Zivilrechtliche Entdecker

. Eine Einführung in die großen Gestalten der Zivilrechtswissenschaft, hg. v. Hoeren, Thomas. Beck, München 2001. V, 442 S. Abb. Besprochen von Andreas Bauer. ZRG GA 121 (2004)

Zivilrechtliche Entdecker. Eine Einführung in die großen Gestalten der Zivilrechtswissenschaft, hg. v. Hoeren, Thomas. Beck, München 2001. V, 442 S. Abb.

 

Der von Thomas Hoeren herausgegebene Sammelband überrascht zunächst durch die Titelwahl. Während andere Fachdiziplinen ihren wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt gerne als „Entdeckung“ und die damit verbundenen Personen als „Entdecker“ feiern, ist diese Bezeichnung auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft bis dato nur sehr vereinzelt anzutreffen. Hoeren hat diesen Terminus nach eigenen Angaben einem Vortrag Hans Dölles aus dem Jahre 1958 entlehnt, wobei Hoeren selbst augenscheinlich die Tauglichkeit der beiden Begriffe „juristischer Entdecker“ und „juristische Entdeckung“ für die Rechtswissenschaft als unangebracht erachtet. Zutreffend weist er in seiner Einführung daraufhin, daß bereits die Wortbedeutung des „Entdeckens“ ein juristisches Universum als einen festgefügten Regelraum mit immanenten Schranken voraussetzen würde; eine Annahme, die spätestens seit von Jhering und dem Aufkommen der Interessenjurisprudenz nicht mehr zu halten sein dürfte. Bereits Dölle erkannte diese terminologische Schwäche und behalf sich mit der Konstruktion der Analogie, indem er die These vertrat, daß es sich bei Juristen in der Tat um keine Entdecker im eigentlichen Wortsinn handele, dass sie jedoch „wegen ihrer das bisherige geistige Dunkel erhellenden Leuchtkraft“ ähnlich wie naturwissenschaftliche Entdecker zu behandeln seien. Hoeren distanziert sich jedoch auch von dieser Analogie. Sie sei nach dem zweiten Weltkrieg nur aufgrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus zu beobachtenden Naturrechtswelle nachzuvollziehen und stelle heute ein „Relikt aus einer vergangenen Zeit dar.“ Dies veranlasst ihn zu dem Resümee, daß es sich bei Juristen weder um Entdecker noch um Erfinder handele und die Titelwahl lediglich als rhetorische Figur verstanden werden dürfe. Eine eher ernüchternde Feststellung für den geneigten Leser. Thematisch fällt die Auswahl potentieller Entdecker auf. So werden Johann Apel, Friedrich Carl von Savigny, Rudolf von Jhering, Paul Laband, Hermann Staub, Ernst von Caemmerer, Ernst Wolf, Bernd Rüthers, Claus-Wilhelm Canaris und Reinhard Zimmermann mit bestimmten Einzelleistungen ihres Gesamtwerkes dem Leser als juristische Entdecker präsentiert. Ist die Auswahl bestimmter „Entdecker“ notgedrungen subjektiv, so fehlt bei dieser Zusammenstellung leider überhaupt die Erkennbarkeit einer Gesamtkonzeption. Zwischen den vorgestellten juristischen Entdeckern mit ihren vermeintlichen „Entdeckungen“ läßt sich eine Beziehung nicht erkennen. Auch was die Periodisierung angeht, muss sich der Leser die Frage stellen, ob es zwischen Johann Apel und dem Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich nur einen juristischen „Entdecker“ gegeben haben soll. Während das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert mit den für diese Epoche maßgeblichen Juristen gut vertreten ist, ist die Auswahl unter den noch Lebenden tatsächlich, wie auch Hoeren einräumt, ein Wagnis. Dies umso mehr, als nach Auffassung des Herausgebers für den juristischen Entdecker neben dem schöpferischen Erkenntnisakt auch ein gewisses Maß an Wirkung seiner Entdeckung festgestellt werden muss; eine Wirkung, die sich darin zeigen soll, daß das „Denken auf Grund der neuen Erkenntnis auf neue Grundlagen gestellt und auf neue Wege gewiesen wird“. Dies lässt sich aber naturgemäß häufig erst mit einigem Zeitabstand aus der Retrospektive sicher beurteilen. Positiv überrascht die Qualität der einzelnen Beiträge, die sämtlich von Studierenden der Universitäten Düsseldorf und Münster verfaßt worden sind. Allen Beiträgen gemeinsam ist eine gründliche, klar strukturierte Auseinandersetzung mit Person und Werk des jeweils vorzustellenden „Entdeckers“. Bei denjenigen Autoren, die sich mit dem Werk noch lebender „Entdecker“ auseinandergesetzt haben, wird für den Leser eine besondere Begeisterung für die vorzustellenden Personen erkennbar, die sicher ihren Grund in dem zur Informationsgewinnung aufgebauten persönlichen Kontakten zwischen den Autoren und den vorzustellenden Rechtswissenschaftlern hat. Stephan Balthasar behandelt unter dem Titel „Vom ,Knastbruder' zum Professor der Rechte - Johann Apel zur Unterscheidung zwischen obligatorischen und dinglichen Rechten“ den einzigen in diesem Sammelband aufgenommenen Juristen der frühen Neuzeit. Apel (1486-1536), der während der Reformation zunächst als Professor in Wittenberg, später als Rat am Hof Herzog Albrechts von Preußen in Königsberg einige Bekanntheit erlangt hatte, wird mit seinem Werk „Methodica dialectices ratio“ vorgestellt, dem Versuch einer Systematisierung des römischen Rechts durch die Gegenüberstellung dinglicher und obligatorischer Rechte. Obwohl dieses Werk Apels weder bei seinen Zeitgenossen noch bei späteren Rezipienten größere Aufmerksamkeit gefunden hat, wird er vom Verfasser zu den bedeutenden Vertretern des juristischen Humanismus gerechnet. Eine Position, die sicher noch genauer, auch unter Berücksichtigung des wissenschaftlichen Wirkens Apels im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, hätte hinterfragt werden müssen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß Franz Wieacker in seinem Aufsatz über Apel dessen Systematisierungsansätze schlechterdings als „naiv“ charakterisiert hat (vgl. Wieacker,: in: Gründer und Bewahrer, S. 85). Ulrike Prange stellt mit großem zeitlichen Sprung unter dem Titel „Friedrich Carl von Savigny und das Abstraktionsprinzip“ wohl den bedeutendsten Juristen des 19. Jahrhunderts vor. In diesem auch stilistisch gelungenen Beitrag versteht es die Verfasserin in der gebotenen Kürze biographische Daten, juristisches Werk und Rezeption im In- und Ausland überzeugend darzustellen. Dabei widmet sie sich auch der bis heute nicht verstummenden Kritik von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis am Abstraktionprinzip und stellt so nachvollziehbar die Brücke zwischen der juristischen „Entdeckung“  Savignys und deren fortdauernder Relevanz für das Recht der Gegenwart her. Kai Kindereit widmet sich unter dem Titel „Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf - Rudolf von Jhering und die culpa in contrahendo“ einem der interessantesten Juristen des 19. Jahrhunderts. Dieser Beitrag ist stilistisch besonders gelungen. Überzeugend zeichnet der Verfasser den langen Weg nach, der von Jherings 1861 unter dem Titel „Culpa in contrahendo oder Schadenersatzklage bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen“ publizierten Arbeit bis zur Anerkennung und weiteren Ausgestaltung dieses gewohnheitsrechtlichen Instituts durch das Reichsgericht reicht, das auch der Bundesgerichtshof noch weiter fortgebildet hat. Fragwürdig bleibt jedoch auch bei diesem Beitrag der Begriff des juristischen „Entdeckers“. So hat Rudolf von Jhering zwar mit seinen Aufsatz den Anstoß für die weitere wissenschaftliche Diskussion über dieses Rechtsinstitut gegeben, dessen konkrete Ausgestaltung blieb jedoch anderen, namentlich der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorbehalten. Dörte Diemert würdigt unter dem Titel „Paul Laband und die Abstraktheit der Vollmacht vom Kausalverhältnis“ den Begründer der modernen Staatsrechtswissenschaft, allerdings in Verbindung mit einer „zivilrechtlichen Entdeckung“, die aber tatsächlich von größter Bedeutung ist. In ihrem Beitrag wird Labands Leistung bei der Entwicklung der modernen Stellvertretungslehre sehr anschaulich. Es folgt ein Beitrag Günter Elschners unter dem Titel „Hermann Staub und die Lehre von den positiven Vertragsverletzungen“. Wie vom Verfasser zutreffend herausgearbeitet wird, hat Staub mit dieser Lehre an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Ergebnis zwar keine Neuheit entwickelt, sondern vielmehr die lange Rechtstradition einer allgemeinen vertraglichen Verschuldenshaftung fortgesetzt. Es kommt Staub, so der Autor, jedoch das unbestreitbare Verdienst zu, nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das eine derartige Verschuldenshaftung nicht ausdrücklich regelte, einen entsprechenden Rechtsgrundsatz gefunden und diesen systematisch überzeugend aus der Analogie zu den §§ 286, 326 BGB entwickelt zu haben. Richard Bley widmet sich unter dem Titel „Ernst von Caemmerer und die Lehre von der Trennung der Bereicherungstatbestände“ dem ersten von mehreren zivilrechtlichen „Entdeckern“ der Gegenwart. Fortgesetzt wird diese Reihe von Bettina Wendtlandt mit ihrem Beitrag über „Ernst Wolf und die Reale Rechtslehre“. Es folgen Sebastian Seedorf mit einer Arbeit über Bernd Rüthers und die „unbegrenzte Auslegung“ und Ulrich Florian mit seinem Beitrag zu Claus-Wilhelm Canaris und der „Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht“. Abgeschlossen wird die Aufsatzsammlung mit einer Arbeit von Stephan Mittelsten Scheid zu Reinhard Zimmermann und dessen Forschungen zum „römisch-kanonischen Recht als Grundlage einer europäischen Zivilrechtsordnung“. Der besonderen Schwierigkeit, noch lebende „Entdecke“ mit ihren in der rechtswissenschaftlichen Diskussion teilweise kontrovers beurteilten juristischen „Entdeckungen“ abschließend zu würdigen, haben sich die Autoren bewusst gestellt und es gut verstanden, die verschiedenen Positionen deutlich herauszuarbeiten. Den einzelnen Aufsätzen fehlt - trotz jeweiliger Hinweise auf zentrale Schriften der vorgestellten „Entdecker“ - leider ein Anmerkungsapparat zur wissenschaftlichen Vertiefung. Dennoch bietet Hoerens Sammelband über die biographischen Angaben zu den Entdeckern hinaus auch für den rechtshistorisch interessierten Leser einen interessanten Überblick über die Genese wichtiger Rechtsinstitute, denen auch heute noch eine zentrale Bedeutung zukommt. Beachtlich ist auch die meist überzeugende sprachliche Qualität der Beiträge dieses Bandes aus studentischer Feder, die ihn trotz aller kritischer Fragen zu Titelwahl und Konzeption, in jedem Fall gut lesbar sein lässt.

 

Osnabrück                                                                                                     Andreas Bauer