Wege in die digitale Gesellschaft.
Einen ersten wichtigen Schritt über seine vorgegebene Natürlichkeit hinaus tat der Mensch wohl mit der an unbekanntem Ort zu unbekannter Zeit erfolgten Entwicklung der Sprache, mit deren Hilfe er leichter einzeln erlebtes Wissen an Mitmenschen vermitteln konnte. Dem folgte an dem Beginn der Hochkulturen des Altertums die Umsetzung der rasch verklingenden Laute der Stimme in die dauerhafteren Zeichen der Schrift. In Mainz um 1450 erfand auf dieser Grundlage Johannes Gensfleich genannt Gutenberg den die Verbreitung des Wissens erleichternden und beschleunigenden Buchdruck mit beweglichen Lettern.
Vierhundert Jahre später gelang die informationelle Verwendung der Eigenschaften der Elektrizität in der Form des Computers, dessen Etablierung nach der Einführung des in Lübeck 1969 geborenen, in Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Hamburg und Göttingen ausgebildeten, bei Bernd Weisbrod 2001 mit einer Dissertation über die CDU unter Konrad Adenauer promovierten, danach in Bochum als Juniorprofessor tätigen, 2007 nach Gießen und 2011 als W3-Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts nach Potsdam berufenen Herausgebers zu den wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen der jüngeren globalen Zeitgeschichte zählt. Bereits seit den 1950er setzten nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika auch in Deutschland Unternehmen und Behörden Computer ein, ehe in den 1980er Jahren die flächendeckende Ausbreitung der Personal Computer gelang, mit deren Hilfe in der Gegenwart jedermann neues Wissen sofort weltweit verbreiten und an weltweit gewonnenem Wissen grundsätzlich zeitgleich teilhaben kann. Da sich gleichwohl die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland bislang wenig mit diesem grundlegenden digitalen Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte und allgemein die Konstellationen, Argumente und sozialen Praktiken, mit denen sich Computer etablierten, bisher zeithistorisch für Deutschland und Europa kaum erforscht wurden, fand 2017 in dem Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam unter dem Herausgeber eine Tagung zu dieser Thematik statt, deren Ergebnisse der vorliegende Band der Allgemeinheit zugänglich macht.
Gegliedert ist der interessante und wichtige, nach der umsichtigen Einführung des Herausgebers zwölf Beiträge umfassende Sammelband in drei Abschnitte über Sicherheit und Kontrolle, digitale Arbeitswelten und alternative Nutzungsformen. Dabei werden nacheinander polizeiliche Zugriffe auf nichtpolizeiliche Datenspeicher in der Bundesrepublik zwischen 1967 und 1980, elektronische Datenverbundsystem in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika in den 1970er und 1980er Jahren, die elektronischen Rechenmaschinen in Verwaltung, Forschung, und Führungssystemen der frühen Bundeswehr, die Beschäftigten in der bundesdeutschen EDV-Branche, die vernetzten Bankenwelten der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik, die Digitalisierung der bundesdeutschen Rentenversicherung zwischen 1957 und 1972, die Digitalisierung in der kommunalen Versorgung an dem Beispiel der Stadtwerke München, die industriellen Arbeitsbeziehungen in den Druckindustrien Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika und Westdeutschlands zwischen 1962 und 1995 sowie als alternative Nutzungsformen Hackerkulturen in Deutschland, gebremste Vernetzung in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er/1980er Jahre, die subkulturelle, piratöse Zirkulation von Heimcomputersoftware zwischen 1986 und 1995 sowie Computerschach und der Wandel der Mensch-Maschinen-Verhältnisse betrachtet. Zwar steht nach den Worten des Herausgebers die Zeitgeschichte der Computerisierung noch am Anfang, gleichwohl wird bereits jetzt ein erster, sehr informativer Überblick über die Chancen und Gefahren der den Menschen weiter entnatürlichenden Technik geboten.
Innsbruck Gerhard Köbler