Arand, Tobias, 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges
Der Deutsch-Französische Krieg vollendete im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf militärischem Weg die nationale Einigung Deutschlands unter preußischer Vorherrschaft und stieß eine komplexe Entwicklung an, aus der zwei Weltkriege erwuchsen, die als zeitnäher mittlerweile in der kollektiven Erinnerung die Ereignisse von 1870/1871 überlagert und verdrängt haben. Die einst im Wilhelminischen Kaiserreich gleichsam als deutscher Nationalfeiertag inszenierten Jahrestage der Schlacht von Sedan und der französischen Kapitulation am 2. September 1870 sind heute im Bewusstsein der breiten deutschen Öffentlichkeit nicht mehr präsent. Auch für die historische Zunft hat jenes Geschehen an Attraktivität eingebüßt, ist doch seit den letzten Gesamtdarstellungen Klaus Wiedes (1970) sowie Franz Herres (1970) anlässlich des Hundertjahrjubiläums dieses Reichsgründungskrieges nahezu ein weiteres halbes Jahrhundert ins Land gezogen.
Es ist daher zu begrüßen, dass der 1967 geborene Tobias Arand, der als promovierter Althistoriker an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Didaktik der Geschichte lehrt und sich in der Vergangenheit in mehreren Publikationen mit der gegenständlichen Thematik befasst hat, nunmehr in einer umfangreichen Darstellung die Bedeutung der Ereignisse von 1870/1871 wieder in den Blick rückt. Die Konzeption, derer er sich dabei bedient, ist durchaus bemerkenswert: „Ein Lesebuch im Wortsinne“ will seine Studie sein und sich „an jeden historisch Interessierten“ wenden. Eine Personalisierung der Ereignisse sei gerade mit diesem Fokus unerlässlich, denn darin liege „der Vorzug, nicht von Abstraktionen, sondern Menschen, die tatsächlich gelebt haben, ihren Sorgen, Freuden, ihrem Alltag für jedermann verständlich schreiben zu können. Und wie soll eine solch fundamentale Erfahrung, wie sie der Krieg darstellt, geschildert werden, wenn nicht über die Erlebnisse, Gefühle und Ansichten der unmittelbar am Krieg beteiligten Menschen?“ (S. 20f.). Insgesamt 40 Zeitzeugen bezieht der Verfasser immer wieder in das Geschehen ein, berichtet über ihr Wirken und lässt sie zu Wort kommen. Sie decken eine große soziale Bandbreite ab, die von weitgehend unbekannten Akteuren bis zu prominentesten Persönlichkeiten wie Kaiser Napoleon III. und Kaiserin Eugénie, König Wilhelm I. von Preußen, Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, Otto von Bismarck, Friedrich Engels, Theodor Fontane, Paul von Hindenburg, Alfred Krupp oder Friedrich Nietzsche reicht, und sind mit Namen und Funktion im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis alphabetisch gelistet (S. 11ff.). Mit William Howard Russell, dem Kriegsreporter der „Times“, und Philip Henry Sheridan, General der US-Streitkräfte, werden auch Beobachterstimmen zitiert, die nicht den Konfliktparteien angehören.
Dennoch wäre es falsch, aus dieser Personalisierung und der entsprechenden Formulierung des Titels zu schließen, dass der Verfasser hier nur eine lose Aneinanderreihung von Anekdoten anbietet. Vielmehr versucht er, ein konsistentes multiperspektivisches Bild des Krieges von 1870/1871 zu entwerfen, das dessen Komplexität auf mehreren Ebenen erfasst und abbildet: auf den Ebenen der politischen und militärischen Führung ebenso wie auf jenen der vielfältigen Akteure, die unter anderem als Soldaten verschiedenen Ranges, Sanitätspersonal, Berichterstatter oder „Schlachtenbummler“ anderer Art in das Zeitgeschehen involviert waren. Der Inhalt des Werkes folgt dabei dem konventionellen chronologischen Muster von der Vorgeschichte über den Weg in den Krieg, der Schilderung des Ablaufs der Kämpfe bis hin zum Kriegsende und zu den Folgen des Krieges. Der Darstellung des Kriegsverlaufs an sich unter dem so bildhaft-realistischen wie grausigen Titel „Ein ‚Sumpf von Blut und Hirn und Eingeweiden‘“ auf über 460 Seiten fällt das eindeutige Schwergewicht zu. Der Verfasser betont dabei besonders die bislang noch zu wenig beachtete Kontinuität zu den beiden Weltkriegen, denn der Krieg von 1870/1871 sei in mancherlei Hinsicht schon die viel zitierte „Urkatastrophe“ gewesen, nämlich „bereits ein Laboratorium der technisch-industrialisierten Moderne und des nationalisierten, durch Massenmedien geschürten Fanatismus, die dann im Ersten und Zweiten Weltkrieg ihre die Menschheit erschütternde ganze Zerstörungskraft entfalten sollten“. Zur Bestätigung zitiert er aus Alistair Hornes Schrift „Es zogen die Preußen wohl über den Rhein“ (1967) die folgende Passage: „Sedan 1870 – Verdun 1916 und Sedan 1940. Die Schlachten in dieser blutgetränkten Ecke Frankreichs hatten viel Gemeinsames – taktisch, strategisch, historisch und psychologisch“ (S. 655f.).
Besonders nützlich für den militärisch weniger bewanderten Leser sind die grundsätzlichen Ausführungen zu Ausrüstung und Bewaffnung der Kontrahenten (S. 132ff.), die viel zum besseren Verständnis der im Folgenden geschilderten Schlachten beitragen. Das gilt auch für die Erläuterung der unterschiedlichen Systeme der Führung, wo der starren französischen Befehlstaktik das überlegene Modell der flexiblen preußischen Auftragstaktik gegenüberstand. Letztere erlaubte dem verantwortlichen Kommandeur in seinem Bereich selbständige Entscheidungen, die bei übermotivierten Offizieren allerdings auch in fragwürdige Unternehmungen mit dem Ergebnis unverhältnismäßig großer Verluste münden konnten. Die verheerenden Folgen solch taktischer Fehleinschätzungen unter den Rahmenbedingungen des modernen Krieges finden in den Zeitzeugendokumenten der leidtragenden Soldaten immer wieder beredten Ausdruck. Es sei „auffällig, wie oft in Erinnerungsbüchern und privaten Briefen über den schockierenden Anblick der Schlachtfelder mit einem Unterton des fassungslosen Staunens berichtet wird“ (S. 276). Die Verluste auf beiden Seiten waren exorbitant hoch; beispielsweise habe es „seit der ‚Völkerschlacht von Leipzig‘ in Europa kein vergleichbares Gemetzel mehr gegeben als die drei Kämpfe rund um die Festung Metz“ (S. 311).
Die Gründung der Dritten Französischen Republik und die deutschen Friedensbedingungen bewirkten nach der Schlacht von Sedan keineswegs das erhoffte Ende des Krieges, sondern initiierten vielmehr „eine frühe Form des Vernichtungskrieges, der den Feind in allen seinen materiellen, physischen und ideellen Grundlagen bekämpfen möchte. Den Deutschen tritt chauvinistisch aufgeladener Hass entgegen, der den Krieg brutalisiert und noch stärker als schon zuvor in kriegsrechtliche Grauzonen führt“ (S. 399). Nicht oder nur unzureichend uniformierte französische Partisanen, sogenannte „Franctireurs“, werden von der bayerischen Reiterei bekämpft, wobei die „Chevaulegers“ „sofort kurzen Prozess mit Freischärlern (machen) und dafür von Bismarck ausdrücklich gelobt (werden). […] Vor allem die schwierige Unterscheidung von tatsächlichen und nur vermeintlichen ‚Franctireurs‘ verursacht auch Hinrichtungen Unschuldiger. […] Sogar deutsche Zeitungen berichten ganz offen von einer Form der Partisanenbekämpfung, die auch schon vor der Kodifizierung des Kriegsrechts in der Haager Landkriegsordnung als problematisch bezeichnet werden muss“ (S. 434f.). Die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles steht noch im Zeichen „dramatische(r) Kämpfe an allen Frontabschnitten“ und der andauernden deutschen Blockade von Paris (S. 559). Erst am 10. Mai beendet der Frankfurter Frieden „einen fast einjährigen Krieg, der 44.000 Deutschen und ca. 140.000 Franzosen das Leben kostete und der insgesamt ungefähr 250.000 zum Teil schwer verwundete Invaliden hinterlässt. Nur wenige Jahrzehnte später werden die Bestimmungen dieses Vertrages, aber auch die ständigen kriegsaffirmativen Erinnerungspraktiken auf beiden Seiten der ehemaligen Kriegsgegner Mitschuld am Ausbruch der nächsten Katastrophe haben“ (S. 603).
Kontinuitäten ortet Tobias Arand nicht nur auf der Ebene des Militärischen. So thematisiert er unter anderem den Antisemitismus, der trotz der Leistungen national gesinnter jüdischer Kriegsteilnehmer – exemplarisch näher vorgestellt werden der Soldat Heinrich Heidemann vom 5. Brandenburgischen Infanterie-Regiment Nr. 48 und Leutnant Siegismund Samuel vom Westfälischen Füsilier-Regiment Nr. 37 – allenthalben anzutreffen war. Paul Bronsart von Schellendorf, der Chef der Operations-Abteilung im Großen Generalstab und später von 1883 bis 1889 preußischer Kriegsminister, kann sich „die nach sechs Monaten Krieg durchaus begründete Friedenssehnsucht in Deutschland nur mit antijüdischen Verschwörungstheorien erklären: […] ‚Die Geschäfte gehen nicht so gut wie im Frieden, und da die Nation […] zu verjüdeln beginnt, kann sie einen selbst außerhalb der Landesgrenzen geführten Krieg von sechs Monaten nicht ertragen. Da verdienen Juden und Judengenossen nicht genug!‘ Dass auch jüdische Deutsche wie Heidemann für das Vaterland ihr Leben gelassen haben oder wie Samuel ihr Leben riskieren, scheint Bronsart von Schellendorf entgangen zu sein“ (S. 583f.). Interessant anzumerken wäre hier, dass Bronsart von Schellendorfs Sohn Friedrich später während des Ersten Weltkrieges als Offizier in der Türkei am genozidalen Deportationskonzept gegen die Armenier, denen er, ebenso wie den Juden, außerhalb ihrer Heimat eine parasitäre Lebensweise unterstellte, maßgeblich mitwirkt. Als 1872 der Ludwigsburger Sanitätsverein ein Denkmal für die im dortigen Lazarett verstorbenen deutschen Soldaten errichtet, fehlt darauf der Name Heinrich Heidemanns. „Vielleicht“, so mutmaßt der Verfasser, „sollte der deutsche Jude Heidemann in der Wahrnehmung des Sanitätsvereins nicht Teil der nationalen Leidensgemeinschaft sein“ (S. 622). An anderer Stelle wird er noch deutlicher, wenn er zusammenfassend feststellt: „Auch in dieser Hinsicht ist der Krieg von 1870/71 schon ein Vorbote kommender Tragödien. Im Jahre 1870 ist der eliminatorische Antisemitismus noch nicht erfunden worden, und kein Deutscher im Hauptquartier würde einem Mitbürger körperliches Leid antun, nur weil er jüdischen Glaubens ist. Doch bereits jetzt geht eine Verrohung der Sitten im Krieg mit einem Überlegenheitsbewusstsein der militärischen und feudalen Eliten sowie einem im Adel geradezu selbstverständlichen Antijudaismus eine ungute Mischung ein, die schon im Kaiserreich den mentalen Grundstock für den Holocaust legen wird“ (S. 412f.).
Wer die Folgen der „‘blutigen‘ Reichsgründung“, die im Übrigen ein Werk der Fürsten und nicht eines des Volkes gewesen sei, richtig einschätzen wolle, komme auf „klar benennbare Problemfelder, die auch jene vom Einigungs- und Siegestrubel nicht korrumpierten Mahner und Zeitgenossen als kritisch für das Gelingen des neuen Staates betrachteten“ (S. 646). Dazu gehörten die im Krieg erlebten, kollektiv wirksamen Grenzerfahrungen und Traumata, deren transgenerationelle Weitergabe von maßgeblichen Stimmen in der Psychologie angenommen wird, ebenso wie zahllose durch Tod und Invalidität nachhaltig beeinträchtigte Einzelschicksale und Familienschicksale. Dem stand die hohle Phraseologie der offiziellen Erinnerungskultur diametral gegenüber: „Bei Bier, Gesang und fetten Speisen wurden Kriegserinnerungen gepflegt, die eine, wie Nietzsche es 1878 formulierte, ‚Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen‘ als Vorbild propagierten“ (S. 649). Die Anerkennung von Gewalt und Aggression als Mittel des Erfolges hätte im deutschen Kaiserreich Überheblichkeit und politische Fehleinschätzungen nach sich gezogen, und ebenso wie dort habe auch in Frankreich die Präsenz des Militärischen in der Gesellschaft ein unangemessenes Ausmaß erreicht. Der Verfasser spricht darüber hinaus von der „systemerhaltende(n) Allianz von protestantischer Kirche, Monarchie und Militär“, die „Staatsräson“ gewesen sei, in einem Reich, das die „kriegsbedingt gehetzten Verhandlungen zur Reichsverfassung“ mit einem „erhebliche(n) Demokratiedefizit“ (vorrangig die fehlende parlamentarische Kontrolle des Kanzlers und der Ministerien) zurückgelassen hätten (S. 651f.). Die Annexion und unkluge obrigkeitliche Verwaltung Elsass-Lothringens habe nicht nur die Minderheitenproblematik verschärft, sondern vor allem den französischen Revanchismus genährt und die chauvinistische „Erbfeindschaft“ auf beiden Seiten unselig vertieft. In ihrer Gesamtheit stellen diese Beobachtungen eine Auswahl aus der umfangreichen Mängelliste dar, welche die historische Forschung mit Blick auf Bismarcks Reichsgründung und die verhängnisvollen Fehlentwicklungen im Hohenzollernstaat über Jahrzehnte erstellt hat.
Die zweckmäßige Schwarzweiß-Illustration des Bandes setzt mit Anton von Werners berühmtem Gemälde der Kaiserproklamation ein (S. 14, Abb. 1) und schließt symbolträchtig mit der fotografischen Aufnahme einer apokalyptischen Landschaft in Flandern 1917 (S. 656, Abb. 35). Die Abbildungen zeigen mit Masse die erwähnten Akteure und bedeutsame Momente des Krieges, wobei die Fotografien von Verletzungen (S. 163, Abb. 5), Hingerichteten (S. 602, Abb. 29) oder eines Invaliden (S. 648, Abb. 33) die im Text immer wieder vermittelte archaische Grausamkeit der Kampfhandlungen erahnen lassen. Ein Personenverzeichnis und drei Karten („Deutscher Bund bis 1966“, „Der Kriegsverlauf 1870/71“, „Deutsches Reich 1871“) gewährleisten den Überblick und den differenzierten Zugriff auf den Inhalt. Damit zeichnet Tobias Arands Monographie insgesamt ein in sich schlüssiges, zeitgemäßes, vor allem aber kritisches und lebendiges Bild von Ablauf, Bedeutung und Folgen des letzten der drei Einigungskriege (1864, 1866, 1870/1871) zum deutschen Nationalstaat.
Kapfenberg Werner Augustinovic