Wissenschaftliche Lexikographie

im deutschsprachigen Raum, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Städtler, Thomas. Winter, Heidelberg 2003. XII, 548 S. Besprochen von Gerhard Köbler. ZRG GA 121 (2004)

Wissenschaftliche Lexikographie im deutschsprachigen Raum, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Städtler, Thomas. Winter, Heidelberg 2003. XII, 548 S.

 

Im Oktober 2001 trafen sich in Heidelberg die Mitarbeiter des Goethewörterbuchs, um methodische und praktische Fragen der Lexikographie und Schritte zur Beschleunigung zu besprechen. Im lockeren Gespräch wurde der Plan eines gemeinsamen Treffens aller wissenschaftlich arbeitenden Wörterbuchredaktionen geboren und geleitet von Frankwalt Möhren, Michael Niedermeier und Heino Speer im Oktober 2002 in Berlin von Vertretern von 53 lexikographischen Großprojekten eine Tagung über Geschichte, Quellen, Technik und Inhalt abgehalten, bei der sich die Definition als wesentlicher Kern erwies. Der zur Vorbereitung geschaffene, mit Hilfe eines Orientierungsmodells von 24 Punkten gewonnene Reader mit Selbstdarstellungen wird nun in überarbeiteter Form als Vademecum der Lexikographie im deutschsprachigen Raum vorgelegt, an Hand dessen Verbindungen zwischen den Projekten hergestellt und die Werte der geleisteten Arbeiten unter den Scheffeln hervorgeholt und ins rechte Licht gestellt werden können.

 

Vorangehen vier allgemeine Referate. Hans-Martin Gauger handelt in tief schürfender Auseinandersetzung mit Harald Weinrich über Wörterbücher, Barbara Zehnpfennig vom Nutzen der Wissenschaft im allgemeinen in der demokratischen Gesellschaft, in welcher der Steuerzahler wissen möchte, wo sein Geld bleibt, Michael Stolleis über den Sinn von (derzeit etwa 170) Langzeitvorhaben in den Geisteswissenschaft mit rund 600 etwa 37 Millionen Euro jährlich benötigenden Mitarbeitern (davon 500 Wissenschaftler). Frankwalt Möhren zieht Bilanz und zeigt Perspektiven auf.

 

Die Einzelprojekte betreffen das altägyptische Wörterbuch (seit 1994, seit Mai 2002 digitalisiertes Zettelarchiv im Internet), das Sanskrit Wörterbuch der buddhistischen Texte aus den Turfan-Funden (seit 1953/1968, Veröffentlichung seit 1994, zur Hälfte abgeschlossen), das Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden aus Ägypten (bisher etwa 50000 Texte publiziert, angeregt durch Otto Gradenwitz, Abschluss für 2008 vorgesehen), das Lexikon des frühgriechischen Epos (erste Lieferung 1955, Umfang der erhaltenen griechischen Texte bis 650 n. Chr. etwa 10 mal größer als der Umfang der im Thesaurus linguae Latinae erfassten lateinischen Literatur), den Thesaurus linguae Latinae (erscheint seit 1900, bis 2002 154 Faszikel bis P veröffentlicht, Zettelarchiv von 10 Millionen Zetteln, Abschluss für 2050 vorgesehen, 2002 CD-ROM Edition), das mittellateinische Wörterbuch (Abbildung der gesamten mittelalterlichen lateinischen Sprachwirklichkeit des deutschsprachigen Raums bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, rund 3600 Texte, 1,5 Millionen Zettel, Veröffentlichung 1967ff., 2001 digressus), das Lessico Etimologico Italiano (9. Jahrhundert-Gegenwart, 10000 Quellen, 1968 Beginn der Materialsammlung, 2002 bis Ende B 8 Bände veröffentlicht), das Deonomasticon Italicum (1987 Konzeption, 1997 Abano Terme, 2002 Abschluss von Band 1 Exeter), das etymologische Wörterbuch des Dolomitenladinischen (1988 erster Band veröffentlicht, 1998 mit achtem Band abgeschlossen, Kosten 1-2 Millionen DM), das Diccionario del Español Medieval (10. Jahrhundert bzw. Glosas Emilianenses von etwa 950-etwa 1400, 1 Million Zettel, Förderung seit 1971, Veröffentlichungsbeginn 1987, Buchstabe A und damit etwa ein Viertel des Werkes soll 2004 abgeschlossen werden), die Diccionarios del español americano (Bericht nur im Internet einsehbar), das Dictionnaire de l’Occitan Médiéval (bis 1550, Veröffentlichung seit 1996, 2001 afermat), das Dictionnaire onomasiologique de l’Ancien Gascon/Ocitan (1 Million Belege, Plan 1955, Veröffentlichung seit 1975), das Dictionnaire étymologique de l’ancien français (842 bis Mitte 14. Jahrhundert, 1,5 Millionen Zettel, 12 Millionen Belege, Tausende altfranzösischer Texte noch nicht gesichtet, Förderung seit 1977), das Dictionnaire Etymologique et Cognitif des Langues Romanes (Körperteilbezeichnungen in 14 romanischen Sprachen, 1994 Konzept, 1996 Beginn), das etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen (umfangreichstes Vokabular der altgermanischen Sprachen, 750-1150, Stichwörter nach dem ostfränkischen Dialekt des 9. Jahrhunderts angesetzt, Förderung in Amerika seit 1978, in Deutschland seit 1996), das althochdeutsche Wörterbuch (7./8. Jahrhundert-11./12. Jahrhundert, einschließlich kleiner altsächsischer Denkmäler, 700000 Belege, 31000 zu erwartende Stichwortansätze, davon zwei Drittel nur in Glossen, veröffentlich seit 1952, vier Bände bis K), das mittelhochdeutsche Wörterbuch 1050-1350, Konzept seit 1988, Arbeitsbeginn 1994, vier Bände in 25-30 Jahren geplant), das frühneuhochdeutsche Wörterbuch (1350-1650, mit möglichst geringer Textmasse maximale Ausbeute angestrebt, Förderung seit 1990, 400 Abonnenten, bis zu 800 verkaufte Exemplare, 4 Bände erschienen, Abschluss mit Band 13 2015 geplant), das deutsche Wörterbuch (1450-Gegenwart, Neubearbeitung veralteter Teilstrecken des 1838 begonnenen 32-bändigen deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm mit seinen 350000 Stichwörtern in 70000 Druckspalten, Projekt 1957, Veröffentlichungsbeginn seit 1965, 18000 Quellen, 25000 Titel und Verweise, 4000 Quellen umfassend exzerpiert, 4 Millionen Zettel, 2002 aufpfeifen, geplant 5 Bände a-c, 4 Bände d-f), das große Wörterbuch der deutschen Sprache (allgemeinsprachliches Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 200000 Stichwörter, jetzt strengalphabetisch, 3,5 Millionen Textbelege, 20 Redakteure und zahlreiche freie Mitarbeiter, erste Auflage 6 Bände 1976ff., zweite Auflage 8 Bände 1993ff., dritte Auflage 10 Bände 1999 CD-ROM), das deutsche Fremdwörterbuch (Anregung Friedrich Kluges, etwa 1450 bis Gegenwart, Band 1 1913, Band 2 1943, Band 3-6 1977-1988, Neubearbeitung veralteter Teilstrecken A-K und L-Q, 2 Millionen Belegzettel,10000 gedruckte Quellen zwischen 1200 und 1980/1990, zusätzlich derzeit 1736 Millionen maschinenlesbare Textwörter, Veröffentlichung seit 1995, 2003 Band 5 Eau de Cologne-Futurismus), das Polybios-Lexikon (200-120 v. Chr., 1956ff. bis omikron, 1998 bis poiéo, 2002 rhábdos-tókos), das Luther-Register (zur 1883 begonnenen, inzwischen abgeschlossenen kritischen Gesamtausgabe, Ortsregister 1986, Personenregister 1987, lateinisches Sachregister 5 Bände bis 1999, deutsches Sachregister 5 Bände Abschluss 2009 geplant), das Goethe-Wörterbuch (ca. 90000 Stichwörter aus 160 Bänden Goethe, Projekt 1945, erste Lieferung 1966, heranschweben 2002, Ende mit Zypressenzweig 2029 geplant), das Wörterbuch der Fackel (1899-1936 Die Fackel, 22586 Seiten, 6 Millionen Wörter, Projektgründung 1991, 1999 phraseologisches Wörterbuch), das mittelelbische Wörterbuch (zweifacher Stichwortansatz niederdeutsch und mitteldeutsch, vor allem erste Hälfte 20. Jahrhundert, 250000 Zettel, Projektgründung 1935 Karl Bischoff, 2002 H-O, A-G bis Anfang 2009 geplant), das pommersche Wörterbuch (Planung 1925, 1,2 Millionen Belegzettel, zwei Bände geplant, soll die letzte große lexikographische Lücke im Geltungsbereich niederdeutscher Mundarten schließen, Veröffentlichung seit 1997, 2002 drösen), das badische Wörterbuch (1914 begründet, 2 Millionen Belege, striktalphabetisch, Veröffentlichung seit 1925, 2003 recht, geplant 5 Bände), das bayerische Wörterbuch (Gründung 1912, Ordnung nach Wurzelstruktur, Grundstock 780000 Einzelzettel, A-Bazi 2002), das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (Gründung 1912, 1962 Absonderung, 1963 Veröffentlichungsbeginn, geplanter Abschluss 2020, 3,6 Millionen Einzelbelege, 10-12 Bände), das Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache (1862 Projekt Friedrich Staub, 13. Jahrhundert-Gegenwart, 1,5 Millionen Zettel, bisher 16 Bände, geplant 17 Bände, Abschluss wahrscheinlich 2018), das siebenbürgisch-sächsische Wörterbuch (13. Jahrhundert-Mitte 19. Jahrhundert, 240 Ortsmundarten, Vorarbeiten im 19. Jahrhundert, 1924-1931 A-F, R-Salarist, 1971-1975 G, H, I, J, K, 1993 L, zwei Millionen Zettel), das altdeutsche Namenbuch (Ortsnamen in Österreich und Südtirol bis 1200, 45000 Belege, 1986 Absonderung), das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache (Corpus der althochdeutschen Originalurkunden bis 1300, mehr als 4000 Urkunden, 3080 Druckseiten in 5 Bänden, vor allem oberdeutsch am Ende des 13. Jahrhunderts, Projektbeginn 1957 Helmut de Boor, Veröffentlichung seit 1986, 2002 swester, drei Bände geplant, Abschluss 2010 geplant, rund 10000 Stichwörter, knapp 10 Prozent neu gegenüber bisherigen mittelhochdeutschen Wörterbüchern), das Lexicum musicum Latinum medii aevi (750-1500, Veröffentlichung seit 1992, 2001 coniungo), das Handwörterbuch zur lateinischen Terminologie der mittelalterlichen Heilkunde (800-1500, Projektbeginn 1998, Förderung 2000 abgeschlossen), das deutsche Rechtswörterbuch (1897/1897 Projektgründung, 5. Jahrhundert-1750 bzw. 1832 bzw. 1800 für einfache Wörter, 1700 für zusammengesetzte Wörter, 2,5 Millionen Belegzettel, bisher zehn Bände –Rechtsbesitzer, kostenlos im Internet einsehbar, soweit retrodigitalisiert), das Wörterbuch der deutschen Winzersprache (ältere dialektal geprägte Terminologie der Winzer vor der Technisierung in Ost-, Mittel-, Südost- und Nordeuropa, aus abgehörtem Tonmaterial, 1998 Vorlaufphase, für 2004 erste CD-ROM-Vorabversion geplant), das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie (griechische Antike-Gegenwart, Veröffentlichung seit 1972, bis 2003 212 Monographien in 6 Ordnerbänden), das Wörterbuch zur Lexikographie und Wörterbuchforschung (auf der Ebene der Umtexte zweisprachig, auf der Ebene der Lemmata elfsprachig, neben Deutsch Afrikaans, Bulgarisch, Dänisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Ungarisch, Lemmakandidatenliste von 4500 Lemmata, Zweibänder geplant, eventuell elektronische Version), das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (lexikographische Datenbank, soll sehr schnell allen Benutzern verfügbar sein und später systematisch ausgebaut werden, www.dwds.de), das Austrian Academy Corpus (erste umfangreiche und komplex strukturierte Sammlung von elektronischen Texten zur Sprache und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in erster Phase des Aufbaus 2001-2005 wenigstens 100 Millionen Running Words, danach Verfünffachung geplant, mit Partnern eine Milliarde Textwörter), das deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet (Retrodigitalisierung nach dem Vorbild des englischen Oxford English Dictionary und des französischen Robert électronique, 67744 Spalten, mehr als 300000000 Zeichen, seit 1998 gefördert, Beta-Version 2003, endgültige Version 2004 geplant), Wissen über Wörter (lexikalisch-lexikologisches, korpusbasiertes Informationssystem zum deutschen Gegenwartswortschatz - 1946 bis heute -, für den Online-Zugang via Internet, zentrale Quellenbasis IDS-Korpora, fortlaufend auf den neuesten Stand gebracht, ohne dabei absolut immer größer zu werden, Projektidee 1997, erste Veröffentlichung 1999), der Heidelberger Hypertext-Server (internetgestütztes Informationssystem zwischen derzeit deutschem Rechtswörterbuch und frühneuhochdeutschem Wörterbuch, Rekontextualisierung der Wörterbuchbelege, Arbeitsbeginn 2001, Demo-Version 2002 www.hdhs.de), Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften (Trier 1998, Dienstleistungsangebot, Verbund mittelhochdeutscher Wörterbücher, Verbund von Dialektwörterbüchern), Fachgebärdenlexika (Hauswirtschaft, 700 Fachbegriffe, 180 Verweise), Berliner Lexikon der Alltagsgesten (Projekt zur Erforschung der Möglichkeiten elektronischer Erkennung von Körpersprache, 150 Gestenfamilien), im Anhang französisches etymologisches Wörterbuch (Französisch, Frankoprovenzalisch, Okzitanisch, sämtliche Ableitungen und Zusammensetzungen unter dem jeweiligen Basiswort, 842-Gegenwart, ausgewertet werden alle erreichbaren schriftlichen Materialien, schrittweise Umstellung der Metasprache vom Deutschen auf das Französische, Lebenswerk Walther von Wartburgs von 1914 bis 1971, seit 1993 vom Centre National de la Recherche Scientifique unterstützt, zwischen 1922 und 2002 25 Bände mit mehr als 16000 Seiten veröffentlicht), das lёtzebuergische Handwierderbuch (luxemburgische Sprache der Gegenwart, zunächst einbändiges Wörterbuch geplant, Luxemburgisch seit 1984 alleinige Nationalsprache des Großherzogtums Luxemburg, Französisch und Deutsch als offizielle Sprachen im administrativen Bereich, Wörterbuch wird im Auftrag des Kulturministeriums erstellt), das Oxford English Dictionary (umfassendes historisches und etymologisches Wörterbuch der englischen Sprache weltweit, erste Ausgabe 1884-1928, 1972-1986 vierbändiges Supplement, 1989 zweite Ausgabe, seit März 2000 revidierte Ausgabe online , m-motrix Dezember 2002, ausgeschlossen vor 1150 ausgestorbene Wörter, sehr große Zettelsammlung, elektronische Corpora, derzeit 54 wissenschaftliche Angestellte, 25 technische Mitarbeiter, von Oxford University Press finanziert, Einträge für Abonnenten online zugänglich www.oed.com), das Wörterbuch des Gegensinns im Deutschen (Wörter, die als Teil ihrer Polysemie gegensätzliche Lesarten aufweisen, Gegenwartssprache, Quellen allgemeinsprachliche Wörterbücher des Deutschen, Beginn um 1990, Peter Rolf Lutzeier, voraussichtlich 1000 Wörter und Phraseologien, Beispiel abdecken, Buchstabe d erreicht).

 

Eindrucksvoll zeigt der übersichtlich angelegte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einleuchtend verbindende, durch Adressen verknüpfende und durch Anregungen fördernde Band eine gelungene Bestandsaufnahme der von großen planenden Rezeptemachern wie kleinen ausführenden Rezepteanwendern vorangetriebenen Lexikographie des deutschsprachigen Raumes der Gegenwart mit sichtbarer Ausrichtung gegen Süden und Westen. Sie ist nötig, weil in der Demokratie kein Geld der Allgemeinheit bekommen soll, wer der Allgemeinheit nicht erklären will oder gar erklären kann, wofür das Geld genutzt wird. Sie sollte gegenüber der Öffentlichkeit trotz allen auch damit verbundenen, der gewünschten Beschleunigung zumindest vorübergehend widerstrebenden Aufwands in regelmäßigen Abständen wiederholt werden und dabei diesmal noch weiße Seiten und Stellen künftig möglichst füllen.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler