, Kunst- und Gebrauchsgegenstände, archäologische Stätten und Funde, Bauwerke, Münzen) handelt. Grau unterlegte Textminiaturen mit einem durchschnittlichen Umfang von ein bis eineinhalb Druckseiten unterbrechen und bereichern die laufende Erzählung um ungewöhnliche, bunte, bisweilen skurrile Aspekte: Martin Bernals „Black Athena“ (3 Bände, 1987 – 2006) wird angesprochen, ein Werk, das zwei provokante Thesen vertritt: „(E)rstens, dass die griechische Kultur ihren Ursprung in Afrika, insbesondere in Ägypten habe, und zweitens, dass diese Tatsache seit dem 18. Jahrhundert im Westen von eurozentristischen oder schlicht rassistischen Forschern systematisch und absichtlich verheimlicht werde“ (S. 110); an anderer Stelle wird bewusst gemacht, dass Latein heute „gewissermaßen die Muttersprache von etwa 700 Millionen Menschen“ sei, die gleichsam „einen lokalen Dialekt der lateinischen Sprache (sprechen), dem sie irgendwann einen eigenen Namen gegeben haben (‚Italiano‘, ‚Español‘, ‚Français‘, ‚Português‘, ‚Occitan‘)“ (S. 336); 1993 sei eine wohl einst im Athener Töpferviertel Kerameikos produzierte, als „etruskisch“ deklarierte antike Vase um über zwei Millionen Pfund versteigert worden, obwohl zeitgenössisch „die höchste belegte Kaufsumme für eine bemalte Vase aus Athen 3 Drachmen (betrug) – weniger als die Hälfte dessen, was zur selben Zeit eine gebrauchte Leiter kostete (8 Drachmen)“ (S. 121).

 

Die Verfasser des unkonventionellen und informativen Werks, das mit Hausverstand ebenso viele Fragen beantwortet, wie es neue aufwirft, haben auf ein klassisches Literaturverzeichnis verzichtet und warten stattdessen mit kommentierten Literaturhinweisen zu den jeweiligen Kapiteln auf, „relevante Publikationen in englischer und deutscher Sprache, darunter auch ein paar historische Romane, von denen wir hoffen, dass sie die Leser interessieren und mitreißen“ und „auch ein paar Übersetzungen wichtiger antiker Texte […], dazu Online-Ressourcen und denkwürdige Orte, die einen Besuch wert sind“ (S. 410). Acht Seiten Zeittafel (S. 421ff.) erfassen den gesamten behandelten Zeitraum im chronologischen Überblick, wobei die konsequente Parallelführung der Entwicklungen im Westen, in der Ägäis und im Nahen Osten durchgehend die Wahrnehmung möglicher Interaktionen zwischen den verschiedenen Großräumen und Kulturen erlaubt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic